18. Dezember 2024

Gewinner der Krise

Im Mai 2010 bat der sozialdemokratische griechische Ministerpräsident Giorgos (Andrea) Papandreou die Institutionen der Europäischen Union um Hilfe. Das Land versank in Schulden, die vor allem sein Vorgänger Kostas Karamanlis, damals auch Anführer der bürgerlich-rechten Partei Nea Dimokratia (ND), angehäuft hatte.

Papandreou wie Karamanlis sind Sprößlinge dreier Unternehmer- und Politikerdynastien, die nicht nur über Jahrzehnte die griechische Gesellschaft beherrschten, sondern aus ihrem nahezu ausschließlich auf die Eroberung politischer Macht ausgerichteten Dasein ein äußerst lukratives Geschäftsmodell machten. Zu den Karamanlis und Papandreous hatten sich in den sechziger Jahren die Mitsotakis gesellt, die gegenwärtig den Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis und seit 2019 den Bürgermeister der Hauptstadt Athen Kostas Bakogiannis stellen. Seine Mutter Dora Bakogiannis ist die Schwester des Premierministers, sie war ebenfalls Bürgermeisterin von Athen sowie Kulturministerin und Außenministerin.

Diese einleitende Bemerkung ist insofern wichtig, als die genannten Clans, wie sie auch in Griechenland genannt werden, mit Beginn der sogenannten Schuldenkrise selbstverständlich die Erzählung darüber kontrollierten, was die Krise verursacht haben sollte. Als die »Troika« – Europäische Zentralbank (EBZ), Europäische Kommission und Internationaler Währungsfonds (IWF) – im Frühjahr 2010 ihre Arbeit aufnahm und fortan über den griechischen Staatshaushalt bestimmte, wurde das Volk zum Schuldigen des finanzpolitischen Desasters erklärt.

In seinem Buch »Schuldenkrise und Landraub« schrieb Costis Hadjimichalis, Professor für Ökonomische Geographie in Athen, im Jahr 2016: »Schon seit dem ersten Tag der Schuldenkrise wurde sowohl in Griechenland als auch in der gesamten Europäischen Union die moralische Sichtweise einer Kollektivschuld der Gesellschaft befördert. Während in Deutschland, den Niederlanden und Finnland behauptet wurde, daß die Griechen Faulpelze sind und über ihre Verhältnisse leben, hieß es im Land selbst – ›wir haben das Geld (Subventionen und Finanzausgleich aus Brüssel, d.Red.) gemeinsam verpraßt‹ (…) Institutionen und EU schwangen sich zu Zensoren von allem und jedem auf und – das Wichtigste – sie verschoben das Problem von den Tätern auf die Opfer.«

Bestens vernetzt

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß alle Regierungschefs Griechenlands der vergangenen 20 Jahre – mit Ausnahme des »links« eingeordneten Alexis Tsipras – nicht nur an den Universitäten des Landes, sondern vor allem in den USA ausgebildet wurden: Karamanlis, Vater und Sohn Papandreou, Antonis Samaras und der aktuelle Regierungschef Mitsotakis sind Zöglinge der Eliteuniversität Harvard (Cambridge, Massachusetts), dieser Kaderschule des US-amerikanischen Imperialismus, deren Lichtgestalt bis heute der inzwischen 100 Jahre alte Kriegsverbrecher Henry Kissinger ist.

Die Jahre in den USA unterstreichen die herausgehobene gesellschaftliche Stellung der genannten Clans, die ihren Söhnen – im Gegensatz zu den Kindern der unteren Schichten – eine studentische Ausbildung finanzieren konnten, die zwar bis zu 80.000 Dollar pro Jahr kostete, aber die Sprößlinge auch mit den wichtigsten Akteuren des internationalen Geldgeschäfts bekanntmachte.

Der Spruch des vermögenden ehemaligen sozialdemokratischen Außenministers Theodoros Pangalos (Panhellenische Sozialistische Bewegung, PASOK) – »masi to fagame«, »wir haben es (das Geld) gemeinsam gefressen« – war insofern nicht weniger als ein zynischer, den Fakten widersprechender Vorwurf, den der PASOK-Mann den Armen des Landes zum Abschluß seiner politischen Karriere vor die Füße warf.

Hadjimichalis: »Im Fall der griechischen Staatsverschuldung wurde aus dem verschuldeten einzelnen Menschen zunächst eine Menschenmenge und dann eine verschuldete Gesellschaft. Gestützt auf die Erzählung von der kollektiven Verantwortung traten griechische Politiker in Verhandlungen mit den Gläubigern und akzeptierten extrem harte Auflagen zur Rückzahlung der Schulden, wobei sie nicht einmal davor zurückschreckten, das öffentliche Vermögen des Landes als Hypothek einzusetzen.«

In der Tat waren zunächst PASOK, danach eine Koalition aus PASOK, Nea Demokratia (ND) und der inzwischen aufgelösten Formation Dimar (Demokratische Linke) verantwortlich, danach erneut PASOK und ND, bis schließlich auch die »Koalition der radikalen Linken« (SYRIZA) und ihr Anführer Alexis Tspiras 2015 ein inzwischen drittes Memorandum unterschrieben – gegen den per Referendum ermittelten ausdrücklichen Willen des Volkes. Ein Schlußakt, der zu Recht als vollständige Kapitulation Griechenlands vor der Macht des Finanzkapitals eingeordnet wurde.

»Moralische
Verpflichtung«

Die Erzählung von der »moralischen Verpflichtung« (Hadjimichalis) der Griechen diente seit 2010 und bis heute als Legitimation, »um einen neuen Machtapparat zu etablieren, der auf dem Dualismus von institutioneller Regelabweichung – dem nicht verfassungskonformen Handeln von Institutionen – einerseits und auf brutaler Unterdrückung jeglichen Protests andererseits beruhte«.

Als der von den Regierungen in Berlin, Paris und Helsinki im Juli 2015 gönnerhaft in die Knie gezwungene Alexis Tsipras und sein politisch völlig ahnungsloser Finanzminister Giannis Varoufakis ihre Regierung auflösten und Tsipras im folgenden August – ohne Varoufakis und mit einem weitgehend aus rechten Sozialdemokraten gebildeten Kabinett – noch einmal vorgezogene Wahlen gewann, verteilten sich die sogenannten notleidenden Kredite der Banken des Landes auf Großunternehmen (40 Milliarden Euro), Wohnungsbaudarlehen (28 Milliarden), kleine und mittlere Unternehmen (20 Milliarden), Konsumkredite (zehn Milliarden) und noch einmal zehn Milliarden Euro auf die Bank von Griechenland (Ethniki Trapeza).

Im Jahr 2018 endete die Gültigkeit eines Gesetzes, mit dem SYRIZA versucht hatte, wenn schon nicht das öffentliche Vermögen, so doch einige hunderttausend Hauseigentümer vor dem Zugriff der als »Geierfonds« berüchtigt gewordenen Distressed Funds zu schützen. Noch unter Tsipras selbst fiel diese Schranke. Seit der rechtskonservative Kyriakos Mitsotakis im Juli 2019 das Amt übernahm, wurden rund 700.000 »faule« Wohnungsbaukredite zur Veräußerung freigegeben. Aktuell bieten die neuen Gläubiger rund 300.000 Eigenheime im Internet oder in den Notarbüros zur Versteigerung an. Gerichte, die verzweifelte Hausbesitzer zur Rettung ihres Dachs über dem Kopf anriefen, entschieden in den vergangenen Monaten meist zugunsten der gesichts- und gnadenlosen Fonds.

Löhne, Pensionen, Renten und sonstige Einkommen wurden in zehn Jahren Dauerkrise unter der harten Hand der »Troika« zum Teil halbiert. Nur ein Fall von Hunderttausenden ist der körperbehinderte frühere Maurer Pandelis Volanakis, der im Gespräch mit dem Autor seine von der Herrschaft des Kapitals dirigierte Not beschrieb: Seine Rente, die er seit einem Schlaganfall im Jahr 2012 erhielt, 580 Euro, wurde unter der Regierung des »linken« Premiers Tsipras auf 350 Euro gekürzt. Wie schon der Marxist und Theoretiker der politischen Ökonomie, Robert Kurz, schrieb, hätte sich Volanakis eigentlich umbringen müssen, weil er »kapitalistischen Kriterien nicht mehr genügte«.

Exodus der Jugend

Noch einige Zahlen: Rund 600.000 junge Menschen verließen in den vergangenen zehn Jahren ihre Heimat. In Ländern wie Deutschland, England und Frankreich, den wirtschaftlichen Hauptprofiteuren des kapitalistischen Raubzugs an der Ägäis, stehen sie seither als bestens und vor allem kostenlos ausgebildete Reserve dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Ihr Exodus schenkte Mitsotakis und seinen Ministern einen erfreulichen Rückgang der Arbeitslosigkeit, die bisweilen 60 Prozent bei den 18- bis 30jährigen erreicht hatte.

Schutzlos bewegen sich die Daheimgebliebenen inzwischen auch auf dem Wohnungsmarkt. Mieten in Athen und anderen Großstädten des Landes, vor allem aber in den Universitätsstädten, wurden verdoppelt bis verdreifacht. Was sich heute in Griechenland abspielt, klagen Studentenverbände und Gewerkschaften, bekräftige letztlich die Position, »daß Landraub, Grundrenten und alle Arten von Mieten von entscheidender Bedeutung im modernen Finanzkapitalismus sind«.

Die daraus folgende, zeitweise »antideutsche Wut der Griechen«, schrieb Robert Kurz in einem seiner letzten Artikel (»Konkret« 3/2012), ging »den Exportchauvinisten am Arsch vorbei, denn das fällige Pogrom richtet sich real gegen afrikanische Flüchtlinge oder sonstige Migranten, wie sich nicht allein in Griechenland längst gezeigt hat«.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek

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