25. Dezember 2024

Wie uns das „Europäische Parlament“ Demokratie vorgaukeln will

Übernommen von Zeitung der Arbeit:

Das „Europäische Parlament“

Bald stehen die Wahlen zum „Europäischen Parlament“ an. Doch die Bezeichnung „europäisch“ ist irreführend, denn es soll nur die EU-Staaten repräsentieren und keineswegs, wie der Name suggeriert, ganz Europa. Ebenso ist es „im Grunde genommen kein richtiges Parlament“.[1] In liberalen Publikationen wird es zwar immer wieder gepriesen, beispielsweise als „einzig direkt gewählte[s] Organ der EU“ und als „demokratisches ‚Herzstück‘ der EU“.[2] Aber sogar der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag betrachtet das Europäische Parlament nur als ein Parlament „im übertragenen Sinne“, denn es habe nur eine eingeschränkte demokratische Legitimation, es gebe kein einheitliches, definierbares Staatsvolk als Basis der Legitimation und somit keine Wahlgleichheit. Es fehle der typische Gegensatz zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen und das Europäische Parlament sei nicht im Besitz der vollen Gesetzgebungskompetenz, unter anderem weil es kein unmittelbares Initiativrecht besitze.[3]

Der Aspekt des fehlenden Initiativrechts stößt auch innerhalb des Europäischen Parlaments auf Unverständnis. So wurde dort ein Bericht verfasst, der von der großen Mehrheit der Abgeordneten angenommen wurde. In diesem wird beschrieben, dass das Europäische Parlament die Kommission zwar auffordern kann, einen Gesetzesvorschlag vorzulegen, diese ist aber nicht verpflichtet, diesbezüglich aktiv zu werden. Ein direktes Initiativrecht steht dem Parlament nur in ganz wenigen Fällen zu, die sich auf seine eigene Zusammensetzung und seine Aufgaben beziehen. Neben diesen Beschränkungen konstatieren die Abgeordneten sogar, dass „der Rat und die Kommission die bereits ‚unzureichenden‘ indirekten legislativen Rechte des Parlaments und dessen begrenztes Initiativrecht behindert [haben].“ Beispielsweise blieb in den meisten Fällen eine angemessene Antwort der Kommission aus, wenn das Parlament einen Legislativantrag eingebracht hatte. Überdies habe der Europäische Rat die Gesetzgebungsrechte im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht ohnehin de facto übernommen.[4] Das Europäische Parlament erscheint in diesem Licht weniger als ein Ort, an dem Themen und politische Strategien ausgehandelt und entschieden werden, sondern vielmehr als ein „Arbeitsparlament“, das von Rat und Kommission vorgegebene politische Forderungen ausarbeitet und beschließt.

Es stellt sich nun die Frage, ob es sich hier um Defizite handelt, die mit einfachen Gesetzesänderungen behoben werden könnten, oder ob wir es mit einem strukturellen Problem zu tun haben. Um dies zu beurteilen, soll ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts dienlich sein:

„Das Europäische Parlament ist weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen. Es ist gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht gleichheitsgerecht gewählt und innerhalb des supranationalen Interessenausgleichs zwischen den Staaten nicht zu maßgeblichen politischen Leitentscheidungen berufen. Es kann deshalb auch nicht eine parlamentarische Regierung tragen und sich im Regierungs-Oppositions-Schema parteipolitisch so organisieren, dass eine Richtungsentscheidung europäischer Wähler politisch bestimmend zur Wirkung gelangen könnte.“ [5]

Was würde es aber nun bringen, die Befugnisse des Europäischen Parlaments zu stärken? Laut dem Bundesverfassungsgericht haben wir es mit einem „strukturellen, im Staatenverbund nicht auflösbaren Demokratiedefizit“ zu tun, denn „[d]urch den Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments kann die Lücke zwischen dem Umfang der Entscheidungsmacht der Unionsorgane und der demokratischen Wirkmacht der Bürger in den Mitgliedstaaten verringert, aber nicht geschlossen werden.“ [6]

Eine Richtungsentscheidung europäischer Wähler kann also über den Weg des Europäischen Parlaments nicht „politisch bestimmend zur Wirkung gelangen“. Mit dieser Erkenntnis ist es nun nicht überraschend, dass es eine sogenannte Politikverdrossenheit insbesondere für die Wahlen zum Europäischen Parlament gibt. Denn eine „Begeisterung für die europäische Demokratie“ wird die Bevölkerung wohl kaum ergreifen, wenn die eigenen politischen Forderungen keine Rolle zu spielen scheinen und wenn keinerlei Handlungsfähigkeit erfahren wird, anders gesagt, ein Einfluss auf die EU-Politik scheint sich nicht über den Wahlzettel verwirklichen zu lassen.[7] Es lassen sich zudem genügend weitere Beispiele finden, wo die Europäische Union an ihren vermeintlich eigenen Ansprüchen scheitert, an denen einer bürgerlichen Demokratie. Nachdem die EU aber ein Bündnis im Dienste des Kapitals und somit der Profitmaximierung ist, ist dies aber eben auch egal und man wird sich nicht wirklich bemühen etwas zu ändern, solange die Interessen der Herrschenden bedient werden.

Die Gewaltentrennung

In bürgerlich-demokratischen Staaten ist es eine übliche Praxis, die Legislative, Exekutive und Judikative formal und institutionell voneinander zu trennen. Damit soll Missbrauch von Macht durch einen Herrschaftsträger verhindert beziehungsweise minimiert werden. Laut Montesquieus Staatstheorie und gängiger Meinung entsteht, „indem die Herrschaftsorgane einander einschränken und kontrollieren, […] auch für die Bürger ein politischer Raum, in dem sie individuelle Entscheidungen treffen und auch abweichende Positionen vertreten können.“[8] Das Fehlen einer Gewaltentrennung wird daher, auch von bürgerlichen Kräften, oft kritisch bewertet und ist auch innerhalb der Strukturen der EU ein entscheidender Faktor, der oft zur Diagnose eines „Demokratiedefizits“ führt.

Die Judikative der Europäischen Union findet sich beim Europäischen Gerichtshof vereint, bei der Exekutivfunktion wird es allerdings komplizierter, da diese von Rat und Kommission wahrgenommen wird. Bei der Legislativfunktion scheinen alle Institutionen ihre Finger im Spiel zu haben, denn die „Entscheidung über Gesetzestexte ist zwischen Rat und Parlament geteilt, während die Kommission mit einem quasi Initiativmonopol für europäische Gesetzgebung ausgestattet ist. […] Auch für den Europäischen Gerichtshof wird häufig diskutiert, ob und inwieweit er durch seine Urteile gesetzgebende Wirkung erlangt.“ Die Politikwissenschaftlerinnen Miriam Hartlapp und Claudia Wiesner konstatieren: „Kurz, auf Ebene der EU finden wir keine Trennung, sondern eine extreme Form der Verschränkung der Gewalten.“ [9]

Die Europäische Bürgerinitiative

Neben den Wahlen zum Parlament wird von EU-Fans gerne ein weiteres „demokratisches Werkzeug zur Mitbestimmung“ vorgestellt. Die Europäische Bürgerinitiative soll es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, auf den Gesetzgebungsprozess einzuwirken. Dieses Mittel sei aber noch nicht besonders bekannt. Um es wirksamer zu machen, sei es sinnvoll, seine Existenz weiter zu verbreiten und auch in der Schule bekannt zu machen, heißt es seitens der EU.[10] Das Europäische Parlament schreibt dazu: „Sammeln Sie 1 Million Unterschriften und fordern Sie von der EU ein neues Gesetz. Klingt kompliziert? Ist es nicht.“

Nun ist der Themenbereich, zu dem man eine Bürgerinitiative einbringen kann, ein eingeschränkter, denn der Adressat ist die Europäische Kommission und somit kann sie nur Themenbereiche behandeln, die „in die Zuständigkeit der Europäischen Kommission fallen. So ist beispielsweise eine Änderung der EU-Verträge nicht zulässig. Und natürlich darf es sich auch nicht um unseriöse, missbräuchliche oder schikanöse Initiativen handeln.“[11] Dass diese Einschränkungen der Zuständigkeiten aber auch willkürlich angewandt werden, zeigt sich bei diversen Bürgerinitiativen, die in der Vergangenheit abgelehnt worden sind. Beispielsweise wurde der Bürgerinitiative gegen die geplanten Freihandelsabkommen der EU mit den USA und Kanada die Registrierung verweigert, weil vereinfacht gesagt argumentiert wurde, dass Initiativen „nur für und nicht gegen etwas sein dürfen.“[12]  Die Organisatorinnen und Organisatoren sammelten daraufhin auf eigene Faust dennoch mehr als drei Millionen Unterschriften für ihr Anliegen, welche aber von der EU kurzerhand als nicht legitim erachtet wurden.

Pablo Sánchez Centella, Mitarbeiter des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den öffentlichen Dienst, organisierte die Bürgerinitiative Wasser ist ein Menschenrecht mit und beurteilte die Situation trotz erfolgreich gesammelter Unterschriften als relativ negativ mit: „Die E[uropäisch]B[ürger] I[nitiative] ist eine Petition an den König. Und der kann damit machen, was er will.“  Tatsächlich muss die Kommission Bürgerinitiativen zwar beantworten, aber diese nicht dem Europäischen Parlament weiterleiten oder anderweitig in den Gesetzgebungsprozess einbinden.[13] Viele der Antworten auf Bürgerinitiativen wirken tatsächlich wie gutmütige Antworten auf Bittstellungen gegenüber einem absolutistischen Monarchen.. Die Anliegen der Personen werden gewürdigt, die Petition und die Forderungen an sich aber abgelehnt. [14]

Um eine Bürgerinitiative auf den Weg zu bringen, müssen einige Hürden bewältigt werden: 1.000.000 Unterschriften aus einer signifikanten Zahl von Mitgliedstaaten, Zwang zur Gründung eines Bürgerausschusses mit Mitgliedern aus sieben Mitgliedstaaten, die Personalausweisnummer muss in 18 von 27 Mitgliedstaaten angegeben werden.

Die Wirkmächtigkeit der Bürgerinitiativen ist nun auch tatsächlich in der Praxis sehr bescheiden. Auf der deutschen Wikipedia gibt es eine Auflistung aller bisher eingereichten Bürgerinitiativen. Diese ist nicht auf dem allerneusten Stand, aber nach einem kurzen Abgleich mit den offiziellen Angaben der Europäischen Union jedenfalls seriös.[15] Als der Artikel erstellt wurde, waren 54 Bürgerinitiativen eingereicht worden, deren Prozess bereits abgeschlossen war. 19 dieser Initiativen wurden bei der Registrierung bereits abgelehnt, bei 31 wurde die Sammlung abgebrochen oder die notwendigen eine Millionen Stimmen nicht erreicht. Lediglich drei der Bürgerinitiativen erreichten die notwendigen Unterschriften, wurden jedoch alle von den Institutionen der EU nicht umgesetzt. Bisher wurde keine einzige Bürgerinitiative umgesetzt oder wenigstens in abgeänderter Form umgesetzt.[16]

Jene Volksbegehren, die die erforderlichen Unterschriften erlangten, waren außerdem durchwegs solche, die eine Finanzierung von verschiedenen NGOs und Unternehmen mit Hunderttausenden Euro zurückgreifen konnten.[17] Schon das bezeugt, dass es sich bei den Bürgerinitiativen keineswegs um ein niederschwelliges demokratisches Element handelt, sondern viel mehr um eine Illusion, damit die Beherrschten sich etwas besser fühlen. Nur eine tatsächlich organisierte Arbeiterklasse kann in einem wirklichen Kampf um ihre Interessen, der sich nicht in einer Unterschrift erschöpft, nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel hervorbringen. Im Fall der EU-Bürgerinitiativen zeigt sich jedoch, wie leicht es sich die Herrschenden machen und etwas vorzugaukeln.

Vorgetäuschte Partizipationsmöglichkeiten

Diese Formen der „Partizipation“ sind somit in einem Politikverständnis zu verorten, das unabhängig von Inhalten nur darauf abzielt, dass die Bevölkerung „ihre demokratischen Rechte und Pflichten wahrnehmen soll“. Diese Herangehensweise folgt laut Wissenschaftler Hakan Gürses einer neoliberalen Linie, die Machtverhältnisse legitimiere und versuche, „ihre Konsequenzen erträglich zu machen.“[18] Dies ist insbesondere zu unterstreichen, wenn diese demokratischen Rechte und Pflichten nicht einmal ansatzweise in politische Wirkungen übersetzt werden. Eine für Demokratie notwendige Erfahrung der eigenen Wirkmächtigkeit scheint mit dem Instrument der Bürgerinitiative gering und politische Frustration vorprogrammiert. Ein wirkliche Alternative bietet nur der praktische Einsatz für die Interessen und die Erkenntnis, dass die EU als Bündnis der Banken und Konzerne nicht zu einer Sozialunion reformierbar ist. Sie ist kein Friedens‑, Umwelts- oder Demokratieprojekt, sondern wurde im Interesse des Kapitals gegründet und dient diesem. Grenzüberschreitende Ausbeutung und Profite, Militarisierung stehen stattdessen auf dem Programm der EU.

Die EU muss als Gesamtapparat zerschlagen werden

Die am 9. Juni 2024 in Österreich stattfindenen Wahlen zum „Europäischen Parlament“ sollen der Europäischen Union einen demokratischen Anschein geben. Doch in Wirklichkeit ist die EU ein imperialistisches Bündnis des europäischen Großkapitals. Sie ist ein Werkzeug, um die arbeitenden Menschen Europas besser unterdrücken und ausbeuten zu können, um die globale Profitgier der Banken und Konzerne zu befördern und um in Komplizenschaft mit den USA gegenüber dem Rest der Welt als militärischer Machtblock aufzutreten. Illusionen in eine Reformierbarkeit der EU in eine soziale, demokratische und pazifistische Richtung sind unbegründet. Ihr arbeiter- und volksfeindlicher Charakter ist fest einzementiert, ihre Institutionen sind antidemokratisch und asozial konstruiert. Deswegen fordert die Partei der Arbeit Österreichs „Die EU muss als Gesamtapparat zerschlagen werden. Daher steht die Partei der Arbeit für den Austritt Österreichs aus der EU, um demokratische Souveränitätsrechte zurückzuerlangen und den Klassenkampf gegen unseren Hauptfeind – das österreichische Kapital – zu verstärken.“


[1] Russ-Mohl, Stephan, Europa-Berichterstattung: „In internationalen Rechercheverbünden sehe ich eine große Chance“. Interview von Felix Fischaleck, in: Fachjournalist Onlinemagazin, 02.04.2019,

[https://www.fachjournalist.de/europa-berichterstattung-in-internationalen-rechercheverbuenden-sehe-ich-eine-grosse-chance/]

eingesehen 27.08.2023.

[2] Seiringer, Friederike, Wie funktioniert die EU?. Das Modell „EU-Basiswissen in Bausteinen“, Wien 2021

[3] Wikipedia, Parlament (Lexikoneintrag), [https://de.wikipedia.org/wiki/Parlament] eingesehen 27.08.2023.

[4] Europäisches Parlament, Zeit, dass das Parlament ein direktes legislatives Initiativrecht erhält (Pressemitteilung), 09.06.2022,

[https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220603IPR32135/zeit-dass-das-parlament-ein-direktes-legislatives-initiativrecht-erhalt]

eingesehen 27.08.2023.

[5] Bundesverfassungsgericht, Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit Grundgesetz vereinbar, Urteil vom 30. Juni 2009,

[https://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg09-072.html]

eingesehen 10.07.2023.

[6] Ebda.

[7] Edelstein, Wolfgang, Demokratie als Praxis und Demokratie als Wert, in: Praxisbuch Demokratiepädagogik, hrsg. v. Wolfgang Edelstein/Susanne Frank/Anne Sliwka, S. 7–19, Weinheim 2009. S. 9–11.

[8] Hartlapp, Miriam/Wiesner, Claudia, Gewaltenteilung und Demokratie im EU-Mehrebenensystem, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, (Vol. 26, No. 1), S. 3–16, Wiesbaden 2016, S. 3.

[9] Ebda., S. 8.

[10] European Union Studies, Basispräsentation Tag 1, S. 61.

[11] Europäisches Parlament, Europäische Bürgerinitiative,

[https://www.europarl.europa.eu/pdf/citizensinitiative/procedure_de.pdf]

eingesehen 28.08.2023.

[12] Sander, Matthias, Demokratie-Aktivisten verklagen die EU, in: Neue Züricher Zeitung, 19.11.2014,

[https://www.nzz.ch/international/europa/eu-hadert-mit-demokratisierung-ld.1025493]

eingesehen 03.07.2023.

[13] Ebda.

[14] Europäische Union, Website Europäische Bürgerinitiative, [https://europa.eu/citizens-initiative/find-initiative_de] eingesehen 28.08.2023.

[15] Europäische Union, Website Europäische Bürgerinitiative.

[16] Wikipedia, Liste der europäischen Bürgerinitiativen (Lexikoneintrag),

[https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_europischen_Bürgerinitiativen]

eingesehen 28.08.2023.

[17] Europäische Union, Website Europäische Bürgerinitiative.

[18] Aiterwegmair, Hakan Gürses über Politische Bildung.

The post Wie uns das „Europäische Parlament“ Demokratie vorgaukeln will appeared first on Zeitung der Arbeit.

Quelle: Zeitung der Arbeit

EuropaZeitung der Arbeit