Zwei Jahre Welt(un)ordnungskrieg & die vertanen Chancen
Zwei Jahre Krieg in und um die Ukraine. Dabei wäre dieser (worin selbst arrivierteste Think Tanks, Militärs und Geostrategen der westlichen Hauptstädte übereinstimmen) sowohl vermeidbar gewesen, wie auch nach bereits wenigen Wochen in einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung überführbar gewesen. Ersteres wenn auf die Forderung Moskaus nach Verhandlungen über vertraglich fixierte Sicherheitsgarantien vom Dezember 2021 eingegangen worden wäre, anstatt sie seitens der USA und NATO einfach schroff zurückzuweisen oder wie erstere gar nicht darauf zu antworten. Letzteres wiederum bestätigte in einem diesbezüglichen Interview vor nicht allzu langem auch der ebenso als „Putin-Versteher“ sowie eines jeden „Antiamerikanismus“ wohl ziemlich unverdächtige seinerzeitige Premierminister Israels, Naftali Bennett. Und das weiß man – entgegen dem hysterischen Kriegsgetrommels – natürlich auch in den globalen Hauptstädten außerhalb des Westens, der in seinem Krieg gegen Russland, wie die Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) betont, vom „Rest der Welt“ in Wirklichkeit isolierter denn je ist.
Vertane Chancen den Krieg zu verhindern
„Chancen hat es zur Genüge gegeben, den Krieg zu verhindern“ bzw. „frühzeitig zu beenden“, so auch Jörg Kronauer in der heutigen jW. „Nein, natürlich hätte Russland die Ukraine nicht angreifen müssen“, so der bekannte Autor weiter. „Aber ebensowenig waren die NATO-Staaten gezwungen, das Angebot brüsk auszuschlagen, das ihnen Präsident Wladimir Putin Ende 2021 machte: Sicherten sie zu, ihr Bündnis nicht weiter auszudehnen, dann werde es auch keinen Krieg gegen die Ukraine geben – so fasste NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg Moskaus Vorschlag im September 2023 vor Abgeordneten des EU-Parlaments zusammen. ‚Natürlich haben wir das nicht unterschrieben‘, brüstete sich Stoltenberg; denn dass die NATO auf ihre weitere Expansion verzichtete, kam für die herrschaftsgewohnten Eliten des Westens nicht in Frage. Damit war die vielleicht letzte echte Chance, den Krieg abzuwenden, vertan.“
Im Laufe des vorangegangen Jahres 2021 verschärfte sich der Ukraine-Konflikt zusehends. Wir sehen hier von den vermutlich letzten Chancen einen Krieg abzuwenden bis auf einige Stichwörter weitgehend ab und widmen uns stärker der anschließenden Torpedierung ihn nach Ausbruch frühzeitig zu beenden.
Die „vertanen Chancen“ diesen Krieg zu verhindern, lagen vor allem in der von El Pais am 2. Februar geleakten, schroffen Zurückweisung der von Russland am 17. Dezember (2021) mit den im unterbreiteten „Vertragsentwurf für eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur“ geforderten Sicherheitsgarantien durch die NATO, sowie der russisch-ukrainischen Tagung im Normandie-Format am 11. Februar mit den „Minsk II“ -Garantiemächten Deutschland und Frankreich, auf der sich Kiew weigerte die „Minsker Abkommen“ umzusetzen und stattdessen ab 15. Februar – wie OSZE-Beobachter:innen in jenen Tagen registrierten – vielmehr mit einer Dauer-Bombardierung eine militärische Offensive gegen den Donbass begann, die die Lage an der Konfliktlinie drastisch verschärfte. Dass Angela Merkel – Langzeitkanzlerin der „Minsk II“-Garantiemacht Deutschland – zwischenzeitlich freimütig erklärte, dass Kiew und der Westen nie vorhatten, das 2015 geschlossene und auch als UN-Resolution 2202 verabschiedete Abkommen umzusetzen, sondern den Vertrag und die UN-Resolution nur als Manöver für ein taktisches Zeitfensters zur weiteren Aufrüstung der Ukraine abschlossen und verabschiedeten, wirft ein bezeichnendes Licht auf die acht Jahre lang unterminierten Befriedungschancen des Konflikts seit 2014/15. Entsprechend harsch urteilte denn auch der Spitzen-Politologe des US-Establishment und Mahner einer Eskalation des Ukraine-Konflikts sowie Gegner des Stellvertreter- und Zermürbungs-Kriegs gegen Moskau John Mearsheimer: „Das außenpolitische Establishment des Westens ist für diese Katastrophe verantwortlich.“ (Im Detail hierzu siehe insgesamt u.a. die zahlreichen Publikationen des Schweizer Ex-Oberst des Generalstabs und ehem. Mitglied des strategischen Nachrichtendienstes des Landes, spezialisiert auf osteuropäische Länder, Jacques Baud.)
In Parenthese: dass die Sicherheitsinteressen nur vorgeschoben (gewesen) seien, wie die politischen Führungsfiguren und die bellizistische Presse des Westens unentwegt trommelten, ist nicht nur für Mearsheimer ein bloßes Kriegs-Narrativ. So sehen es auch höchstrangige westliche Ex-Militärs, wie etwa Harald Kujat (ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr, Luftwaffengeneral a.D. und von 2002 – 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses), oder Erich Vad (Brigadegeneral a.D. und langjähriger oberste Militärberater Angela Merkels), oder auch bereits genannter Jacques Baud, um nur die vielleicht drei Bekanntesten zu nennen. Darüber hinaus siehe insbesondere auch die Veröffentlichungen von Ralph Bosshard (ehemaliger Oberstleutnant im Generalstab der Schweizer Armee und Ex-Chef der Operationsplanung im Führungsstab), Helmut Ganser (Brigadegeneral a.D. und ehemaliger Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATO-Vertretung in Brüssel), sowie nicht minder jene von Charles Kupchan (ehemaliger Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten), Graham E. Fuller (Ex-Vizepräsident der CIA und zuständig für die geheimdienstliche Beurteilung der globalen Situation sowie ehemaliger Direktor für europäische Angelegenheiten des Nationalen Sicherheitsrats der USA) u.a. Graham E. Fuller, vor seiner Pensionierung zuständig für die geheimdienstliche Beurteilung der globalen Situation, ist eine wahrlich mit allen Wassern des Informations- und Propagandakriegs gewaschene Person. Und doch stellte selbst der US-Schlapphut ersten Ranges fest: „Eine solche Zensur [und medialen Wahnsinn] habe ich noch nie erlebt.“ „Eines der beunruhigendsten Merkmale dieses amerikanisch-russischen Kriegs in der Ukraine“, wie er den Ost-West-Stellvertreterkrieg auf ukrainischem Boden charakterisiert, „ist die völlige Korruption der unabhängigen Medien“ des Westens.
Zudem, wie etwa der Friedensaktivist und Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken in seinem instruktiven Aufsatz „Warum geht Russland das große Risiko eines Ukraine-Krieges ein?“ fragte: „Warum dieser Angriff … Warum geht Russland in dieses Risiko. Zuvor hatten USA und EU massivste Sanktionen angedroht, die geeignet sind, Russland ökonomisch ins Mark zu treffen, dazu kommt die politische Ächtung … Trotzdem, diese brachiale Abkehr Russlands vom Westen. Weshalb?“ Denn auch oder besser: gerade in Moskau wusste man um die militärischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse in einem eskalierenden Stellvertreter-Krieg mit den Westen Bescheid. Ein Militäretat von 1,154 Billionen Dollar der NATO-Staaten (2021) zu 65,9 Milliarden Dollar auf russischer Seite (2021). Also gerade mal ein 18tel oder spiegelverkehrt: eine 18-Fache Überlegenheit der NATO. Der Unterschied in der Wirtschaftskraft war mit 24 zu 1 zu Gunsten der NATO-Staaten sogar noch gravierender. Und dennoch.
Vertane Chancen den Krieg frühzeitig zu beenden
Allerdings begannen in Gomel nahe der Grenze zu Weißrussland bereits am 28. Februar, mithin schon 4 Tage nach dem 24. Februar, Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew unter türkisch-israelischer Vermittlung. Wolodymyr Selenskyj hat hierzu bekanntlich den ehemaligen israelischen Premier Naftali Bennett um Vermittlung gebeten.
In einem längeren Interview hat Naftali Bennett, der also auf Bitte Selenskyjs hinter den Kulissen intensiv an Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau gearbeitet hat, später ausgeplaudert, dass schon Ende März 2022, also ein Monat nach Kriegsausbruch, ein Waffenstillstand in greifbarer Nähe gewesen ist – aber von den USA und Großbritannien torpedierten wurde. Washington und London, so Israels Ex-Premier „blockierten“ (resp. „stoppten“) dies und diplomatische Verhandlungen rüde.
Neben heiß laufenden Drähten per Telefon flog Bennett dann bereits am 5. März, sprich 10 Tage nach Kriegsbeginn, auf Einladung Putins in einem vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet zum einschlägigen Gespräch nach Moskau und von dort weiter nach Berlin und informierte gleichzeitig Paris und London sowie Washington. Eine Pendeldiplomatie die im Übrigen auch zeigt, wie stark die NATO und Hauptstädte des Westens bereits von Anbeginn der Eskalation des Ukraine-Konflikts an darin innvolviert waren. Ein Waffenstillstand, an dem „damals … beide Seiten großes Interesse … hatten“, sei in Folge, so Bennett wie gesagt, in greifbarer Nähe gewesen. Beide Seiten, also sowohl Moskau wie Kiew, waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Doch die USA und Großbritannien haben eine Verhandlungslösung unterminiert und auf eine Fortsetzung des Krieges bestanden. Insbesondere Boris Johnson hat bei Bennetts Visite in den westeuropäischen Hauptstädten zur Abstimmung seiner Bemühungen die ultimative US-britisch „aggressive“ Position vertreten, dass „man Putin weiter bekämpfen müsse“. Auf die Frage, ob London und Washington die hoffnungsvolle Initiative und damaligen Istanbuler Gespräche um eine Verhandlungslösung hinter den Kulissen tatsächlich zum Scheitern brachten, antwortete Bennett in seinem Videointerview recht unmissverständlich: „Ja. Sie haben es blockiert“. „Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.“
Seitdem brechen nahezu alle Dämme. Das Kriegsgetrommel und bellizistische mediale Dauerfeuer haben dabei sogar das kollektive Kurzzeitgedächtnis in Schutt und Asche gelegt. Die unentwegte Kriegspropaganda hat nämlich weitestgehend selbst die blasseste Erinnerung an die einst ebenso vielversprechenden Istanbuler Gespräche zwischen Vertretern Russlands und der Ukraine um eine Verhandlungslösung verschüttet – die Naftali Bennett ebenfalls mitmoderierte. Ende März 2022, nur einen Monat nach Kriegsausbruch, titelten die Medien noch zu den erzielten „großen Annäherungen“ und einem vielversprechenden Entwurf eines Waffenstillstandsabkommens. Aber schon wenige Tage später, am 5. April, berichtete die Washington Post, dass in der NATO die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: „Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis“ für Washington, die NATO und die EU. Selbiges berichtete am 21. April nur wenig später dann auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoğlu, der (selbst alles andere als ein Friedenstäubchen) gleichviel ebenfalls als Vermittler an den Istanbuler Gesprächen teilgenommen hatte, nach einem Treffen der NATO-Außenminister gegenüber CNN Türk: „Es gibt Länder innerhalb der NATO, die wollen, dass der Krieg weitergeht … Sie wollen, dass Russland schwächer wird.“
Ebenso zynisch wie angewidert kommentierte zu alledem denn auch wiederum John Mearsheimer frühzeitig: „Wir [Washington] haben beschlossen, dass wir Russland in der Ukraine besiegen werden. (…) Man könnte argumentieren, dass der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen.“
Und um dies auch der ukrainischen Führung nochmals unmissverständlich ins Stammbuch zu diktieren, begab sich Anfang April 2022 denn auch der damalige britische Premierminister Boris Johnson nochmals extra nach Kiew, um die im März weit fortgeschrittenen Instanbuler Gespräche zu sabotieren. Laut Times vom 4. April stand die Visite unter der explizit ausgegebenen Maxime: „Keine Einigung mit Russland, solange die Ukraine nicht die Peitsche in der Hand hat.“ Dem Guardian zufolge hat er dieser Maxime gemäß Wolodymyr Selenskyj bereits Ende März 2022 – als die Welt gerade gebannt die russisch-ukrainischen Gespräche in Istanbul verfolgte – „angewiesen“, „keine Zugeständnisse an Putin zu machen.“ Auch Harald Kujat, als früherer Vorsitzender des NATO-Russland-Rats und der NATO-Ukraine-Kommission sicher gut informiert und sensibel darauf bedacht mit welchen „zuverlässigen Informationen“ er an die Öffentlichkeit geht, erklärte mit Verweis auf solche, dass Boris Johnson Anfang April 2022 „in Kiew interveniert und eine Unterzeichnung [des damaligen „15-Punkte-Friedensplans“] verhindert (hat). Seine Begründung war, der Westen sei für ein Kriegsende nicht bereit.“
Heute bereits weitestgehend dem Vergessen anheimgefallen, beinhaltet der von Moskau gebilligte 15-Punkte-Friedensplan u.a. den Rückzug der russischen Truppen – den sie am 31. März als die Verhandlungen begleitendes Zeichen einer Deeskalation aus dem Raum Kiew einleiteten – sowie den vertraglichen Verbleib von Luhansk und Donezk mit erweiterter Autonomie (die eigentlich schon einen Eckpunkt von Minsk II bildete) in der Ukraine. „Nach Ansicht von Harald Kujat“, so Georg Auernheimer, „hatte sich Russland auf jeden Fall bereit erklärt, sich auf das Gebiet von vor Beginn des Angriffs zurückzuziehen.“
Im Grunde wurde dies mittlerweile weitestgehend auch vonseiten der Ukraine bestätigt. Demgemäß erklärte der Dawyd Arachamija, Fraktionsvorsitzender von Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ und Chefunterhändler bei den Friedensgesprächen in Istanbul im ukrainischen TV-Sender 1+1, dass Moskau damals „wirklich bis zum fast letzten Moment gehofft hätten“, dass „die Ukraine die Neutralität annimmt. Das war das Wichtigste für sie.“ Und fuhr fort: „Die Russen waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir – wie einst Finnland – der Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet hätten, der NATO nicht beizutreten.“ Die Intervention Boris Johnsons habe schließlich den Ausschlag zum Kiewer Njet gegeben. Dass diese Ausführungen Arachamijas völlig diametral zu den tagtäglich verbreiteten Narrativen des Westens, dass Putin den Krieg aus imperialistischen Gründen, gar zur Vernichtung der Ukraine führe, stehen, sei hier lediglich, aber am Rande zumindest doch vermerkt. (Nochmals ausführlich zu alledem vergleiche Georg Auernheimer, Die Ukraine im Weltordnungskrieg.)
Aber auch danach hat es noch weitere Chancen gegeben das neue Verdun in eine Verhandlungslösung zu beenden. Jörg Kronauer macht diesbezüglich zu Recht insbesondere auf Chinas Vermittlungsinitiative aufmerksam. „Vor genau einem Jahr legte China ein Zwölfpunktepapier vor, in dem es Schritte hin zu einem politischen Abgleich zwischen Russland und der Ukraine skizzierte. Beijing begann zwischen beiden Seiten zu vermitteln, stieß bald aber auf Granit: Im Westen hieß es, bevor man verhandle, solle Kiew erst mit einer großen Frühjahrsoffensive die russischen Streitkräfte zurückdrängen und Moskau unter Druck setzen. Die nächste Chance war vorbei.“
Nicht vergessen, sondern in den sogenannten „Qualitäts-“ und Leitmedien schlicht nie wirklich berichtet, könnte man gegen das mediale Kriegsgeschrei selbst den bis unlängst amtierenden Generalstabschef der US-Streitkräfte Mark Milley heranziehen (der den russischen „Frosch“, wie man in den Vereinigten Staaten so sagt, „langsam gekocht“ haben wollte), der das Gemetzel des neuen Verdun für den Westen nicht gewinnbar hielt und anstatt des blutigen Weltordnungskriegs „bis zum letzten Ukrainer“ für eine Verhandlungslösung plädierte.
Bis alles in Trümmern liegt
Der Westen indes hat mit John Mearsheimer gesprochen „beschlossen, dass wir Russland in der Ukraine besiegen werden [und hierzu] bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen.“ Und ein Großteil der „Linken“, von den Sozialdemokratien und Oliv-Grünen ganz zu schweigen, folgt den imperialistischen Machtzentren des Metropolenkapitalismus Gewehr bei Fuß mit einem freudigen Hurra. Bis alles in Trümmern liegt.
Quelle: KOMintern