Syrien: Tausende Jesid*innen gefangen oder vermisst
Übernommen von Amnesty International:
Jesid*innen in Syrien sind auch zehn Jahre nach dem Angriff des Islamischen Staates weiter schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Viele sind vermutlich in Gefängnissen und Lagern der Autonomiebehörden der Region Nord- und Ostsyrien inhaftiert – auf unbestimmte Zeit.
Tausende Jesid*innen, die die Gräueltaten des Islamischen Staats (IS) überlebten, sind noch immer vermisst. Hunderte sind sehr wahrscheinlich im Nordosten Syriens inhaftiert, so Amnesty International anlässlich des bevorstehenden zehnten Jahrestags des Angriffs des IS auf die jesidische Gemeinschaft im Irak.
Nach Angaben des Büros für entführte Jesid*innen in Dohuk werden schätzungsweise 2.600 Jesid*innen vermisst. Ein großer Teil soll sich nach der Entführung durch den IS im Nordosten Syriens befinden. Organisationen und Aktivist*innen, die sich für die Rechte von Jesid*innen einsetzen, gehen davon aus, dass viele in einem ausgedehnten Gefängnissystem festgehalten werden, das im Nordosten Syriens für Menschen mit mutmaßlichen Verbindungen zum IS geschaffen wurde. Dieses System betreiben die Autonomiebehörden der Region Nord- und Ostsyrien (Autonomiebehörden) mit Unterstützung der Militärkoalition gegen den IS unter der Führung der USA.
Lebensbedrohliche Bedingungen in Hafteinrichtungen
Ruth Jüttner, Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland, sagt: „Der IS hat den Jesid*innen unvorstellbares Leid zugefügt. Zehn Jahre nach dem Völkermord durch den IS brauchen die Jesid*innen in Deutschland keine warmen Worte, sondern handfeste Unterstützung. Dazu gehört ein bundesweiter Abschiebungsstopp für Jesid*innen in den Irak. Auch heute noch sind viele Jesid*innen im Nordosten Syriens unter lebensbedrohlichen Bedingungen auf unbestimmte Zeit inhaftiert. Die internationale Gemeinschaft darf Aktivist*innen und Angehörige bei der Suche nach Vermissten nicht alleine lassen. Die Opfer des IS sind nicht vergessen. Sie müssen sofort freikommen und Hilfe erhalten.“
Missbrauch durch Mitglieder des Islamischen Staates
Hunderte jesidischer Frauen und Kinder sollen sich im Gefangenenlager Al-Hol befinden. Einige sind bis heute gefangen, versklavt und Missbrauch durch Mitglieder des Islamischen Staates ausgesetzt. Eine unbekannte Zahl jesidischer Jungen und junger Männer, die als Minderjährige entführt wurden, sollen sich ebenfalls in einem Netz aus mindestens 27 Hafteinrichtungen befinden. Einigen hat der IS erzählt, dass ihre Familien ihnen etwas antun würden oder dass alle Angehörigen der jesidischen Gemeinschaft getötet wurden. Viele waren bei ihrer Entführung noch zu jung, um sich daran erinnern zu können, dass sie Jesid*innen sind.
Systematische Folter und andere Misshandlungen
Amnesty International hat in den Hafteinrichtungen im Nordosten Syriens systematische Folter oder andere Misshandlungen dokumentiert. In mindestens zwei Einrichtungen sind Hunderte Männer und Jungen infolge von Folter und unmenschlichen Bedingungen gestorben. Im Lager Al-Hol halten die Autonomiebehörden Menschen völkerrechtswidrig ohne Anklage und Verfahren fest, auf unbestimmte Zeit, meistens länger als fünf Jahre. Die Autonomiebehörden teilten Amnesty International mit, sie hätten Al-Hol nicht vollständig unter ihrer Kontrolle, der Islamische Staat habe sich in dem Lager neu formiert.
Mütter werden von ihren Kindern getrennt
Viele der in Al-Hol verbliebenen jesidischen Frauen und Mädchen haben infolge der sexualisierten Gewalt durch Angehörige des Islamischen Staats Kinder bekommen. Einige fürchten aus gutem Grund, sie könnten gewaltsam von ihren Kindern getrennt werden, sobald sie identifiziert und in ihre Heimat zurückgebracht werden. 2020 hat Amnesty International dokumentiert, dass jesidische Frauen nach ihrer Identifizierung in Al-Hol systematisch von ihren Kindern getrennt wurden.
Die Autonomiebehörden und der Irak müssen dafür sorgen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen Zugang zu Hafteinrichtungen und -lagern erhalten. Staaten sollten alle menschenrechtskonformen Initiativen zur Identifizierung vermisster Jesid*innen unterstützen. Außerdem sollten UN-Organisationen ihren Einsatz für vermisste Jesid*innen erheblich verstärken. DNA-Tests können dabei helfen, Jesid*innen oder Angehörige anderer Minderheiten, die als Kinder entführt wurden, zu identifizieren. Schließlich müssen die irakischen Behörden mehr Unterstützung für die Zurückkehrenden bereitstellen, dazu gehören gemäß des Gesetzes für jesidische Überlebende auch Entschädigungen.
Hintergrund
Im August 2014 startete der IS einen bewaffneten Angriff auf die jesidische Gemeinschaft im Irak, der von den Vereinten Nationen als Völkermord anerkannt wurde. Mehr als 3.000 Erwachsene und Kinder wurden rechtswidrig getötet. Mindestens 6.800 Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, wurden entführt. Der IS verübte massenhaft Gräueltaten gegen Jesid*innen, setzte Frauen und Mädchen sexualisierter Versklavung aus und zwang Jungen, als Kindersoldaten zu kämpfen.
Quelle: Amnesty International