16. November 2024

»Lust auf Leistung« oder Klassenkampf von oben

Es ist noch nicht allzu lange her, daß die Handwerkskammer in ihrem Patronatsblättchen darüber jammerte, daß die »ewiggestrigen Gewerkschaften« den Fortschritt bremsen würden und »unser aller Wohlstand« nur gesichert werden könne, wenn mehr gearbeitet würde. Wer dabei mehr arbeiten soll und wessen Wohlstand gesichert wird, dürfte dabei wohl klar sein.

Auch in den Nachbarländern rüstet die Industrie zum Roll-Back und schärft zwar keine Messer, aber wohl den Ton in Richtung herrschender Politik, gesellschaftlichen Fortschritt keinen Fußbreit gerechter zu verteilen. So kennen wir neben dem andauernden Kampf der französischen Bevölkerung gegen den Rentendiebstahl in unserem südlichen Nachbarland auch die Lautsprecher der deutschen Wirtschaft. So erinnern wir uns noch mit Grausen an die primitiven Äußerungen des Hauptgeschäftsführers der deutschen »Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände« (BDA), Steffen Kampeter, der im vergangenen Februar im Zusammenhang mit den Diskussionen um Arbeitszeitverkürzungen und früheren Renteneintrittswunsch von Fachkräften im östlichen Nachbarland forderte: »Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit«. Dieser angesichts der arbeitsweltlichen Realitäten um zunehmende gesundheitliche und gesellschaftliche Probleme im Niedriglohnland Deutschland geradezu obszönen Forderung unterstrich er mit der Äußerung, mit einer 39-Stundenwoche könne man auch eine gute Work-Life-Balance hinbekommen.

Angesichts einer wachsenden Zahl von Erkrankungen durch eine immer mehr Lebenszeit einnehmende fremdbestimmte Arbeit eine aggressive Forderung an jene Menschen, die für den Wohlstand der Führungsetagen den Kopf hinhalten und ihr eigenes Leben und die für sie wichtigen Arbeiten irgendwo zwischen Nachtschlaf und Lohnarbeitszeiten quetschen müssen.

Freilich: Forderungen nach Arbeitszeitverlängerungen, Flexibilisierung von Beschäftigung oder anderen sozialen Rückschritten hat es zu allen Zeiten gegeben. Die Dreistigkeit und der aggressive Ton, der seit wenigen Jahren allerdings wieder die Auftritte der Industriellenvertreter begleitet, lassen jedoch aufhorchen. Hier scheint jede Angst vor Widerstand abgelegt worden zu sein.

Ganz neu sind nun Äußerungen des ultraliberalen deutschen Finanzministers Christian Lindner. Dieser nannte dieser Tage die Rente mit 63 eine »Stillegungsprämie« und fuhr damit ebenfalls harte Geschütze gegen den gesellschaftlichen Fortschritt auf. Er wolle mit Blick auf den Fachkräftemangel, daß die Menschen in Deutschland mehr und länger arbeiten sollen, wird er in einem deutschen Zeitungsartikel zitiert.

Zwar weiß wahrscheinlich nur er und seine Klientel, wie längere Arbeitszeiten den Fachkräftemangel sinnvoll bekämpfen sollen, doch er warf gekonnt mit Begriffen wie »Minijobs« oder gar »Midijobs« um sich. Zu Deutsch könnte man prekäre Beschäftigung sagen. Dies sei nötig, um die Renten zu finanzieren, anstatt etwa jeden in die Kassen einzahlen zu lassen. Michael Hüther, der Chef des patronatsnahen Instituts der deutschen Wirtschaft, hatte gefordert, die Wochenarbeitszeit zu verlängern und Urlaub zu kürzen. Lindner indes zeigte sich überzeugt, die Jugend habe »Lust auf Leistung«.

Während die Industriellenvertreter und ihre politischen Handlanger also offen ihre rückschrittlichen, gesellschaftsfeindlichen Forderungen hinausposaunen, diskutiert das Volk darüber, inwiefern Asylbewerber Schuld an ihrer sich verschlechternden Lage sein könnten und welche Berufe längere oder weniger lange Lebensarbeitszeiten aushielten.

Die ständigen Behauptungen, es gäbe einen Klassenkampf nur noch in den Köpfen einiger weniger alternder Rotgardisten, wird durch dieses ständige Trommelfeuer widerlegt, welches nichts anderes ist als Klassenkampf. Dem steht allerdings in diesen Zeiten innerhalb der Bevölkerung nicht viel kämpferischer Wille entgegen, soziale Errungenschaften zu verteidigen. Düstere Ausblicke auf die Zukunft.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek

ZLV