Israelische Angriffe in Rafah müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden
Übernommen von Amnesty.de – Pressemeldungen:
Eine neue Untersuchung von Amnesty International zeigt, dass die israelischen Streitkräfte bei zwei Angriffen im Mai auf Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad im Süden des besetzten Gazastreifens nicht alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben, um Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden oder zu minimieren. Die Angriffe waren wahrscheinlich wahllos, und einer der Angriffe könnte ebenfalls unverhältnismäßig gewesen sein. Beide Vorfälle sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden.
Am 26. Mai 2024 wurden bei zwei israelischen Luftangriffen auf das Kuwaiti Peace Camp, ein Behelfslager für Binnenvertriebene im Westen Rafahs, mindestens 36 Menschen – darunter sechs Kinder – getötet und mehr als 100 verletzt. Mindestens vier der Getöteten waren bewaffnete Kämpfer. Ziel der Luftangriffe waren zwei Hamas-Befehlshaber, die sich inmitten der Zivilbevölkerung aufgehalten haben. Das israelische Militär hat dabei zwei US-amerikanische GBU-39-Lenkbomben eingesetzt, die tödliche Splitter über ein großes Gebiet schleudern. Das Gesamtgewicht jeder Bombe beträgt 113 kg und kann Metallsplitter Hunderte von Metern weit schleudern. Das israelische Militär verfügt über kleinere, von Drohnen getragene Präzisionsraketen, die weit weniger Sprengstoff enthalten und eine geringere Flächenwirkung haben.
Indem das israelische Militär in einem Lager für Binnenvertriebene Sprengmunition mit weiträumiger Wirkung einsetzte, obwohl Munition mit geringerer Flächenwirkung zur Verfügung stand, hat es wahrscheinlich nicht alle denkbaren Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um zufällige Schäden an Zivilist*innen und zivilen Objekten zu vermeiden oder zu minimieren.
Angesichts der Tatsache, dass die Zivilbevölkerung in behelfsmäßigen Unterkünften lebte, die keinerlei Schutz boten und angesichts des Einsatzes von zwei GBU-39-Bomben war die große Zahl ziviler Opfer vorhersehbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese im Verhältnis zum erwarteten direkten militärischen Vorteil übermäßig hoch sein würden, hätte klar sein müssen. Der Einsatz dieser Munition in einem Lager, in dem Zivilpersonen in überfüllten Notunterkünften untergebracht sind, stellt mutmaßlich einen unverhältnismäßigen und wahllosen Angriff dar und sollte als Kriegsverbrechen untersucht werden.
Am 28. Mai 2024 hat das israelische Militär mindestens drei Panzergranaten auf einen Ort im Gebiet al-Mawasi in Rafah abgefeuert, das vom israelischen Militär seit Monaten als „humanitäre Zone“ ausgewiesen wurde. Bei diesem Angriff wurden 23 Zivilpersonen –zwölf Kinder, sieben Frauen und vier Männer – getötet und viele weitere verletzt. Die Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass die Ziele des Angriffs ein Kämpfer der Hamas und ein Kämpfer des Islamischen Dschihad waren. Durch den Einsatz ungelenkter Munition in einem Gebiet voller Zivilist*innen, die in Zelten Schutz gesucht hatten, wurde bei dem Angriff nicht zwischen Zivilpersonen und militärischen Zielen unterschieden. Damit war der Angriff wahrscheinlich wahllos und sollte als Kriegsverbrechen untersucht werden.
Die Geflüchteten in dem Lager für Binnenvertriebene haben geglaubt, sich in einer „humanitären Zone“ zu befinden. Die Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad haben durch ihre Anwesenheit wissentlich das Leben der Zivilist*innen gefährdet. Mit der Wahl des Standorts in den beiden Vertriebenenlagern wurde mutmaßlich gegen die Verpflichtung verstoßen, bewaffnete Einheiten, sofern dies möglich ist, nicht in dicht besiedelten Gebieten zu stationieren. Nach den Angriffen haben einige Anwohner*innen die beiden Kämpfer zur Rede gestellt und sie aufgefordert, das Gebiet zu verlassen. Die Kämpfer sind jedoch geblieben, so dass einige Tage später die gesamte Bevölkerung das Gebiet verlassen hat.
Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, sagt:
„Auch wenn diese Angriffe Kommandanten und Kämpfern der Hamas und des Islamischen Dschihad gegolten haben, haben wieder einmal vertriebene palästinensische Zivilpersonen, die Schutz und Sicherheit suchten, mit ihrem Leben bezahlt. Die Anwesenheit von bewaffneten Kräften im Zielgebiet entbindet Israel nicht von der Verpflichtung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Im Zielgebiet beider untersuchten Angriffe hielten sich viele Geflüchtete auf, die Schutz gesuchten hatten, aber den Angriffen des israelischen Militärs ausgeliefert waren. Dass der Einsatz von ungelenkten Panzergranaten und Bomben, die Schrapnelle Hunderte Meter weit schleudern, zu vielen zivilen Opfern führen würde, muss dem israelischen Militär klargewesen sein. Das Militär hätte alle Vorkehrungen treffen müssen, um Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden oder zumindest zu minimieren. Die Pflicht zum Schutz der Zivilbevölkerung gilt auch für die Hamas und den Islamischen Dschihad. Sie dürfen soweit wie möglich bewaffnete Kräfte nicht in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten stationieren.“
Verpflichtungen Israels, der Hamas und des islamischen Dschihad nach dem humanitären Völkerrecht
In Anbetracht der Konzentration der Zivilbevölkerung in kleinen Gebieten des Gazastreifens unter anderem durch die aufeinanderfolgenden Wellen von Massenvertreibungen ist es umso wichtiger, dass die Konfliktparteien die Regeln des humanitären Völkerrechts strikt einhalten, um die Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen militärischer Operationen zu schützen.
Das Vorhandensein militärischer Ziele entbindet die israelischen Streitkräfte nicht von ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht, einschließlich ihrer Pflicht zur Einhaltung der Grundsätze der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit sowie ihrer Verpflichtung, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um Zivilist*innen zu verschonen.
Der Grundsatz der Unterscheidung, ein Grundprinzip des humanitären Völkerrechts, verpflichtet die Parteien, jederzeit zwischen militärischen Zielen und Zivilist*innen oder zivilen Objekten zu unterscheiden und ihre Angriffe nur auf militärische Ziele zu richten.
Das humanitäre Völkerrecht verbietet auch unverhältnismäßige Angriffe, d. h. Angriffe, bei denen zu erwarten ist, dass sie zufällige Verluste von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, Verletzungen von Zivilpersonen, Schäden an zivilen Objekten oder eine Kombination dieser Schäden verursachen, die im Verhältnis zu dem erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil unverhältnismäßig wären.
Die Konfliktparteien müssen außerdem alle durchführbaren Vorkehrungen treffen, um Zivilpersonen und zivile Objekte, die sich unter ihrer Kontrolle befinden, vor den Auswirkungen von Angriffen zu schützen.
Für die Hamas und den Islamischen Dschihad bedeutet dies, dass sie es soweit wie möglich vermeiden müssen, militärische Ziele und Kämpfer in oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten, einschließlich Unterkünften für Binnenvertriebene, zu stationieren.
Die absichtliche Ausnutzung der Anwesenheit von Zivilist*innen oder anderen geschützten Personen, um bestimmte Gebiete vor militärischen Angriffen zu schützen (menschliche Schutzschilde), ist nach internationalem Recht verboten. Amnesty International konnte nicht feststellen, ob die Anwesenheit der Kämpfer in den Lagern beabsichtigt war, um sich vor militärischen Angriffen zu schützen oder nicht. Nach dem humanitären Völkerrecht entbindet jedoch selbst dann, wenn eine Partei „menschliche Schutzschilde“ einsetzt oder Zivilist*innen auf andere Weise unrechtmäßig gefährdet, dies die gegnerische Partei nicht von der Einhaltung ihrer Verpflichtungen, zwischen militärischen Zielen und Zivilpersonen oder zivilen Objekten zu unterscheiden, keine wahllosen oder unverhältnismäßigen Angriffe durchzuführen und alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um Zivilist*innen und zivile Objekte zu schonen.
Hintergrund
Amnesty International hat 14 Überlebende und Zeug*innen befragt, die Orte der Angriffe untersucht, ein Krankenhaus in Chan Yunis besucht, in dem die Verwundeten behandelt wurden, hat die verwendete Munition identifiziert und Satellitenbilder der Angriffsorte geprüft.
Am 24. Juni 2024 hat Amnesty International Fragen zu den beiden Angriffen an die israelischen Behörden geschickt. Am 5. Juli 2024 hat Amnesty International außerdem Fragen an den Generalstaatsanwalt und an Mitarbeiter*innen des Justizministeriums geschickt, die der De-facto-Verwaltung der Hamas angehören, und hat nach der Anwesenheit von Kommandeuren und Kämpfern in diesen Gebieten gefragt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Amnesty-Berichts, lagen keine Antworten vor.
Quelle: Amnesty International