Eine Gesellschaft am Kipppunkt
Übernommen von Yeni Hayat – Neues Leben:
Was geschieht gerade in der Gesellschaft, dass Militarisierung und Hetze immer mehr Platz finden in unseren Diskussionen und im politischen Geschehen? Ohne es zu übertreiben kann man sagen, dass sich, seit der starken Geflüchtetenbewegung 2015 und seit dem Ukrainekrieg, einiges in Deutschland verändert hat. Die Sprache ist aggressiver, hetzerischer und die politischen Entscheidungen sind auf Verschärfung, Hass und Aufrüstung getrimmt. In dieser Lage sind Teile der linken Bewegung und der Gewerkschaften entweder ganz still oder selbst zum Teil des Problems geworden.
Überall ist die Rede von einem Rechtsruck, dem man sich entgegenstellen muss, wenn die Alternative für Deutschland (AfD) wieder ein Rekordergebnis nach dem anderen feiert. Am Ende gibt es aber keinem Linksruck in der Gesellschaft. Stattdessen übernehmen seit Jahren sämtliche Parteien im Deutschen Bundestag die Rhetorik dieser rassistischen Partei und verhelfen ihr zu immer weiteren Erfolgen.
In der parteipolitischen Migrationspolitik ist die migrantische Gesellschaft gerade komplett allein. Die SPD und die Grünen vertreten gerade eine Migrationspolitik, die sich nicht einmal die Union vor einigen Jahren getraut hätte. Inhaftierungslager an den europäischen Außengrenzen, oder noch lieber, in Zentralafrika, meist in Staaten, die Menschenrechte mit Füßen treten. Eine Abschiebepropaganda, bei der man denken könnte, selbst als migrantische Person mit deutschem Pass geht es einen gleich an den Kragen, wenn man sich nicht den Ansprüchen der Politik und nicht entsprechend der „Staatsräson“ verhält. Sichere Herkunftsländer, die wie Pilze aus dem Boden schießen, obwohl dort Menschen verfolgt, gefoltert und aus politischen Gründen inhaftiert werden. Die Linke droht währenddessen in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden und kümmert sich seit Jahren nur noch um ihre inneren Konflikte rund um Sahra Wagenknecht, die die Hetze in der Migrationsthematik voran treibt.
In der Friedenspolitik schweigen gerade nahezu alle. Die Linkspartei stellt sich bedingungslos solidarisch mit allen anderen Parteien hinter Israel, während Israel gerade im Gazastreifen tagtäglich hunderte Bomben regnen lässt. Statt Friedensdemonstrationen, die von linken Kräften organisiert werden, organisieren rechte Strukturen Pro Israel Demos auf der einen und Pro Hamas Demos auf der anderen Seite. Friedliche propalästinensische Demos werden dann schnell als islamistisch eingestuft und auch bereits im Vorfeld verboten.
Generell gewinnt die Militarisierung nun auch immer mehr die Überhand und hat ihren Weg schon längst in die größten Organisationen der Arbeitenden gefunden. Der DGB und hier als treibende Kräfte die IG Metall und die ver.di haben bereits nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs eine Sprache reproduziert, die für Aufrüstung, Nationalismus und Krieg steht. ver.di fordert mehr Geld für die Bundeswehr und die IG Metall möchte, dass Waffen lieber hier produziert werden, statt in Frankreich.
Es ist nicht alles verloren
Die Stimmung ist am Kippen, das stimmt. Die Idee einer Welt ohne Waffen und Krieg, ohne Hetze und Hass scheint gerade den Kampf zu verlieren. Doch ob es wirklich so kommt, hängt davon ab, wie stark diejenigen dagegen halten, die sich für diese Idee noch immer einsetzen.
In den Gewerkschaften ist der Kampf mit Sicherheit nicht verloren. Dies sehen wir auch an den Geschehnissen der letzten Tage. Während sich der Bundesjugendausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes bedingungslos hinter alles gestellt hat, was die israelische Regierung gerade macht, haben sich hunderte Ehrenamtliche der Einzelgewerkschaften in einem offenen Brief für Frieden und ein Ende des Leids auf beiden Seiten ausgesprochen und gezeigt, dass man beide Kriegsparteien kritisieren kann und sich gleichzeitig an die Seite beider Zivilbevölkerungen dieses Konflikts stellen kann. Nun versuchen viele, meist antideutsche Führungsebenen, haupt – und ehrenamtlich, Druck gegen diese Kolleg*innen aufzubauen und reisen durch ganz Deutschland, um für die Interessen der nationalistischen und rechten Netanyahu-Regierung zu werben und die Kolleg*innen mit Antisemitismusvorwürfen einzuschüchtern.
Doch dieses Vorhaben trägt nur bedingt Früchte. Bei einer Onlineveranstaltung zwischen DGB und Histadrut, der Schwestergewerkschaft in Israel, sagte Gary Kaplan, Vertreter der Histadrut Sachen, wie „die israelische Armee ist die moralischste dieser Welt“, „Israel trägt keine Schult am humanitären Leid im Gaza“, „Die Palästinenser sind selber Schuld, dass Gaza nach 2005 nicht zu einem zweiten Saudi Arabien geworden ist“. Währenddessen blieben die Vertreter*innen des DGB still und stellten sich auf Nachfrage sogar hinter die Haltung der Histadrut, die eine Waffenruhe strikt ablehnt. Debby Neuenfeld, Mitglied der Geschäftsführung der ver.di Jugend auf Bundesebene, bekräftigte Kaplan sogar und fragte offen, „Gary, was sollen wir deiner Meinung nach mit Haupt – und Ehrenamtlichen machen, die propalästinensische Demos besuchen.“ Woraufhin Kaplan antwortete, dass seine Meinung dazu bekannt sei. Trotz dieser Versuche, den Ruf nach Frieden zu diskreditieren, bewiesen die Teilnehmenden, dass sie die genannten Inhalte der Sitzung nicht unterstützen und kritisierten, dass in der Veranstaltung das Leid der Palästinenser keinen Platz hatte.
Auch der Gewerkschaftstag der IG Metall und der Bundeskongress von ver.di, die höchsten Gremien der größten Gewerkschaften der Welt, waren voller Konflikte. Beim Gewerkschaftstag der IG Metall wurde Scholz für seine Abschieberhetorik kritisiert, indem die Teilnehmenden „Refugees Welcome“ Schilder hochhielten. Außerdem gab es eine Aktion der IG Metall Jugend, die sich gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck richtete, bei der auch Said Etris Hashemi, Überlebender des Hanau Anschlags, eine starke Rede hielt. Beim Bundeskongress der ver.di sprachen sich viele Kolleg*innen aus verschiedenen Bundesländern für Frieden und gegen den „Bundeswehrantrag“ der ver.di aus und betonten, dass die Gewerkschaften Antikriegsorganisationen sein müssen, wenn sie von sich behaupten wollen, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten.
Unrecht wird zu Recht, somit wird Widerstand zur Pflicht
Gerade scheint es so, als wäre alles aussichtslos. Die Gesellschaft verroht und die Ereignisse überschlagen sich. Währenddessen herrscht gefühlt überall auf der Welt Krieg. Alle, die sich kritisch gegenüber der Bombardierung der Menschen in Gaza stellen, werden als antisemitisch abgestempelt und gleichzeitig wird das Leben in Deutschland immer härter. Über 600.000 Obdachlose in Deutschland 2022, im Gegensatz zu 380.000 im Jahre 2021, immens steigende Lebenserhaltungskosten, wirtschaftlicher Rückgang und Arbeitsplatzabbau in nahezu jeder Branche.
Doch der Weg hier raus geht nur gemeinsam. Entweder die linke Bewegung und alle, die für eine solidarische Zukunft stehen, rappeln sich auf oder unsere Zukunft wird düsterer, als wir sie uns vorstellen können.
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben