27. Dezember 2024

„Ich halte Israel für einen Apartheidstaat.“ – Interview mit Moshe Zuckermann

Übernommen von Zeitung der Arbeit:

Marie Jaeger führte ein schriftliches Interview mit Moshe Zuckermann. Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete.

Erst einmal vielen Dank, dass Du dir die Zeit genommen hast, unsere Fragen zu beantworten. Es zeigt sich sowohl in der Ukraine, als auch in Israel wieder einmal, dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist. Du bist bekannt als ein marxistischer Soziologe und Kritiker des Zionismus. Wie würdest Du Dein Verhältnis zum Zionismus beschreiben?

Moshe Zuckermann: Mein Verhältnis zum Zionismus würde ich als das eines „Nichtzionisten“ apostrophieren. Ich unterscheide diese Benennung von der des „Antizionisten“. Als Antizionisten sehe ich jemanden an, der die Auffassung vertritt, der Zionismus hätte überhaupt nicht in die Welt kommen dürfen. Ich aber war mal Zionist, weil ich meinte, daß die Juden nach dem Holocaust eines Staates bedürften, der ihnen Sicherheit garantiert. Erst als ich sah, wohin dieses zionistische Projekt letztendlich führte, habe ich mich vom Zionismus verabschiedet, zumal ich sah und sehe, daß er sein eigenes Versprechen nicht einlösen kann.

Wie wirkt sich diese Ideologie auf die Verfasstheit der israelischen Gesellschaft aus?

Moshe Zuckermann: Die Verfaßtheit der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft ist weitgehend durch den Umstand geprägt, daß die seit 1967 bestehende und entwickelte Okkuption der palästinensischen Territorien zum integralen Bestandteil des Selbstverständnisses des zionistischen Staates geronnen ist. Das bedeutet zunächst und vor allem, daß eine politische, mithin friedliche Lösung des Konflikts mit den Palästinensern weitgehend blockiert ist. Und das genau will und wollte schon seit Jahrzehnten die israelische Politik.

Welchen Einfluss haben orthodoxe Strömungen des Judentums auf das Handeln der gegenwärtigen Regierung?

Moshe Zuckermann: Die orthodoxen sowie die nationalreligiösen Strömungen sind heute die Koalitionspartner Netanjahus, die er auch als seine „natürlichen Verbündete“ bezeichnet. So besehen, beeinflussen sie das Handeln der gegenwärtigen Regierung maßgeblich. Die orthodoxen Parteien – indem sie Unsummen an Gelder zur Finanzierung ihrer sektorialen Interessen ergattert haben. Die Nationalreligiösen – indem sie ihre Okkupationspolitik noch weiter und radikaler fördern können, als bisher. Die orthodoxen wie nationalreligiösen Parteien sind allesamt rechts bis rechtradikal ausgerichtet.

Gerne wird in westlichen Medien Israel als die einzige Demokratie im Nahen und Mittleren Osten bezeichnet. Friedrich Engels hat einmal davon gesprochen, dass kein Volk frei sein kann, das ein anderes Volk unterdrückt. Wie wirkt sich die Besatzungs- und Siedlungspolitik Israels in der Westbank und die Blockade des Gazastreifens auf die israelische Innenpolitik aus?

Moshe Zuckermann: Die Okkupation im Westjordanland und die Gaza-Blockade bestimmen die israelische Innenpolitik entscheidend. Ihre schiere Existenz faschisiert das Land zunehmend und unter der gegenwärtigen Regierung, der rechtesten, die Israel je hatte, erst recht. Daher ist der Spruch von Israel als einiziger Demokratie im Nahen Osten letztlich eine leere Floskel. Man kann keine Demokratie sein, wenn man ein anderes Kollektiv knechtet. Israel ist keine Demokratie, sondern ein Apartheidstaat.

Vielfach wird Israels Politik gegenüber Frauen und sexuellen Minderheiten positiv hervorgehoben, um zu unterstreichen, wie fortschrittlich Israel im Verhältnis zu seinen benachbarten arabischen Staaten wäre. Wie sieht diese Politik in der Realität aus?

Moshe Zuckermann: Israel ist zivilgesellschaftlich in der Tat fortgeschrittener als seine Nachbarstaaten. Das heißt nicht, daß man schon alles erreicht hat, was es zu erreichen gilt, und wie gesagt, Israel ist im Verhältnis zu den Palästinensern, auch in Israel selbst, diskriminierend. Aber die Rechte, die für Frauen und für die sexuellen Minderheiten erfochten worden sind, sind beachtlich.

An die Situation von Minderheiten in Israel anschließend: Wie sieht die Lebensrealität für die arabische Bevölkerung und die Beduinen, die in Israel leben, aus?

Moshe Zuckermann: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da der Krieg tobt, ist diese Frage fast überflüssig. Die arabische Bevölkerung ist nicht nur völlig ausgegrenzt, sondern wird auch zum Teil perfide angefeindet. Aber insgesamt kann man sagen, daß auch in „Friedenszeiten“ die Araber in Israel als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Durch die zunhemende rassistische Faschisierung der israelischen Gesellschaft hat sich das in den letzten Jahren noch gesteigert. Zugleich muß man aber verstehen, daß die Lebensrealität der Palästinenser in Israel unvergleichlich besser ist als die der Palästinenser in den besetzten Gebieten und im Gazastreifen.

Es gibt immer wieder Aufregung, wenn man Israel als Apartheidstaat bezeichnet. Hältst Du die Bezeichnung für eine zutreffende Abbildung der Realität?

Moshe Zuckermann: Ja, ich halte Israel für einen Apartheidstaat. Das geht auch aus dem hervor, was ich bisher angezeigt habe. Aber es reicht hin darauf hinzuweisen, daß es zwei getrennte Justizsysteme gibt – eine normale Justiz für Israels Bürger und eine Militärjustiz für die Palästinenser unter der israelischen Besatzung. Aber wie gesagt, die strukturelle Diskriminierung der Palästinenser im Kernland Israel herrscht schon seit Jahrzehnten.

Wie schätzt Du die aktuellen Reformen und Maßnahmen der Regierung rund um Netanjahu ein? Was bedeutet dies für die in Israel lebenden „Linke“?

Moshe Zuckermann: Ich nehme an, die Rede ist von der „Justizreform“, die Netanjahu und Israels Justizminister Yariv Levin zu Beginn dieses Jahres verkündet und zu verwirklichen begonnen haben. Es handelt sich dabei um nicht weniger, als um einen Staatsstreich. Denn was geschwächt werden soll, ist das israelische Justizsystem, vor allem damit Netanjahu seinem Prozeß und einer Verurteilung entgehen kann, was auf eine Demolierung der israelischen Gewaltenteilung hinausläuft. Nicht von ungefähr erhob sich dagegen eine beeindruckende Protestbewegung in Israel, welche allerdings momentan wegen des Krieges erlahmt ist. Es gilt abzuwarten, was damit nach dem Krieg geschehen wird.

Wie schätzt Du unter den aktuellen Entwicklungen und dem Krieg die politische Zukunft von Netanjahu ein? Gibt es historische Parallelen?

Moshe Zuckermann: Direkte historische Parallelen gibt es nicht, was aber seiner Situation als politisch Hauptverantwortlichen für das Desaster vom 7. Oktober am nächsten kommt, war die Lage der israelischen Premierministerin Golda Meir nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973. Bei ihr führte es zur Beendigung ihrer Karriere. Gleiches wäre bei Netanjahu zu erwarten, aber der Mann ist dermaßen politisch gewievt, perfide und intrigant, daß es nicht ausgemacht ist, daß er tatsächlich fallen wird. Er und sein Umfeld haben bereits begonnen, die Schuld für das Fiasko von sich auf das Militär und die Geheimdienste abzuwälzen.

Welche Rolle spielt Benny Gantz im Kriegskabinett als Teil der ursprünglichen Opposition?

Moshe Zuckermann: Er hat sich einbinden lassen, weil in den Medien und wohl auch in der öffentlichen Meinung das Gefühl vorherrschte, daß Netanjahu und seine dysfunktionlae Regierung, die am 7. Oktober so total versagt hatten, nicht in der Lage seinen, den Krieg und was mit ihm alles einhergeht allein zu bewältigen. Gantz gilt als vernüftiger, vor allem aber unbescholtener als Netanjahu. Im Moment erfüllt er allerdings auch die Feigenblattfunktion in Netanjahus Kriegskabinett, d.h., ohne es zu wollen, trägt er objektiv zur Netanjahus „Rehabilitierung“ bei. Das ist übrigens nicht das erste Mal.

Genauso lang wie es den Konflikt gibt, gibt es eine Debatte über eine Ein- oder Zweistaatenlösung. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint beides als unmöglich oder reaktionär. Mit der Ausbreitung der Siedlungen im Westjordanland und der Blockade des Gazastreifens scheint Israel die eine wie die andere Lösung verhindern zu wollen. Was siehst Du als mögliche Perspektive für eine Beendigung des Konfliktes?

Moshe Zuckermann: In der Frage steckt schon die Antwort. Solange Israel die Okkupation betreibt, gibt es keine Lösung des Konflikts. Damit der Konflikt gelöst wird, muß entweder den Palästinensern das Territorium zur Gründung eines Staates bereitgestellt oder aber die Einstaatenlösung akzeptiert werden, in dem Sinne, daß die objektiv entstandene binationale Struktur zwischen dem Meer und dem Jordanfluß demokratisch abgesegnet wird. Im ersten Fall ist, wie von dir selbst indiziert, die Lösung territorial verunmöglicht worden. Im zweiten Fall würde das das Ende des zionistischen Staates bedeuten, was Israel nicht will. Fraglich, ob die Palästinenser eine solche Lösung wollen, bevor sie zunächst die Phase eines eigenen souveränen Staates historisch erlebt haben. Ich sehe momentan keine Perspektive zur Beendigung des Konflikts, schon gar nicht angesichts dessen, was dieser Krieg bereits angerichtet hat.

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Quelle: Zeitung der Arbeit

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