21. Dezember 2024

Krieg in Jugoslawien: Mut zur weißen Fahne

Übernommen von: Schweizerische Friedensbewegung

Mit einer Verhandlungslösung wurde am 10. Juni 1999 der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO beendet. Nach 78 Tagen NATO-Bombardement auf Städte und Dörfer, auf Brücken und Betriebe, Schulen und Krankenhäuser, auf Stromversorgung und Wasserwerke hisst Belgrad im Juni 1999 die weisse Fahne. Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević stimmt der Teilbesetzung seines Landes durch NATO-Truppen zu, um die totale Zerstörung zu verhindern.

Von Rüdiger Göbel

Nach 78 Tagen NATO-Bombardement auf Städte und Dörfer, auf Brücken und Betriebe, Schulen und Krankenhäuser, auf Stromversorgung und Wasserwerke hisst Belgrad im Juni 1999 die weisse Fahne. Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević stimmt der Teilbesetzung seines Landes durch NATO-Truppen zu, um die totale Zerstörung zu verhindern. Er macht das, was Papst Franziskus ein Vierteljahrhundert später dem ukrainischen Regierungschef Wolodimir Selenskij rät und wofür er vom kollektiven Westen gegeisselt wird. Milošević stimmt im Angesicht der militärischen Übermacht des NATO-Imperiums einer schmerzlichen Verhandlungslösung zu, was sein Kiewer Pendant mit Zuspruch und Waffenhilfe eben jener Kriegsallianz heute verweigert. In einem am 20. März 2024 ausgestrahlten Interview mit dem italienischsprachigen Schweizer Rundfunk RSI sagte der Papst mit Blick auf die Ukraine wie auf den Nahen Osten: «Aber ich denke, dass der stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt und den Mut hat, die weisse Flagge zu schwenken und zu verhandeln. Und heute kann man mit Hilfe der internationalen Mächte verhandeln. Das Wort ›verhandeln‹ ist ein mutiges Wort. Wenn du siehst, dass du besiegt wirst, dass die Dinge nicht gut laufen, habe den Mut, zu verhandeln. Du schämst dich, aber wenn du so weitermachst, wie viele Tote wird es dann geben? Verhandele rechtzeitig, suche ein Land, das vermittelt. (…) Schämt euch nicht, zu verhandeln, bevor es noch schlimmer wird», so der Appell des Kirchenoberhauptes. «Verhandlungen sind nie eine Kapitulation. Es ist der Mut, das Land nicht in den Selbstmord zu treiben», betonte Franziskus.

Weg aus dem Krieg

Den Weg aus dem völkerrechtswidrigen NATO-Krieg 1999 eröffnen das Belgrader Parlament und die Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien, als sie am 3. Juni 1999 dem von der Europäischen Union und Russland vorgelegten und vom russischen Gesandten Viktor Tschernomyrdin und vom finnischen EU-Vermittler Martti Ahtisaari überbrachten Friedensplan zustimmen. Am 9. Juni verständigen sich der Aggressor NATO und das angegriffene Jugoslawien bei Militärverhandlungen auf dem französischen NATO-Stützpunkt im nordmazedonischen Kumanovo auf einen vollständigen Abzug der jugoslawischen Truppen und der serbischen Polizei aus der südserbischen Provinz Kosovo sowie das Einrücken und die Stationierung einer NATO-geführten Besatzungstruppe (Kfor) unter UN-Mandat. Am 10. Juni verkündet NATO-Generalsekretär Javier Solana die Einstellung der Luftangriffe – damit endet nach 78 Tagen und Nächten der erste völkerrechtswidrige Aggressionskrieg der NATO auf europäischem Boden. In New York verabschiedet der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch am selben Tag mit 14 Stimmen die Resolution 1244, die sowohl den Friedensplan wie auch das militärische Abkommen billigt. Die UN-Vetomacht China, deren Botschaft in Belgrad am 7. Mai 1999 von der NATO bombardiert worden war, enthält sich.

Präsident Milošević hatte seine Landsleute am 8. Juni in einer von den Rundfunk- und TV-Stationen übertragen Ansprache auf das nahende Kriegsende und eine Verhandlungslösung eingestimmt, die in Beschränkungen der staatlichen und territorialen Souveränität münden werde. «Liebe Bürger, die Aggression ist vorbei. Der Frieden hat über die Gewalt gesiegt», beginnt Jugoslawiens Staatschef und erinnert im Folgenden an die Leistung der Bürgerinnen und Bürger bei der Verteidigung des elf Wochen lang bombardierten Landes. Die ersten Gedanken sollten «bei den Helden sein, die ihr Leben für die Verteidigung des Landes, im Kampf für die Freiheit und die Würde des Volkes gegeben haben». Das ganze Volk habe an diesem Krieg teilgenommen, erinnert Milošević an die unzähligen zivilgesellschaftlichen Antikriegsaktivitäten unter NATO-Bombardement. «Der Mut jener, die Brücken mit ihren Leben verteidigt haben, jener Bürger, die Fabriken, öffentliche Plätze, ihre Städte, ihre Möglichkeiten zur Berufsausübung, ihren Staat, ihr Volk verteidigt haben, soll niemals vergessen werden.»

Die Gruppe der acht wichtigsten Industriestaaten der Welt – damals war Russland vom US-geführten Westen noch nicht ausgemeindet – sowie die Vereinten Nationen garantierten «die Souveränität und territoriale Integrität unseres Landes», führt Milošević den gerade abgesegneten Kosovoplan aus. Tatsächlich hat Belgrad dem G-8-Abkommen zugestimmt und nicht die NATO-Bedingungen einer totalen Kapitulation angenommen, wie sie im Rambouillet-Diktat vor dem Krieg angelegt war. «Die Stationierung internationaler Truppen im Kosovo mit der Aufgabe, die Sicherheit aller Bürger gleichermassen zu garantieren, wird unter der Schirmherrschaft der UN stattfinden, ebenso wie der politische Prozess (…).» Jugoslawien habe nicht nur sich verteidigt, sondern auch die Rückkehr der UNO auf die internationale Bühne erwirkt, auf der sie seit Beginn der Aggression abwesend gewesen sei. «Das ist unser Beitrag zu den Anstrengungen der gesamten friedliebenden Welt, das ist unser Beitrag zur Schaffung einer multipolaren Welt anstelle einer Welt, die unter dem Diktat eines mächtigen Zentrums steht.»

Die Aggression habe das Land zusammengeführt, so der Präsident. «Nie zuvor in der Geschichte war unser Volk so einig wie in diesem Krieg und nie zuvor gab es weniger Feiglinge, die aus dem Lande flohen, um in Sicherheit das Ende des Krieges abzuwarten.» Das Gefühl der Gemeinsamkeit will er für die Zukunft bewahren, indem er Verantwortung für die Kriegsversehrten sowie kollektive Bemühungen für den Wiederaufbau anmahnt. «In diesem Moment sind wir mit einer Menge neuer Probleme konfrontiert, die uns neue Anstrengungen abfordern. Wir müssen vor allem Fürsorge übernehmen für die Familien der Getöteten, für die Verwundeten, für jene, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können, aber auch unser Augenmerk auf all die Arbeiter, Bauern und Selbständigen lenken, denen dieser Krieg Schaden zugefügt hat und denen mit dem Nötigsten geholfen werden muss. Wir stehen vor dem Wiederaufbau des Landes. Wir werden sofort damit anfangen, unsere Brücken, unsere Strassen und Fabriken wieder aufzubauen und eine Entwicklung wiederzubeleben, die die Fähigkeiten und Vitalität unseres Volkes, unserer Bürger, unseres Staates und seiner gesamten Bevölkerung zum Ausdruck bringen wird.» Die Bürger Jugoslawiens und alle Nationalitäten «haben die multinationale Gemeinschaft erfolgreich verteidigt, die einzige multinationale Gemeinschaft, die aus dem früheren Jugoslawien übriggeblieben ist», so Milošević weiter. «Ich halte auch dies für eine der grossen Leistungen unserer Verteidigung.»

Serbischer Exodus

Milošević endet mit knappem Verweis auf die kommenden Besatzer, ohne sie als solche zu benennen oder erkennen zu wollen. «Die Truppen, die ins Kosovo kommen werden, werden dem Frieden dienen, egal aus welchem Land sie kommen. Die Armee befolgt stets Befehle, und die Befehle hier lauten, die Bürger zu schützen und den Frieden zu erhalten.» Man weiss nicht, ob der jugoslawische Präsident hier wirklich den westlichen Garantien glaubte oder gute Miene zum bösen Spiel machte im Wissen, mit dem Einzug von Okkupationstruppen in einem Teil des staatlichen Territoriums Schlimmeres abzuwenden: die weitere systematische militärische Zerstörung des gesamten Landes durch NATO-Bombardement. Ebendies hatte der Militärpakt zuletzt angedroht. Die NATO und die albanischen Gewaltseparatisten der UÇK jedenfalls halten sich nicht an diese Maxime. Mit Beginn des NATO-Einmarsches im Kosovo beginnt der grosse serbische Exodus. Zehntausende Serben sind bis heute, 25 Jahre später, aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, NATO-Truppen nach einem Vierteljahrhundert im Kosovo noch immer stationiert. Die Provinz hat sich zwischenzeitlich einseitig zum Staat erklärt, der Mitglied der EU und NATO werden will.

Dabei war das vom jugoslawischen General Svetozar Marjanović, vom Polizeigeneral Obrad Stevanović und vom britischen General Michael Jackson am 9. Juni in Kumanovo unterzeichnete Militärabkommen eigentlich eindeutig. Zu den wichtigsten Bestimmungen gehörten: die Einstellung der Feindseligkeiten zwischen den NATO-Truppen mit der jugoslawischen Armee und der serbischen Polizei; der Rückzug der jugoslawischen Armee und der serbischen Polizei aus dem Kosovo im Zeitraum von elf Tagen; die Gründung einer Sicherheitszone von der administrativen Grenze zur Provinz Kosovo innerhalb der Republik Serbien und Montenegro, die beide die Bundesrepublik Jugoslawien bildeten sowie die Verpflichtung der Kfor-Truppen zur Entwaffnung der sogenannten Kosovobefreiungsarmee UÇK.

Die Stationierung der Besatzungstruppen wird in der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats (UNSCR 1244) geregelt. Die Entschliessung vom 10. Juni 1999 bildet darüber hinaus die völkerrechtliche Grundlage für die Einrichtung einer zivilen Mission zur Übergangsverwaltung unter dem Dach der Vereinten Nationen (UNMIK). Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien werden in der Einleitung der Resolution ausdrücklich betont, ausserdem in den beiden Anlagen. Im unmittelbar rechtsverbindlichen Teil bleibt es dagegen vage, der endgültige Status des Kosovos wird offengelassen und zeitlich nicht umrissen. Klar ist aber, dass eine Einigung einvernehmlich erfolgt.

Kaum ist am späten Abend des 9. Juni 1999 in Kumanovo das Kosovoabkommen über den Abzug der jugoslawischen Streitkräfte und den Einmarsch internationaler Truppen unterzeichnet, feiern in Belgrad und anderen jugoslawischen Städten die Menschen das «Ende der NATO-Aggression». Das NATO-Wording von «humanitärer Intervention» zum «Schutz der Menschenrechte» im Kosovo verfängt nur im Westen, nicht bei den Angegriffenen, nicht bei den vielen Verbündeten im globalen Süden, den Partnern Jugoslawiens in der einstigen Blockfreienbewegung. Autohupen und Feuerwerkskörper sind zu hören, die jugoslawische Luftabwehr feuert aus allen Rohren, das erste Mal seit elf Wochen nicht auf feindliche Kampfjets. Im Kosovo packen die ersten Serben ihr Hab und Gut zusammen, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Anders als ihr Präsident in seiner Ansprache geben sie nichts auf die Sicherheitszusagen der NATO. Wie richtig sie damit liegen, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen.

Wettlauf nach Pristina

Erste russische Einheiten der sogenannten Kosovosicherungstruppe Kfor treffen am 11. Juni in Jugoslawien ein. Die Soldaten, die zuvor zu den SFOR-Truppen in Bosnien gehört haben, sollen russischen Angaben zufolge an der Verwaltungsgrenze zum Kosovo haltmachen, bis ihre genaue Rolle geklärt ist. Dabei soll es nicht bleiben.

Nach Verabschiedung der Kosovoresolution 1244 im UN-Sicherheitsrat gibt NATO-Generalsekretär Javier Solana den Einsatzbefehl für die NATO-Bestandteile in der Kfor. Auch 8.500 Soldaten der Bundeswehr gehören dazu. Medienwirksam überfliegen am 12. Juni kurz vor halb sechs Uhr morgens die ersten britischen Militärhubschrauber von Mazedonien aus die Grenze zum Kosovo. Französische und britische Bodentruppen mit schwerem Militärgerät folgen, später auch deutsche Einheiten. Die Operation «Joint Guardian» (Gemeinsamer Wächter), die allmähliche Besetzung der südserbischen Provinz mit 50.000 Soldaten, nimmt offiziell ihren Anfang.

Mehrere hundert russische Fallschirmjäger stehlen den NATO-Verbänden zunächst die Show. Sie rücken vom Stützpunkt Ugljevik im benachbarten Bosnien-Herzegowina ohne Abstimmung mit der westlichen Kriegsallianz bereits Stunden zuvor über Serbien mit Panzern und Lkw in Pristina ein. Wie Helden werden sie von Tausenden Einwohnern der Provinzhauptstadt begeistert empfangen. Die russischen Verbände nehmen Kurs auf den 20 Kilometer entfernt gelegenen Flughafen Slatina und bringen ihn kurzerhand unter ihre Kontrolle. Der britische General Michael Jackson, Oberkommandierender der NATO im Kosovo, hat dort eigentlich sein Befehlszentrum aufbauen wollen.

Russische Militärs erklären, der Alleingang sei nötig gewesen, weil ihre Soldaten sonst überhaupt nicht bis nach Pristina gekommen wären und keinen eigenen Sektor in der Provinz erhalten hätten. Insbesondere bei der serbischen Bevölkerung im Kosovo schaffen die russischen Verbände Vertrauen. Ihr unverhofftes Vorrücken scheint erst einmal die Fluchtbewegung von Serben zu stoppen.

Als der US-amerikanische NATO-Kommandeur Wesley Clark vom Moskauer Militärcoup hört, ordnet er eine Luftlandeoperation an. Die russischen Truppen sollen behindert werden, notfalls mit militärischer Gewalt. Sein Untergebener, der Brite Jackson, verhindert Schlimmeres. Mit den Worten «Ich werde für Sie nicht den dritten Weltkrieg beginnen» verweigert er den Befehl. Gegenüber der britischen Regierung bekräftigt Jackson, er wolle lieber zurücktreten, als auf die Russen zu feuern. London erwirkt schliesslich die Rücknahme des US-Angriffsbefehls. Kein Jahr später, im April 2000, wird Jackson vom Vorsitzenden der US-Oberkommandierenden von seiner Position entlassen.

Nach Angaben von Generaloberst Leonid Grigorjewitsch Iwaschow, der die russischen Fallschirmjäger bei der Aktion befehligte, bestand zwischen seinen Truppen und der jugoslawischen Armee eine Unterstützungsabmachung. Im Interview mit der serbischen Zeitung Politika erinnerte sich der russische Militär am 11. November 2012: «Wissen Sie, es ist eine Sache, Serbien ungestraft und gegen das Völkerrecht zu bombardieren, gegen Serbien Krieg zu führen, und eine andere Sache ist, gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Wir hatten eine Vereinbarung mit der jugoslawischen Armee: Für den Fall, dass die NATO die russischen Fallschirmjäger gewaltsam angreift, würde die jugoslawische Armee zusammen mit unseren Soldaten den Kampf mit den NATO-Truppen im Kosovo akzeptieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte die jugoslawische Armee noch nicht einmal mit dem Rückzug aus dem Kosovo begonnen, sie war praktisch unangetastet auf dem Schlachtfeld, während die NATO-Truppen gerade in den Kosovo einmarschierten. Die NATO wusste all das, und deshalb wollte der britische General Jackson keine Konfrontation mit russischen Fallschirmjägern anordnen. Ein deutscher General fragte mich dann, wozu ein solcher Vorfall führen könnte. Ich sagte ihm: Wenn Sie die russische Armee angreifen, dann werden Sie sich darauf vorbereiten, Brüssel zu verteidigen.» In Verhandlungen schliesslich räumte die NATO Russland die Teilnahme an der Kfor in vier von fünf Sektoren zu, verweigerte Moskau jedoch einen eigenen.

Die UÇK übernimmt

Die organisierte kollektive Vertreibung von Serben und Roma in den folgenden Wochen konnten auch russische Truppen nicht verhindern. Der Einmarsch der NATO-Truppen im Kosovo verläuft «nach Plan», lässt der Sprecher der Kriegsallianz, Jamie «Kollateralschaden» Shea wissen. In der Stadt Prizren im Zentrum der deutschen Besatzungszone haben schon wenige Tage nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte mehr als 300 UÇK-Kämpfer unter Duldung der Bundeswehr die Kontrolle über den Busbahnhof und mehrere Stadtviertel übernommen. Wie AFP meldet, durchsuchen sie Häuser und Fahrzeuge serbischer Zivilisten. «Harte Zeiten für die Serben, die bislang hier das Sagen hatten», so die Agentur. Als Erkennungszeichen tragen die albanischen Gewaltseparatisten gelbe Armbinden, ganz offensichtlich mit Zustimmung der NATO-Besatzer. «Die Arbeitsteilung funktioniert», meldet der französische Korrespondent.

Auch in anderen Teilen der südserbischen Provinz fassen die UÇK-Männer mit dem Vorrücken der NATO immer fester Fuss. Täglich gibt es Meldungen über Serben, die von UÇK-Angehörigen gefoltert oder getötet worden sind. Häuser von Serben werden markiert und angezündet. In den noch kokelnden Ruinen machen UÇK-Kämpfer ihre Besitzansprüche geltend. Der Terror der NATO-Partner richtet sich auch gegen Albaner, die sie für «Kollaborateure» und «Landesverräter» halten. Die «Befreiungsarmee» stellt auch klar, dass sie sich nicht entwaffnen lässt, wie es das vereinbarte Kosovoabkommen eigentlich vorsieht. Ihr Kommandeur Hashim Thaçi behauptet, seine Organisation werde von dem Passus nicht erfasst, in dem die Entmilitarisierung aller militärischen und paramilitärischen Kräfte vorgeschrieben ist. Die NATO ist nicht gewillt, sich durchzusetzen. Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes sind bereits in den ersten Tagen der NATO-Besatzung mehr als 40.000 Serben geflohen. Der gewaltsam erzwungene Exodus der Serben dauert die folgenden Sommerwochen an. Vergeblich fordert die jugoslawische Regierung die NATO-geführten Kfor-Truppen im Kosovo auf, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, die serbische Bevölkerung vor Angriffen zu schützen und gegen das Wüten der UÇK-Banden vorzugehen. Der NATO kommt die ethnische Säuberung allerdings zupass. Bei den Besatzern scheint die Maxime zu gelten, je weniger Serben am Ende im Okkupationsgebiet verbleiben, desto weniger Probleme wird es langfristig dort für die eigenen Soldaten geben. Am Ende sind Städte wie Pristina und Prizren serbenfrei. Frieden hat die NATO dem Kosovo mithin nicht gebracht.

Am 24. Juni hebt das Parlament in Belgrad nach drei Monaten den Kriegszustand auf. Jugoslawien will wieder in die UNO aufgenommen werden. Die Regierung ergreife Massnahmen, um die Beziehungen zu den USA und der Europäischen Union zu verbessern, erläutert Ministerpräsident Momir Bulatović vor den Abgeordneten. Dieser Prozess werde weder schnell gehen noch einfach sein, weil die NATO-Staaten mit ihrer Aggression ein Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit begangen hätten. Die Führung in Belgrad hatte die Beziehungen zu den Völkerrechtsbrechern USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland am 27. März, drei Tage nach Kriegsbeginn, abgebrochen. Bulatović fordert zugleich, dass die Verantwortlichen für die NATO-Luftangriffe zur Rechenschaft gezogen und die Wirtschaftssanktionen gegen Jugoslawien aufgehoben werden. Sein Land müsse Reparationszahlungen erhalten. Nichts davon wird sich realisieren lassen.

Die britische Times veröffentlicht eine Kriegsbilanz der besonderen Art: Die NATO hat demnach während des elfwöchigen Luftkrieges nur 13 jugoslawische Panzer getroffen. Dagegen sei «eine grosse Zahl» von Panzer- und Artilleriegeschützattrappen gefunden worden, ebenso wie Nachbildungen von Brücken. Weitere Kriegslist: Die Serben haben schwarze Plastikfolien über Felder gelegt, um Strassen vorzutäuschen oder Autoreifen angezündet, um mit dem schwarzen Rauch den NATO-Kampfjets die Sicht zu nehmen. Beim Abzug der serbischen Einheiten aus dem Kosovo waren laut Times mindestens 250 Panzer, 450 gepanzerte Truppentransporter sowie 600 Artilleriegeschütze und Mörser gezählt worden. Die NATO hatte grossspurig erklärt, sie habe aus jeder Kategorie Hunderte zerstört oder beschädigt.

Bilanz des Schreckens

Die brutalen Folgen des «Nichtkrieges» der NATO für die Bevölkerung hat das Aussenministerium Jugoslawiens akribisch zusammengestellt und bereits im Juli 1999 vorgestellt. Rund 1.000 Seiten umfasst die zweibändige Dokumentation «NATO Crimes in Yugoslavia. Documentary Evidence» für die Zeit vom 24. März bis 10. Juni 1999. Es ist eine Bilanz des Schreckens, die Grausamkeit des Krieges akribisch zusammengetragen. Tausende Frauen, Männer und Kinder wurden von der NATO getötet oder verstümmelt. Die Bilder von ihnen sind kaum auszuhalten. Grosse Teile der Infrastruktur und der industriellen Basis des Landes, darunter 23 Raffinerien und Chemieanlagen sowie mehr als 100 weitere Industriebetriebe, 19 Bahnhöfe, 13 Flughäfen und 60 Brücken wurden zerstört. 480 Schulgebäude, Dutzende Krankenhäuser und Geburtskliniken, 365 Klöster, Kirchen, Kultur- und historische Gedenkstätten, darunter das antifaschistische Denkmal in Kragujevac, das an den Massenmord der Wehrmacht erinnert, wurden schwer beschädigt oder gleich ganz zertrümmert. Der Einsatz von panzerbrechender Munition aus abgereichertem Uran (DU) vergiftet die Umwelt bis heute. «Die dem Land in zweieinhalb Monaten zugefügten materiellen Verluste übersteigen den Schaden, den Jugoslawien in den vier Jahren des Zweiten Weltkrieges erlitt, um ein Vielfaches», bilanziert der Publizist Ralph Hartmann, der von 1982 bis 1988 Botschafter der DDR in Jugoslawien war und dem Land wie seiner Bevölkerung bis zu seinem Tod im Oktober 2020 eng verbunden blieb, in der Zweiwochenzeitschrift Ossietzky 2002. Die Verantwortlichen sind bis heute straffrei geblieben.

25 Jahre nach Kriegsende soll die Bundeswehr für weitere zwölf Monate an den NATO-geführten Kfor-Truppen im Kosovo beteiligt bleiben. So will es der Antrag der Ampelregierung vom 29. Mai 2024, über den in der vergangenen Woche im Bundestag beraten wurde (Drucksache 20/11565). Kosten: 21,8 Millionen Euro. Als neuen Begründungszusammenhang führt die Bundesregierung unter anderem an: «Insbesondere seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukrai­ne zielt das Engagement Deutschlands, der EU und der NATO auch darauf, die Resilienz der Länder der Region gegen hybride Destabilisierungsversuche Dritter zu stärken.» Ein Programm zur Rückführung der 200.000 vertriebenen Serben und Roma haben Bundeswehr und NATO bis heute nicht entwickelt.

Quelle: junge Welt

Quelle: Schweizerische Friedensbewegung

SerbienSFB