Südafrika verklagt Israel
Übernommen von: Schweizerische Friedensbewegung
Israel wird vor dem Internationalen Gerichtshof Völkermord gegen die Palästinenser vorgeworfen. Die Zahlen, die die Prozessvertreter Südafrikas mit unzähligen Einzeldokumenten, Fotos und Videosequenzen unterlegen, sind erschreckend: 1,9 Mio. Menschen in Gaza sind auf der Flucht (85 Prozent der Gesamtbevölkerung), 40 Prozent der Einwohner sind von einer Hungerkatastrophe bedroht. Durch Flächenbombardements und Raketenbeschuss der israelischen Armee starben mehr als 22.835 Menschen, darunter tausende Kinder.
Von Ralf Hohmann
Drei Monate nach dem Wiederaufflammen des Gaza-Krieges muss sich Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) im niederländischen Den Haag verantworten. Südafrika hatte das Land wegen Völkermords verklagt. Am 11. und 12. Januar fanden die ersten Anhörungen der Prozessparteien statt.
Südafrika hatte am 29. Dezember vergangenen Jahres die 84-seitige Klageschrift, deren Inhalt von Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Jordanien, Malaysia, den Malediven, der Türkei, Venezuela sowie den 57 Staaten der Organisation der islamischen Länder (OIC) unterstützt wird, eingereicht. Die Klage soll der IGH im Eilverfahren verhandeln. Ziel ist, Israel zu verpflichten, alle militärischen Handlungen im Gazastreifen sofort einzustellen.
Die Zahlen, die die Prozessvertreter Südafrikas am ersten Anhörungstag mit unzähligen Einzeldokumenten, Fotos und Videosequenzen unterlegten, sind erschreckend: Nach UN-Schätzungen waren Ende Dezember 2023 1,9 Mio. Menschen in Gaza (85 Prozent der Gesamtbevölkerung) auf der Flucht, über 355.000 Wohnungen wurden zerstört, 40 Prozent der Einwohner sind von einer Hungerkatastrophe bedroht. Durch Flächenbombardements und Raketenbeschuss der israelischen Armee starben mehr als 22.835 Menschen, darunter tausende Kinder, circa 58.000 Zivilpersonen wurden verletzt. Die Klageschrift fasst zusammen: Die vergangen drei Monate hätten gezeigt, dass Israel „Gaza in Schutt und Asche gelegt hat und es weiterhin in Schutt und Asche legt, seine Bevölkerung tötet, verletzt und zerstört und Lebensbedingungen schafft, die darauf ausgelegt sind, ihre physische Zerstörung als Gruppe herbeizuführen“ und beschuldigt Israel der Verletzung des „Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ („Genozid-Konvention“) vom 9. Dezember 1948. Diese Konvention zieht die begrifflichen Grenzen des „Völkermords“ weit: Nicht nur die mit Vernichtungsabsicht betriebene systematische Tötung von Menschen „einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe“ fällt hierunter, sondern darüber hinaus jede Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden sowie die Herbeiführung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, das Überleben einer Ethnie zu gefährden. Israel legte am zweiten Anhörungstag seine Position dar: Alle Militäraktionen seien gerechtfertigte Folge des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der UN-Charta gegen den Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023.
Ganz so einfach ist das nicht: Die Regelungen des humanitären Völkerrechts (Genfer Konvention) gelten für alle Kriegsbeteiligten, gleich ob „Angreifer“ oder „Verteidiger“. Auch ohne Studium des Völkerrechts weiss man, dass jedes Notwehrrecht verloren ist, wenn die Folgen der Abwehr in krassem Missverhältnis zum zuvor erfolgten Angriff stehen, gerade dann, wenn Unbeteiligte Opfer der Abwehr werden. Was dem Notwehrrecht billig ist, ist dem humanitären Völkerrecht teuer: Kriegshandlungen dürfen nur gegen militärische Ziele gerichtet werden (Art. 48 – 58 Konvention, Zusatzprotokoll I), verboten sind also Angriffe auf Zivilpersonen, zivile Gebäude oder zivile Infrastruktur, ebenso wie Flächenbombardements. Der Völkerrechtsexpertin im deutschen Aussenamt, Annalena Baerbock, ist dies unbekannt: Sie sieht „in Israels militärischem Vorgehen im Gazastreifen keine Absicht zum Völkermord“. Vielleicht würde ein Anruf bei den belgischen Parteikollegen weiterhelfen: Petra De Sutter, Vize-Premier Belgiens: „Es sieht mehr und mehr wie ein Völkermord aus. Deshalb möchte ich, dass Belgien, genau wie Südafrika, vor dem Internationalen Gerichtshof Klage erhebt.“ Belgiens Entwicklungsministerin Caroline Gennez (flämische Sozialisten) appelliert: „Deutsche Freunde, wollt ihr wirklich zweimal auf der falschen Seite der Geschichte stehen? Wollen wir weiterhin zusehen, wenn es zu ethnischen Säuberungen kommt?“
Ja, ist die Antwort, das will Deutschland. Die deutsche Bundesregierung ist tatsächlich der Auffassung, der Vorwurf gegen Israel entbehre „jeder Grundlage“. Regierungssprecher Steffen Hebestreit verkündete dann auch, die Bundesregierung beabsichtige, auch vor Gericht entsprechend Stellung zu beziehen: „Die Bundesregierung intendiert, in der Hauptverhandlung als Drittpartei zu intervenieren“, erklärte er. Ein gewagtes Manöver – sollte Israel verurteilt werden, steht der Vorwurf der Beihilfe im Raum.
Moralisch hat sich die Bundesregierung damit noch weiter ins Abseits gestellt als bisher. Hage Geingob, Präsident Namibias, teilte in einer Erklärung mit, Deutschland habe den in Namibia begangenen Völkermord immer noch nicht gesühnt. Er brachte „angesichts der Unfähigkeit Deutschlands, Lehren aus seiner schrecklichen Geschichte zu ziehen“, seine „tiefe Besorgnis“ über die „schockierende Entscheidung“ zum Ausdruck, Südafrikas Klage zurückzuweisen.
Quelle: Unsere Zeit
Quelle: Schweizerische Friedensbewegung