All Eyes on Rafah
Übernommen von Yeni Hayat – Neues Leben:
Alev Bahadır
So lautet ein Slogan im Internet, der unmittelbar nach dem Beginn der Bombenangriffe auf Rafah und die Ankündigung einer baldigen Bodenoffensive genutzt wird. Die Weltöffentlichkeit sieht dabei zu, wie die palästinensische Bevölkerung ermordet und immer weiter aus Gaza vertrieben wird. Während die herrschende Politik Krokodilstränen vergießt, kritisieren immer mehr Menschen die Politik der israelischen Regierung und ihrer Komplizen. Die Proteste werden lauter, die Unterdrückungsmechanismen des Staates gegen sie allerdings auch, wurde Israelkritik doch zu einem Synonym für Antisemitismus und die bedingungslose Unterstützung für Israel zur Staatsräson.
Etwa 35.000 Menschen sind durch die Angriffe des israelischen Militärs seit dem 7. Oktober 2023 gestorben. Gaza war bereits vor dem Einmarsch der israelischen Streitkräfte das größte Freiluftgefängnis der Welt. Auf engstem Raum lebten 2 Millionen Menschen zusammen, abgeschnitten von grundlegenden demokratischen Prozessen. Der Kampf der Palästinenser um politische und territoriale Selbstbestimmung ist für die israelische Regierung schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Zu sehr untergräbt die Bewegung der Palästinenser ihren Anspruch auf Vorherrschaft in Israel und Palästina. Mit den untragbaren Umständen in Gaza und der völkerrechtswidrigen und illegalen Besatzung im Westjordanland, was für viele Menschen Zerstörung ihres Lebensraums, Gewalt und Vertreibung bedeutet, befindet sich der Staat schon lange im Status der Apartheid.
Dieser Umstand ist auch durchaus weiten Teilen der israelischen Zivilbevölkerung bekannt. Doch diejenigen, die diese Politik kritisieren, werden auch in Israel von rechten Zeitungen und Parteien nicht selten – so wie auch in Deutschland – als Antisemiten diffamiert. Mit dem neuesten Einmarsch der israelischen Armee und dem Angriff auf Rafah befinden wir uns allerdings auf einer neuen Ebene. Eine Ebene, die niemand mehr ignorieren kann.
Rafah war der letzte Zufluchtsort für über eine Millionen Menschen in Gaza (gewesen). Den beschwerlichen Weg nach Süden ohne Perspektive, eine minimale Grundversorgung, notwendige medizinische Hilfe oder ausreichend Nahrungsmittel, mussten die Menschen einschlagen, als die israelische Regierung ohne Rücksicht auf Verluste Gaza anzugreifen begann. Die offizielle Strategie lautete, die Hamas auszurotten und die Geiseln, die am 7. Oktober durch die Islamisten entführt worden waren, zu befreien. Die Realität zeigte sich aber sehr schnell als eine Andere. Familienangehörige der Geiseln, die das eskalative Vorgehen der Netanyahu-Regierung kritisieren und dagegen protestieren, werden mit Polizeigewalt auseinandergeschlagen. Während die israelische Regierung, kurze Zeit, nachdem die Verhandlungen mit der Hamas beendet wurden, davon sprach, Rafah zu evakuieren, flogen wenig später die ersten Bomben. Abgeschnitten von jeglicher Versorgung und mitten in einem Kriegsgebiet wird den meisten Menschen nur die Flucht nach Ägypten bleiben. Ob sie jemals von dort wieder zurückkehren können, ist unwahrscheinlich. Mit der Aggression nach außen und innen lenkt Netanyahu nicht nur von seinen eigenen Problemen, u.a. Anklagen gegen ihn ab, sondern fischt auch im Becken der rechten Unterstützer und Wählerstimmen.
Internationale Proteste häufen sich
Internationale Stimmen gegen das Vorgehen der israelischen Regierung werden immer lauter. Während, wie im Artikel „Hinds Hall“ auf Seite 4 beschrieben, auch ein Teil der Kulturschaffenden mutiger und lauter ihre Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung zeigen, gab es auch rund um den European Song Contest (ESC) Proteste um die Teilnahme der israelischen Sängerin Eden Golan. Die Show wurde von Protesten am Austragungsort Malmö begleitet. Gleichzeitig äußerten mehrere Länder ihren Unmut über die Beteiligung Israels. Gewerkschafter in Belgien warfen Israel Verletzung der Menschenrechte und der Pressefreiheit vor und blendeten während Golans Auftritt, dessen Ausstrahlung in Belgien unterbrochen wurde, einen hinweisenden Text ein.
Während einige Staaten, wohlwissend in der Angst um ihre eigenen Zustimmungswerte, wie z.B. US-Präsident Biden kleine Rückzieher in der Unterstützung zu Israel machen, steht ein Land fest an der Seite Netanyahus: Deutschland. Auch wenn zumindest nicht mehr über „uneingeschränkte Solidarität“ gesprochen wird – bei 35.000 Toten, vor allem Frauen und Kindern, auch nicht so einfach – machte Bundeskanzler Scholz vor kurzem wieder klar, dass Deutschland weiter an der Seite Israels stehe. Im letzten Jahr hat Deutschland seine Waffenlieferungen nach Israel verzehnfacht, ist nach den USA der wichtigste Waffenlieferer für Netanyahu. Die Doktrin der Staatsräson wird weiterhin dazu genutzt, sämtlichen Protest im Keim zu ersticken.
Studierendencamp wird geräumt
Wie in vielen anderen Ländern auch, haben Studierende deutscher Hochschulen Protestcamps in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung und in Protest an der israelischen Regierung und der Bundesregierung, errichtet. So z.B. an der LMU in München, der Universität Bonn, der Universität Hamburg oder der Freien Universität Berlin. An der FU Berlin räumten ca. 200 Polizisten das Protestcamp, auch gewaltvoll, nachdem ca. 150 Studierende Teile des Geländes besetzt hatten. Nach der Räumung hatten 150 Dozenten der FU einen offenen Brief unterzeichnet, der die Räumung des palästina-solidarischen Camps und das Vorgehen der Universitätsleitung kritisiert. Sofort meldete sich die Propaganda-Maschinerie zu Wort: die BILD veröffentlichte einen Artikel mit dem Text „Diese Lehrkräfte unterschrieben offenen Brief für Juden-Hass-Demos“, darunter 13 Portraitfotos mit Namen und Arbeitsstelle. Dagegen wehren sich die Dozenten nun, u.a. mit Beschwerden beim Presserat, was der BILD, die eine Rekordzahl an Rügen hält, wohl egal sein sollte. Auch andere Protestcamps wurden entweder oder werden in den kommenden Tagen geräumt. Studierendenproteste und Palästina-Solidarität werden beide nicht gerne gesehen, daher geht die Polizei mit Räumungen gegen die Meinungsfreiheit vor.
Cease Fire now!
Unmittelbar nach katastrophalen Ereignissen ist es deutlich einfacher, die Bevölkerung für Waffenlieferungen und kriegerische Handlungen zu gewinnen, als wenn Zeit vergangen ist. So haben wir es erlebt, als der Ukrainekrieg begann, der Bundeskanzler von „Zeitenwende“ sprach und Milliarden in die Rüstung gesteckt wurden. Mit der Zeit nahmen die Zustimmungswerte für Waffenlieferungen ab. So ist es auch bei Waffenlieferungen und Unterstützung der israelischen Regierung. Bestimmte Dinge, auch wenn die sich Politik und Medien große Mühe geben, sind einfach nicht mehr zu leugnen oder zu vertuschen. Hier geht es nicht um Selbstverteidigung der israelischen Bevölkerung. Hier geht es um die systematische Vertreibung und Ermordung des palästinensischen Volkes. 35.000 Tote nach sieben Monaten, Bombardierungen trotz dem Wissen, dass sich Millionen Zivilisten vor Ort befinden, Vertreibung, Schließung von Flucht- und Versorgungskorridoren und keinerlei Absicht, diese Handlungen zu beenden: was aktuell in Gaza passiert, ist ein Völkermord. Und der Bevölkerung in Deutschland, aber auch anderswo, wird immer klarer, dass die Staaten, in denen sie leben, Komplizen dieser Verbrechen sind. Nicht umsonst klagte Südafrika Israel am Internationalen Strafgerichtshof wegen „Völkermord“ und Nicaragua Deutschland wegen „Begünstigung zum Völkermord“ an. Der Vorwurf des Antisemitismus ist in Deutschland, aufgrund der Geschichte, ein umso heftiger. Doch die Herrschenden zeigen immer wieder, dass sie kein Problem damit haben, diesen ernsten Vorwurf zu missbrauchen, um ihre Politik widerstandslos durchzukriegen. Die Angst vor dem Vorwurf gilt es jetzt zu überwinden, denn Solidarität mit den Menschen in Palästina ist kein Antisemitismus. Doch die Menschen in Gaza brauchen jetzt unsere Solidarität und unsere lauten Stimmen. Sonst wird es dort bald nichts mehr geben, mit dem wir solidarisch sein können
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben