Eine Klassenfrage
Übernommen von Unsere Zeit:
Seit Jahren wird von Seiten der Wirtschaft über den realen und vermeintlichen Fachkräftemangel geklagt. Als Schuldige für die Misere mussten lange Zeit die „nicht ausbildungsreifen Jugendlichen“ herhalten. Inzwischen hat man den demographischen Wandel als zentrale Ursache dafür ausgemacht, wenn es an Arbeitskräften fehlt. In der Konsequenz brauche es längere Arbeitszeiten. Geht es nach Gesamtmetall, soll zukünftig erst ab dem 70. Lebensjahr in Rente gegangen werden. Auch die Ampel-Regierung will, dass die Menschen länger arbeiten. Mit finanziellen Anreizen sollen Beschäftigte dazu bewegt werden, über das eigentliche Renteneintrittsalter hinaus zu schuften. Dass nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes längst über eine Million Rentner weiterhin ihre Arbeitskraft verkaufen, um so ihre Armutsrenten aufzubessern, wird verschwiegen.
Logische Schritte, wenn Fachkräfte fehlen und so den Unternehmen das variable Kapital ausgeht, wären zum einen, mehr junge Menschen auszubilden, und zum anderen, Arbeitsplätze attraktiver zu gestalten. Doch die Realität ist ernüchternd. Die Zahl der Ausbildungsbetriebe ist seit Jahren rückläufig. Gerade einmal 19,1 Prozent der Betriebe in Deutschland bilden noch aus. Folge ist, dass laut dem jüngsten Ausbildungsbericht der Bundesregierung 2,64 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss sind. Auch um die Arbeitsbedingungen in den sogenannten Mangelberufen ist es häufig schlecht bestellt. Der jüngste DGB Index „Fachkräfte: Gute Arbeit“ analysiert zutreffend, dass hohe Arbeitsbelastungen und niedrige Einkommen für viele Beschäftigte gute Gründe sind, den Job zu wechseln oder bestimmte Berufe gar nicht erst zu ergreifen.
Angesichts dieser Fakten kommt die Studie zu dem Schluss, dass die Sicherung und Gewinnung von Fachkräften nur dann nachhaltig erfolgreich sein werden, wenn in den betroffenen Tätigkeitsfeldern gute Arbeitsbedingungen vorherrschen. Für die Protagonisten aus Wirtschaft und Politik ist dies jedoch keine Option. Schließlich sind die schlecht bezahlten und krank machenden Jobs für Jugendliche aus der Arbeiterklasse vorgesehen. Dem eigenen Nachwuchs wird der Weg nach dem Besuch von Privatschule und Eliteuniversität über „gute Kontakte“ ins gehobene Management geebnet.
Quelle: Unsere Zeit