Über den dritten deutschen Einmarsch in Litauen
Übernommen von Zeitung der Arbeit:
Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Im Ersten Weltkrieg
„Das besetzte Land des Oberbefehlshabers Ost, Ober-Ost oder schließlich Ob.-Ost gekürzt, baute sich in stumpfen Winkel der großen Kerbe vor, die die preußische Ostgrenze von der baltischen Küste bis nach Oberschlesien beschreibt. Es drängte im wesentlich zu den beiden Strömen hin, der Düna und dem Dnjepr“ – so beginnt Arnold Zweig (1887–1968) auf den ersten Seiten seines 1927 erstmals erschienenen Weltromans „Der Streit um den Sergeanten Grischa“[1] die Erzählung über das Leben und die Tötung eines russischen Kriegsgefangenen durch preußisch-deutsches Militär in Litauen. Diese Tötung war mit einem Kriegsgericht scheinlegitimiert, denn, lässt Arnold Zweig den deutschen Oberleutnant Winfried sagen: „Um Deutschland geht es, dass in diesem Land, dessen Rock wir tragen, und für dessen Sache wir in Dreck und Elend zu verrecken bereit sind, Recht richtig und Gerechtigkeit der Ordnung nach gewogen werde. Dass dieses geliebte Land nicht verkomme, während es zu steigen glaubt. Dass unsere Mutter Deutschland nicht auf die falsche Seite der Welt gerate. Denn wer das Recht verlässt, der ist erledigt“.[2]
Litauen, das im zaristischen Russland eine autonome, 65.284 km2 große Region war, wurde im ersten Weltkrieg 1915 von den deutschen Truppen besetzt und als Verwaltungseinheit Ober-Ost unter Befehlsgewalt von General Erich Ludendorff (1865–1937) gestellt. Arnold Zweig war 1917/1918 Mitarbeiter in der Presseabteilung des Stabes Ober-Ost (Etappengebiet östlich der Weichsel) in den litauischen Städten Vilnius und Kaunas. Diese Erfahrungen ließen in den 1950er Jahren Arnold Zweig davon sprechen, es gelte, „den Krieg als legales Mittel zur Bereinigung von Differenzen endgültig auszurotten; denn er ist ein Überrest aus einer barbarischen Zeit“.[3]
Im Zweiten Weltkrieg
Josef Stalin (1878–1953) hat das Buch von Adolf Hitler (1889–1945) „Mein Kampf“ gelesen und jene Stelle besonders vermerkt, wo vom deutschen „Lebensraum im Osten“ die Rede ist.[4] Wie die Republik Österreich waren nach Ende des ersten Weltkrieges 1918 die baltischen Staaten Litauen, Estland (45.228 km2) und Lettland (64.586 km2) entstanden. Als die unmittelbare Bedrohung durch den deutschen Faschismus immer deutlicher wurde, entschlossen sich diese Länder, am 3. August 1940 der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken freiwillig, also auf friedlichem Weg beizutreten. Der von Stalin und seinen Generälen schon lange erwartete Überfall des mit modernen Waffen hochgerüsteten Deutschlands auf die Union der Sowjetrepubliken (22. Juni 1941) bedeutete auch für die baltischen Länder nur Tod und Zerstörung. Massenhaft wurden in Litauen Jüdinnen und Juden ermordet und ganze Dörfer zerstört. Als Mordgesellen standen den Deutschen Litauer zur Seite. In Vilnius, das als „Jerusalem des Nordens“ galt, wurden im jüdischen Viertel zwei Ghettos eingerichtet, allein aus dem kleineren Ghetto wurden 11.000 Bewohnerinnen und Bewohner im Wald von Panerial erschossen. Das größere Ghetto wurde am 23. September 1943 aufgelöst (Gedenktag an den Holocaust in Wilna), nur etwa 800 Ghettobewohnerinnen und ‑bewohner überlebten.[5] Litauische Roma wurden ebenso verfolgt wie litauische Partisanen, die Seite an Seite mit sowjetischen Partisanen für die Befreiung kämpften. In Litauen verloren mindestens 420.000 Menschen durch Deutsche und deren litauische Kollaborateure ihr Leben. Das Morden im Baltikum hatte erst ein Ende, als es durch die Rote Armee von den deutschen Truppen befreit wurde.[6]
Im dritten Weltkrieg
In der Gegenwart des dritten Weltkrieges marschiert Deutschland in Litauen mit einer schweren Kampfbrigade von 5.000 Soldatinnen und Soldaten ein.[7] Die dauerhafte Ansiedlung der diese Brigade begleitenden Familienmitgliedern ist geplant. Der bundesdeutsche Kriegsminister Boris Pistorius (*1960) will mit diesem Einmarsch in Litauen im Einvernehmen mit Kanzler Olaf Scholz (*1958) ein besonderes Signal in Richtung Russland setzen, „um der obersten sicherheitspolitischen Aufgabe Deutschlands gerecht zu werden: Aggressoren abzuschrecken, um Freiheit und Sicherheit zu verteidigen“.[8] 100 Milliarden Euro Sondervermögen wurden der deutschen Bundeswehr zur „Ertüchtigung“ bereitgestellt. Leben und Tod des Sergeanten Grischa ist als Pflichtlektüre im Ausbildungsprogramm dieser neuen deutschen Kampfeinheit im Osten nicht aufgelistet. Statt Arnold Zweig wird sinngemäß das in Erinnerung gebracht werden, was der deutsche Schriftsteller Wilhelm Pleyer (1901–1974) in seinem in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik verbreiteten Lesebuch veröffentlicht hat: „Der russische Drang nach Weltherrschaft, der russische Volksimperialismus, gebrauchte die östliche Kirche, die >Rechtgläubigkeit<, um Einfluss auf dem Balkan zu haben, hernach die panslawische >Kirche<, um in der Mitte Europas mitzuspielen, und schließlich die Weltkirche des Bolschewismus, um einen durchaus russisch-nationalistisch gemeinte Weltherrschaft vorzubereiten“.[9] Nichts Anderes wird in der Gegenwart dem deutschen Volk durch die Massenmedien im Dienste der Rüstungsindustrie wie Rheinmetall vermittelt, dessen Standort in Österreich von Bundeskanzler Karl Nehammer am 1. Mai (!) besucht wurde. Ein prominenter Potsdamer Militärhistoriker empfiehlt, dass die Deutschen „zu alten Werten und zur Wehrhaftigkeit“ zurückfinden müssen, zumal Russland jetzt von der Mehrheit als Bedrohung wahrgenommen werde.[10] In den 1930er Jahren hat sich eine jüngere Generation von deutschen Geopolitikern zusammengefunden, um „das Verständnis für alle weltpolitischen Vorgänge und deren Gegenwirkung auf das erstarkte, erneuerte Deutschland zu entwickeln und zu vertiefen“.[11] Der sudetendeutsche Geograph Gustav Fochler-Hauke (1906–1996), mit Karl Haushofer (1869–1946) einer der einflussreichsten deutschen Geopolitiker, hat damals bedauert, dass die baltischen Staaten „durch kommunistische Agenten, meist baltische Juden“ unterhöhlt seien und „mit der Unterdrückung der deutschen Minderheit eine ihrer besten staatserhaltenden Kräfte“ vernichten.[12]
Die sich wiederbetätigende neue deutsche Wehrmacht wird in Vilnius über jene 1944 von der alten deutschen Wehrmacht gesprengte Steinbrücke über die Neris mit ihren Stiefeln marschieren können, weil diese von den Sowjets wieder aufgebaut worden ist – mit vier sozialistischen Eckpfeilern, die für das sowjetische Litauen Landwirtschaft, Industrie, Frieden und Jugend symbolisiert haben. Das großartige Denkmal für die bei der Befreiung Litauens von der deutschen Wehrmacht gefallenen Soldaten der Roten Armee auf dem Antakalnis-Friedhof in Wilna werden diese bundesdeutschen Soldaten dagegen nicht mehr sehen, es wurde trotz Einspruch des UN-Menschenrechtsausschusses von der Stadt Vilnius entsorgt.[13]
Deutsche Bildung für Deutsche Minderheiten in Europa und Zentralasien
„Auslandsdeutsche“ haben in der deutschen Politik seit 1933 von den deutschen Faschisten besondere Aufmerksamkeit erfahren und wurden zu Weihnachten über alle deutschen Sender angesprochen. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat der Bundesrepublik Deutschland nimmt darauf nicht Bezug, stellt aber in seiner Broschüre (4., überarbeitete Auflage 2023) jene „Deutsche Minderheiten“ in Europa und Zentralasien vor, die von ihm direkt subventioniert werden.[14] In ihren Grußworten verdeutlicht die sich für die umfassende zivile deutsche Kriegsvorbereitung besonders aktiv betätigende Innen- und Heimatministerin Nancy Faeser (*1970), dass rund eine Million Deutschstämmige aktuell in Mittel- und Osteuropa, im Baltikum und in den Nachfolgestatten der Sowjetunion leben. Deutschsprachige Minderheiten in Italien oder Belgien werden nicht erfasst, ministerielle Unterstützung erhalten Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Dänemark, Estland, Georgien Kasachstan, Kirgistan, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Republik Moldau, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tadschikistan, Tschechische Republik, Turkmenistan, Ukraine, Ungarn und Usbekistan.
In den hier genannten Ländern wurden aus Deutschland subventionierte, nach Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) benannte Institute installiert. Der Name dieses Weimarer Klassikers ist weltweit Mythos und entzieht sich aus dem Blickwinkel des deutschen politischen Establishments eines solchen Dialogs wie ihn Heinrich Heine (1797–1856) oder Karl Marx (1818–1883) angestoßen hätten. In Richtung Osten hätte sich als Namensgeber für deutsche Kulturinstitutionen Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646–1716) angeboten, der ein Pionier der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit war. Mit dieser haben sich Wissenschaftler der Deutschen Demokratischen Republik wie der sudetendeutsche Historiker Eduard Winter (1896–1982) in Kooperation mit Wissenschaftlern aus den sozialistischen Ländern befasst.[15]
Militärstrategisches Denken schließt kulturelle Systeme seit jeher mit ein. Der NATO-Agent und polnische Präsident Andrzej Duda (*1972) hetzte in seinem Vortrag auf der Vytautas-Magnus-Universität in Kaunas gegen jene „russische Welt“, die Polen von den hunderten Krematorien seiner deutschen Besatzer befreit hat (26. April 2024) und wird dabei vom Präsidenten der litauischen Republik Gitanas Nausėda (*1964) beklatscht.[16] Im April 1989 wurde der „Deutsch-Litauische Kulturverbund“ in der Hauptstadt des früheren ostpreußischen Memellandes Memel / Klaipėda gegründet, in der Hauptstadt Litauens Vilnius 1998 das Goethe-Institut.[17] Das Goethe-Institut in Prag wurde zu Anfang 1993 vom damaligen deutschen Außenminister Klaus Kinkel (1936–2019), der als Freiheitlicher mit seinen Kameraden von den Grünen und den deutschen Sozialdemokraten die Bundesrepublik Deutschland auf Kosten der jugoslawischen Völker wieder kriegstüchtig gemacht hat, am Masaryk-Ufer in der früheren Botschaft der Deutschen Demokratischen Republik eröffnet. Vom Boden der als Unrechtsstaat verleumdeten DDR ist im Gegensatz zur BRD nie ein Krieg ausgegangen. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens haben sich in Serbien die ersten deutschen Vereine gegründet. In der Minderheiten-Broschüre lässt das deutsche Innenministerium den Träger des Bundesverdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland und ehemaligen Vorsitzenden des deutschen Nationalrates in Serbien Anton Beck (1950–2019) klagen: „In meiner Kindheit haben die Familien meist nur zu Hause Deutsch gesprochen. Nach dem zweiten Weltkrieg war es im Kommunismus sehr unangenehm, sich als Deutscher zu bekennen“.[18] Weshalb das Bekenntnis zum Deutschtum in Serbien hinterfragt wurde, wird nicht angedeutet. Die deutsche Luftwaffe hat am 6. April 1941 ohne Ultimatum oder Kriegserklärung zerstörerische Bomben auf Belgrad geworfen und dabei mehrere Kinderkrippen in Flammen vernichtet. Am 21. Oktober 1941 haben Deutsche, von denen viele Goethe gelesen haben mögen, in Kragujevac 400 Gymnasiasten in einer Vergeltungsaktion aus ihrer Schule getrieben und erschossen. Die in Serbien eingesetzten deutschen Soldaten töteten für jeden von den jugoslawischen Partisanen getöteten Deutschen bis zu hundert Widerstandskämpfer oder unbeteiligte Zivilisten.[19]
Kenntnisse von Goethe oder Immanuel Kant (1724–1894) wie überhaupt „Bildung“ verhindern Barbarei überhaupt nicht. Der aus der Ukraine stammende sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg (1891–1961) war noch in seinen Erinnerungen fassungslos: „Doch mich erschütterte weniger der Eintritt Hitlers in die Arena der Geschichte als die Schnelligkeit, mit der sich die Metamorphose der deutschen Gesellschaft vollzog: Menschen mit Hochschulbildung verwandelten sich in Kannibalen“.[20]
Die in Nürnberg zur Sprache gekommenen Hassverbrechen der Deutschen gegen Juden und Slawen .unterscheiden sich im Ergebnis nicht von jenen der Israelis gegen Palästinenser, es bleibt dabei, Kain erschlägt Abel. Anfang April d. J. berichtet die weltweit tätige Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“: „Mehr als sechs Monate nach Beginn des Krieges in Gaza geht die Verwüstung weit über die durch israelische Bombardierungen und Luftangriffe getöteten Menschen hinaus. Die PalästinenserInnen haben große Schwierigkeiten, Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten, und eine große Zahl vermeidbarer Todesfälle ist auf die Unterbrechung wichtiger Gesundheitsdienste zurückzuführen. Faktoren wie Angriffe auf Krankenhäuser, Versorgungsengpässe, Zwangsevakuierungen und der Tod und die Vertreibung von MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens haben diese Unterbrechungen noch verstärkt. >Wie viele Kinder sind in den überfüllten Krankenhäusern bereits an Lungenentzündung gestorben?<, so Mari-Carmen Viñoles, Leiterin der Nothilfeprogramme von >Ärzte ohne Grenzen<. >Wie viele Säuglinge sind an vermeidbaren Krankheiten gestorben? Wie viele Patienten, die an Diabetes leiden, bleiben unbehandelt? Was ist mit den tödlichen Folgen der Schließung von Nierendialyseeinheiten in angegriffenen Krankenhäusern? Das sind die stillen Tötungen in Gaza, über die in all dem Chaos, das durch den Zusammenbruch des Gesundheitssystems im gesamten Gazastreifen verursacht wird, nicht berichtet wird.< Insbesondere in Rafah sind die Bedingungen lebensfeindlich, denn die Menschen leben unter unmenschlichen Bedingungen und kämpfen mit dem Ausbruch von Krankheiten, Unterernährung und den langfristigen Auswirkungen psychologischer Traumata. Es herrscht ein verzweifelter Mangel an sauberem Wasser zum Trinken und für die Körperhygiene, während sich Müll und ungeklärte Abwässer in den Straßen ansammeln. Auf diesem winzigen Stück Land leben heute mehr als eine Million Menschen, die aus dem Norden des Gazastreifens vertrieben wurden und denen gesagt wurde, dass dieses Gebiet ein Zufluchtsort vor dem Krieg sein würde. […] >Ärzte ohne Grenzen< hat auch festgestellt, dass akute Unterernährung in alarmierendem Ausmaß auftritt. […]“.[21]
Über die Rolle der Jesuiten in Litauen
Mit und nach der Implosion der Sowjetunion orientierten sich die spätestens mit Michail S. Gorbatschow (1931–1922) sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitenden korrumpierbaren und korrumpierten Eliten der früheren realsozialistischen Länder an den westlichen Werten. Litauen, Estland und Lettland dienten sich dem imperialistischen Westen als geopolitischer Vorposten zur Expansion in Richtung Russland an. Mit 1. Mai 2004 wurden die drei baltischen Länder mit Polen in die Europäische Union aufgenommen und von der Interventionsallianz North Atlantic Treaty Organization (NATO) willkommen geheißen. Dabei haben sie Applaus von der katholischen Religion, der die meisten Litauer verbunden sind, erhalten.
„Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“, ruft der Evangelist Matthäus den Auftrag des wegen seiner revolutionären Haltung und seines Einsatzes für eine von Eigentum, Knechtschaft und Ausbeutung freien menschlichen Gesellschaft hingerichteten und im Glauben auferstandenen Jesus von Nazareth (+30 n. u. Z.) in Erinnerung.[22] Sehr rasch begann die sich auf Jesus von Nazareth zurückführende katholische Religion eine reaktionäre Rolle in den Etappen der menschlichen Geschichte zu spielen. Das war in den baltischen Ländern nicht anders als im übrigen Europa. Nach Litauen sind 1569 die ersten Mitglieder des von Ignatius von Loyola (1491–1556) gegründeten Jesuitenordens gekommen, gründeten Priesterseminare und 1579 die Universität in Vilnius. Nach zeitweiligem, historisch bedingtem Unterbruch waren jesuitische Missionare wieder in Litauen tätig. In der Sowjetrepublik Litauen wurde ihnen kein Raum mehr gegeben. In der Sowjetunion wurden Gläubige mit der wissenschaftlichen Aufklärung über die sozialen Wurzeln von Religion konfrontiert, sie konnten ihren Glauben aber ohne Verächtlichmachung leben. Einige von den litauischen Jesuiten gingen in die USA nach Chicago ins „Exil“, um von dort aus gegen die Litauische SSR zu wühlen.[23] Seit 1950 (bis 2000) redigierte in Chicago die litauische Jesuitenkommunität das Monatsmagazin „Briefe an die Litauer“. Im Auftrag des früheren litauischen Jesuitenprovinzials Bruno Markaitis SJ (1922–1998) war erster Herausgeber Juozas Vaišnys SJ (1913–2001).[24] Viele kulturelle Zeitfragen bis hin zur „Hippiebewegung“ (Oktoberheft 1973) werden religiös moralisch interpretiert. Immer wieder spiegelt sich in diesen „Briefen an die Litauer“ ein teuflischer Hass gegen den Kommunismus und gegen die Sowjetunion wider, die trotz anhaltender Sabotage und Kriegsbedrohung versuchte, das Hunger, Elend und Armut bedingende System der auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln basierenden Klassenherrschaft zu überwinden und mit neuen Menschen eine geschwisterliche Gesellschaft aufzubauen. Litauer hätten, ist in diesen Briefen zu lesen, ihre Heimat verlassen müssen, um nicht „von dem Raubtier, das wir bereits kannten, den Bolschewiki, vernichtet zu werden“ (März 1950). Anicetas Tamošaitis SJ (1922–2017) vertritt 1957 die dogmatische Ideologie, der Westen dürfe in keine Verhandlungen über Frieden mit den „Despoten Moskaus“ eintreten, ein Krieg gegen die Sowjetunion widerspreche nicht der christlichen Moral (April 1957). Die im Raum stehende mögliche Anwendung der die ganze Menschheit bedrohenden Atomwaffen durch die USA wurde nicht angesprochen. Den antikommunistischen Hetzern aus dem litauischen Jesuitenkollektiv kam zugute, dass der germanophile Papst Pius XII. (1876–1958, Papst seit 1939) traditioneller Feind der „Bolschewiken“ war und sich über die 1947 dekretierte antisowjetische Doktrin von US-Präsident Harry S. Truman (1884–1972) anerkennend geäußert hat. Der US-Kardinal Francis Joseph Spellmann (1889–1967) war erster US-Militärbischof und hat den US-Völkermord in Vietnam ausdrücklich begrüßt, weil dadurch die Ausbreitung des Kommunismus verhindert werde. Den litauischen Jesuiten in den USA blieb die christliche Botschaft des Spaniers Pedro Arrupe SJ (1907–1991) an seine Mitbrüder, die Nachfolge von Jesus von Nazareth konkret zu praktizieren, verborgen.[25] Sie wollten keine Veränderung und lehnten eine kommunistische Volksbewegung hin zu einer „Wirtschaft, die nicht tötet“, gänzlich ab.[26] Das gilt auch für die deutschen Jesuiten dieser Zeit. Der in der Volksmission in den 1950er Jahren predigende Johannes Leppich SJ (1915–1992) führte einen Kreuzzug gegen den Kommunismus.[27] Max Pribilla SJ (1874–1954) bedauerte in den „Stimmen der Zeit“ 1951/1952, dass die deutschen Armeen Russland nicht in Schach gehalten haben.[28] In den „Briefen an die Litauer“ findet sich keine Bemerkung zu dem wegen seines Friedenskampfes von den US-Behörden wiederholt inhaftierten, aus einer irischen Familie kommenden Mitbruder Daniel Berrigan SJ (1921–2016).[29] Und schon gar nicht nimmt diese opportunistischen litauische Jesuitenkommunität das Schicksal ihrer sechs christlich-kommunistisch denkenden Mitbrüder in El Salvador wahr, die wegen ihrer gelebten Nachfolge von Jesus am 16. November 1989 im Auftrag der USA von einem Spezialkommando getötet wurde.[30] Anstatt der Befreiungstheologie mit ihrer Option für die Armen in den „Briefen an die Litauer“ das Wort zu geben wird jene Chiara Lubich (1920–2008) abgedruckt, die über ihre “Privatoffenbarung“ von einer Transformation der kapitalistischen Gesellschaft träumen lässt (z. B. Dezember 1989).
Mit dem von Arrupe SJ und von den lateinamerikanischen Befreiungstheologen gelebten Geist, der befreit, konnte der polnische Papst Johannes Paul II. (1920–2005, Papst seit 1978) nichts anfangen. Als erster Papst überhaupt besucht er die baltischen Länder (4.–10. September 1993), um die dortige Restauration kapitalistischer Klassenherrschaft zu segnen. In der Nachfolge des deutschen Papstes Benedikt XVI. (1927–2022, Papst 2005–2013), den als Kardinalpräfekt der Kongregation der Glaubenslehre schon die sich dem Dialog mit dem Marxismus öffnenden Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965) überfordert haben, amtiert seit 2013 der aus Argentinien stammende Jorge Mario Bergoglio SJ (*1936) als Papst Franziskus. In Abwendung von der Politik seiner beiden Vorgänger will Papst Franziskus politische Verantwortung für die Würde und Rechte aller Menschen übernehmen („Dignitas infinita“) und will christliche Priester, die am Befreiungskampf der Völker von Ausbeutung und Unterdrückung teilnehmen, nicht exkommunizieren, vielmehr ermutigen. Papst Franziskus hat vom 22.–25. September 2018 das Baltikum besucht. Er hat über die dortige Restauration der Reichtum und Armut dialektisch bedingenden Klassenherrschaft nicht triumphiert, sondern seine Sorge über die offenkundigen Brüche in der Gesellschaft ausgedrückt. In Kaunas verweist er auf seine erste, sein ganzes Pontifikat begleitende Enzyklika Evangelii gaudium (24. November 2013)[31] und mahnt ein, wie mit der Vergangenheit umgegangen werden soll, um in eine friedliche Zukunft ohne Krieg blicken zu können (23. September 2013): „Brüder und Schwestern, das Verlangen nach Macht und Ruhm ist die häufigste Verhaltensweise derer, die die Erinnerung an ihre Geschichte nicht verarbeiten und vielleicht gerade deshalb auch nicht bereit sind, sich für die Aufgaben der Gegenwart zu engagieren. Und so diskutiert man darüber, wer brillanter war, wer in der Vergangenheit makelloser war, wer mehr Anspruch auf Privilegien hat als die anderen. Und so verleugnen wir unsere Geschichte, >die ruhmreich ist, insofern sie eine Geschichte der Opfer, der Hoffnung, des täglichen Ringens, des im Dienst aufgeriebenen Lebens der Beständigkeit in mühevoller Arbeit ist< (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 96). Es ist eine unfruchtbare und eitle Haltung, die sich einer Beteiligung am Aufbau der Gegenwart verweigert, und so den Kontakt zur durchlittenen Wirklichkeit unseres gläubigen Volkes verliert. Wir dürfen nicht wie jene spirituellen >Experten< sein, die nur von außen urteilen und ständig darüber reden, >was man tun müsste<“.[32] Einem jungen litauischen Jesuiten antwortete er auf die Frage, was er selbst und seine Gemeinschaft tun könnten, mit den Worten: „Ich glaube, dass der Herr einen Wandel in der Kirche verlangt“.[33]
[1] Verlag Gustav Kiepenheuer Potsdam 1927 und Verlag Büchergilde Gutenberg Berlin 1929, hier S. 59.
[2] Ebenda, S. 352.
[3] So im Volksheim Wien Ottakring aus Anlass des in Wien tagenden Völkerkongresses am 15. Dezember 1952. Österreichische Zeitung vom 17. Dezember 1952.
[4] Z. B. „Nicht West- und nicht Ostorientierung darf das künftige Ziel unserer Außenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk“. Mein Kampf, Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe. 434.–443. Auflage 1939, Zentralverlag der NSDAP. Frz. Eher Nachf., München 1939, S. 757; vgl. auch Dimitri Wolkogonow: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Aus dem Russischen von Vesna Jovanoska. Claasen Düsseldorf 1989, S. 417.
[5] Thorsten Altheide / Alexandra Frank / Heli Rahkema (Estland), Mirko Kaupat (Lettland), Günther Schäfer (Litauen): Reiseführer. Baltikum. 5., neu bearbeitete und aktualisierte Auflage Wertheim 2023.
[6] Vgl. Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944. Band 1 und 2. Wallstein Verlag Göttingen 2011.
[7] Brigade Litauen: Dienen und leben im Baltikum (bundeswehr.de)
[8] Ebenda; auch wt wehr technik 55. Jg., VI/2023: Brigade Litauen. Der Auftrag gilt!
[9] Europas unbekannte Mitte. Ein politisches Lesebuch. Bogen Verlag München Stuttgart 1957, S. 245.
[10] Nicolas Stojek: Kann Deutschland Verteidigung? Eine kulturrevolutionäre Perspektive auf die Zeitenwende. ÖMZ 01/2024, S. 13–23
[11] Karl Haushofer / Gustav Fochler Hauke (Hg): Welt in Gärung. Zeitberichte deutscher Geopolitiker. Verlag von Breitkopf & Härtel in Leipzig. Deutscher Verlag für Politik und Wirtschaft Berlin 1937, Vorwort.
[12] Gustav Fochler-Hauke: Zwischeneuropa als völkische und politische Schütterzone. Ebenda, S. 20–39, hier S. 24.
[13] Vilnius entfernt Sowjet-Denkmal trotz Einspruch der UN – Euractiv DE
[14] Herausgeber Bundesministerium des Innern und für Heimat. Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co, KG, Frankfurt am Main. 150 S.
[15] Eduard Winter und Günther Jarosch: Wegbereiter der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit. Akademie Verlag Berlin 1983.
[16] Polnischer Präsident Duda: „Russische Welt“ brauchen wir nicht | VMU (vdu.lt)
[17] Broschüre, S. 71–73 (Die deutsche Minderheit in Litauen); 25 Jahre Goethe-Institut Litauen – Goethe-Institut Litauen
[18] Ebenda S. 102.
[19] Vgl. z. B. Zoran Konstantinović: Deutsch-serbische Begegnungen. Überlegungen zur Geschichte der gegenseitigen Beziehungen zweier Völker. Edition Neue Wege Berlin 1997.
[20] Ilja Ehrenburg: Menschen. Jahre. Leben. Memoiren. Band II. Verlag Volk und Welt Berlin 2.A. 1982, S. 54.
[21] MSF-GazaSilentKillings-Full Report_ENG_April 2023.pdf
[22] Matthäus 28, 19.
[23] Jesuiten in Zentraleuropa
[24] Laiškai Lietuviams (laiskailietuviams.lt); mit google können die online gestellten Texte ins Deutsche übersetzt werden. Für freundlichen Hinweise danke ich dem Leiter für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit derr Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten e.V. Klaus Voßmeyer!
[25] Martin Maier: Pedro Arrupe – Zeuge und Prophet (= Ignatianische Impulse 24). Echter Verlag Würzburg 2007.
[26] Papst Franziskus: Für eine Wirtschaft, die nicht tötet. Wir brauchen und wir wollen Veränderung. Mit einer Einführung von Thomas Seiterich. Publik-Forum. Camino. Stuttgart 2015.
[27] Z. B. Pater Leppich spricht. 3x Satan. Bastion Verlag Düsseldorf 1. A. 1955, 3. A. 83–107. Tausend 1957.
[28] Max Pribilla S. J.: Die Verteidigung Europas. Stimmen der Zeit. Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart. 150. Band. Verlag Herder Freiburg 1951/1952, S. 81–95.
[29] SCHATTENBLICK – REZENSION/676: Gerhard Oberkofler – Friedensbewegung und Befreiungstheologie (SB)
[30] Z. B. Jon Sobrino: Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund (= Ignatianische Impulse 25) Echter Verlag Würzburg 2007.
[31] „Evangelii Gaudium“: Apostolisches Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (24. November 2013) | Franziskus (vatican.va)
[32] Die Papstpredigt in Kaunas im Wortlaut – Vatican News
[33] Papst zu Jesuiten im Baltikum: „Der Herr will einen Wandel in der Kirche“ – Vatican News
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Quelle: Zeitung der Arbeit