Totalverweigerer
Übernommen von Unsere Zeit:
Mit Ideen wie der „Flexi-Rente“ oder der „Sozialstaatsbremse“ machte der Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann auf sich aufmerksam, bevor er im vergangenen Jahr zum CDU-Generalsekretär geweiht wurde. Nun setzt er seinen Feldzug gegen Alte und Arme auf der ganz großen Bühne fort. In einem Interview mit der Funke-Mediengruppe forderte Linnemann, mehr als 100.000 Menschen das Bürgergeld zu streichen.
„Die Statistik legt nahe, dass eine sechsstellige Zahl von Personen grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen“, log Linnemann fröhlich vor sich hin. Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit weisen in eine andere Richtung: In 14.000 Fällen wurden im vergangenen Jahr Menschen sanktioniert, weil ihnen vorgeworfen wurde, die „Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses“ zu verweigern. Wer die Sanktionspraxis in den Jobcentern kennt, ahnt: Die Zahl der „Totalverweigerer“ dürfte verschwindend gering sein.
Doch solche offensichtlichen Unstimmigkeiten hielten die großen Medien nicht davon ab, Linnemanns Märchen durch alle Kanäle zu jagen. In die gleiche Kerbe schlug Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) im „ARD-Sommerinterview“ am vergangenen Sonntag. „Wir haben nicht zu wenig Geld. Wir haben zu hohe Ausgaben“, verkündete er im Stil eines windigen Unternehmensberaters und lobte sich bei dieser Gelegenheit selbst für die kommende „Nullrunde“ beim Bürgergeld.
SPD und Grüne garnierten das Theater mit reflexhafter Empörung. „Man kann Menschen, Familien, Kindern in Deutschland nicht einfach das Existenzminimum streichen und in den Hunger treiben“, sagte der Grüne Fraktionsvize Andreas Audretsch der Funke-Mediengruppe. Dagmar Schmid (SPD) erklärte, dass es den arbeitenden Menschen nicht helfe, „Bürgergeld-Empfänger in einer willkürlich gegriffenen Größenordnung als faul zu diffamieren“. Dass ihre Parteien in diesem Jahr einen zweimonatigen kompletten Leistungsentzug für „Totalverweigerer“ durchgesetzt haben, verschwiegen sie dabei. Erst im Juli hatte die Ampel-Regierung zudem beschlossen, die Ablehnung von „zumutbarer Arbeit“ stärker zu sanktionieren, die zumutbare Pendelzeit zum Arbeitsplatz auf bis zu drei Stunden zu verlängern, Ein-Euro-Jobs auszudehnen, das Schonvermögen schneller anzugreifen und Meldeversäumnisse härter zu bestrafen.
Linnemanns Vorstoß ist also die Fortsetzung der Ampel-Politik mit den gleichen Mitteln, aber größerer Klappe. Die Aufregung im Ampel-Lager dürfte vielmehr der Sorge geschuldet sein, eines Tages über die wahren Hintergründe der zunehmenden Armut diskutieren zu müssen. Die können durchaus auch von unerwarteter Stelle benannt werde: „Wenn der Krieg nicht ausgebrochen wäre, hätten wir auch nicht die hohe Inflation erlebt, durch die mehr Menschen hilfebedürftig geworden sind. Der Anstieg von Mieten und Preisen schlägt sich eben auch in der Zahl der Bürgergeldempfänger nieder, weil ein Einkommen im Niedriglohnbereich oftmals nicht auskömmlich ist und durch Bürgergeld ergänzt werden muss“, sagte Dirk Heyden, Chef des größten deutschen Jobcenters in Hamburg, im Interview mit dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ und verwies auch auf die hohe Zahl von geflüchteten Ukrainern.
Konsequenzen werden daraus nicht folgen. Ampel, CDU und die sie begleitende Hofberichterstattung mögen aufschrecken, wenn jemand „Sozialstaat“ sagt; aber richtig wütend werden sie erst, wenn auch noch vom „Frieden“ die Rede ist.
Quelle: Unsere Zeit