26. Dezember 2024

Leopold Hornik spricht in Moskau aus Anlass des 100. Geburtstages von W. I. Lenin über einige Fragen der ideologisch-politischen Arbeit der kommunistischen Weltbewegung

Übernommen von Zeitung der Arbeit:

Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Frühe Grundentscheidung von Leopold Hornik für den Marxismus-Leninismus. Exil in London (1938) und Rückkehr nach Wien (1946)

Zu den prägenden Persönlichkeiten der im November 1918 gegründeten Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) gehört von Beginn an der aus Dej in Siebenbürgen stammende siebenbürgische Jude Leopold Hornik (geb. 4. Oktober 1900, gest. in Wien, 6. November 1976). Dass es zu dieser Gründung durch eine kleine Gruppe von Menschen, die sich zuvor in der Zimmerwalder Linken vereinigt hatte (1915), gekommen ist, war Folge des Opportunismus der Führer der sozialdemokratischen Parteien zum imperialistischen Weltkrieg. Für diese stand die Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie im Vordergrund. Der österreichische jüdische Historiker Arnold Reisberg (1904–1980), der aufgrund falscher Beschuldigungen von Genia Quittner (1906–1989) und anderen in ein sibirisches Lager kam und bis 1956 in Verbannung lebte, hat seine kommunistische Haltung immer bewahrt und veröffentlichte darüber in der Deutschen Demokratischen Republik eine quellenbasierte Pionierarbeit.[1] Am 3. November 1918 meinte Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) in seiner Rede auf einer Demonstration in Moskau zu Ehren der österreichisch-ungarischen Revolution voll Freude, dass die Zeit nicht mehr fern sei, „da der erste Tag der Weltrevolution allerorts gefeiert werden wird“.[2] Die Kräfte der Reaktion, zu denen eben die rechten Führer der Sozialdemokratie gehörten, verhinderten in Österreich wie in Deutschland die Teilnahme an der ersten sozialistischen Revolution zum Aufbau einer friedlichen, solidarischen Gemeinschaft. Im Ergebnis bedeutete das in Österreich und Deutschland den Anfang der verhängnisvollen Entwicklung hin zum Faschismus.

1919 bis 1936 hat Leopold Hornik an allen Parteitagen der KPÖ teilgenommen. Nach dem Verbot der KPÖ am 26. Mai 1933 durch den österreichischen Faschismus war Leopold Hornik einige Zeit in der Illegalität und flüchtete 1938 mit seiner Partnerin Anna Strömer (1891–1966)[3] und mit anderen politisch und rassistisch verfolgten österreichischen Kommunistinnen und Kommunisten nach England. Leopold Hornik und Anna Strömer kannten sich seit der Sammlung der Linksradikalen in Wien[4] und haben sich in London im Free Austrian Movement aktiv beteiligt, worüber in einem späteren Artikel noch berichtet werden wird. 1946 sind beide nach Wien zurückgekehrt, haben am 9. Dezember 1946 geheiratet und zuerst in Wien in der Herbeckstraße, dann in der Rosenackerstraße und schließlich seit 1948 im 16. Bezirk in der Gomperzgasse 5 gewohnt.[5]

Leopold Hornik wurde als aktiver marxistischer Spezialist für die Interessen der Arbeiterklasse konkret tätig. Er zeichnete als verantwortlicher Redakteur der im Eigentum der KPÖ stehenden monatlichen „die arbeit. Zeitschrift für Sozialpolitik, Wirtschaft und Betrieb“, deren erstes Heft im März 1947 erschien. Im Vorwort schreibt Leopold Hornik: „Unsere neue Zeitschrift will der sozialen Neugestaltung Österreichs dienen und wird den Fragen der Sozialpolitik ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Sie soll eine Waffe sein im Kampfe für die wirtschaftlichen und sozialen Forderungen der Arbeiter und Angestellten, für die Einheit der Arbeiterklasse und die Stärkung des einheitlichen Gewerkschaftsbundes, für die Verstaatlichung der Großindustrie und die Planung der Wirtschaft, für den Sieg der Volksdemokratie in Österreich, die dem arbeitenden Volke ein menschenwürdiges Dasein sichern wird“. Den Eröffnungsartikel schrieb der nach jahrzehntelangem Kampf an der Front der nationalen und internationalen kommunistischen Bewegung erste Staatssekretär im Staatsamt für Inneres in der provisorischen Regierung Karl Renner (1870–1950) und seit den Nationalratswahlen am 25. November 1945 als Abgeordneter tätige Franz Honner (1893–1964)[6] über „Kollektivvertragsgesetz und Parlament“. Leopold Hornik veröffentlichte in dieser Erstnummer den internationalistischen Artikel „Vor großen Lohnkämpfen in Amerika“. Von Anfang an war als Mitarbeiterin Anna Strömer-Hornik dabei, die viele Artikel über die internationale Frauenbewegung schrieb. Ganz besonders ging es ihr über mehr Schutz für die arbeitenden Frauen und Mütter und um die Mobilisierung der Arbeiterinnen für den Kampf um den Frieden. Trotz der unglaublichen Opfer, die die Sowjetunion durch die deutschen Mordtruppen erleben hat müssen, war bei diesen Genossinnen und Genossen Hoffnung auf den „triumphierenden Sozialismus“, wie Hornik 1947 in der Zeitschrift „die arbeit“ schreibt.[7]

Leopold Hornik in der Parteikrise der KPÖ seit 1968. Aus einem Briefwechsel mit Jürgen Kuczynski

Die Situation der KPÖ war seit den zum Einmarsch der Sowjets (21. August 1968) in der Tschechoslowakei hintreibenden Ereignissen in einem Krisenmodus.[8] Das Protokoll des vom 3. bis 6. Jänner 1969 in der Wiener Stadthalle abgehaltenen Parteitages der KPÖ und die Diskussion dazu samt ihren Gehässigkeiten gegen die Sowjetunion in der „Österreichischen Volksstimme“ spiegeln das wider. Kritik und Selbstkritik gehören zur Erneuerung und Weiterentwicklung, aber das entscheidende Kriterium muss die Parteiarbeit im Interesse der nationalen und internationalen Arbeiterklasse bleiben. Leopold Hornik ließ sich von all den aufgeregten Diskussionen nicht in seiner Haltung beirren und hatte dabei inhaltliche wie persönliche Unterstützung durch Eva Priester (1910–1982), mit der er seit dem Tod von Anna Strömer eine Partnerschaft eingegangen ist.[9]

Leopold Hornik und die aus Petersburg stammende Jüdin Eva Priester, die ein unglaublich facettenreiches Leben im Kampf für eine gerechte Menschheit führte, kannten sich spätestens seit den Emigrationsjahren in London. Wegen ihres journalistischen Wirkens in der „Österreichischen Volksstimme“ wurden beide von der Staatspolizei beobachtet. Als von Eva Priester aus ihrem „ungarischen Tagebuch“[10] eine Übersetzung in einer sowjetischen Zeitschrift publiziert wurde, machte die österreichische Botschaft in Moskau dem Innenministerium davon Meldung (13. Dezember 1956). Eva Priester geriet in Verdacht, „eine Gefahr für den Bestand der Republik Österreich zu vergrößern“. Eva Priester hatte festgestellt, dass der Wiener Rundfunk bedingungslos den konterrevolutionären Kampf in Ungarn unterstützt, richtungsweisend und propagandistisch, obschon der Rundfunk der Regierung unterstellt ist.[11]

Ein paar Monate vor den Augustereignissen 1968 haben Ernst Fischer (1899–1972), Theodor Prager (1917–1986), Marcel Rubin (1905–1995) , Franz Marek (1913–1979) und andere nach Szenenapplaus in bürgerlichen Medien schielende Parteiprominente für die Einstellung einer wegen antisowjetischer Betätigung in Moskau gegen die Schriftsteller Jurij Galanskow, Alexej Ginsburg, Alexej Dobrowolskij und Wera Laschkowa erhobenen Anklage protestiert, nicht mit juristischen, sondern mit Argumenten aus ihrer Gefühlswelt.[12] Die Lebensbedrohung des griechischen antifaschistischen Widerstandskämpfer Mikis (Michail) Theodorakis (1925–2021) durch die faschistische Junta hat keinen Widerhall gefunden. Eva Priester widerte der parasitär lebende und aufgeblasene bürokratische Apparat der Partei an. Am 14. Februar 1968 schreibt Eva Priester an Ernst Fischer einen empörten Brief: „Einige Genossen, m. E. eine kleine Minderheit in der Partei, nehmen sich, bisher völlig unbehindert, das Recht als >Intellektuelle< öffentlich mit Proklamationen aufzutreten, die sich gegen die Sowjetunion richten, wie etwa der Ginzburgprotest und die Erklärung anlässlich des Nahostkrieges. Ginzburg ja, Theodorakis nein? Zu den Unterzeichnern der Protesterklärung im Zusammenhang mit dem Moskauer Prozess gegen Ginzburg, Galanskow usw. gehört, wie ich aus der Presse entnehme, auch Marcel Rubin. Nach dem Militärputsch in Griechenland als die ersten Nachrichten über die Verhaftung des Komponisten Mikis Theodorakis kamen und das einzige Mittel, um seine Freilassung oder wenigstens Rettung zu erwirken eine internationale Protestkampagne schien, wandte ich mich an Genossen Marcel Rubin mit der Bitte zu versuchen, österreichische Komponisten zu einer Stellungnahme für ihren eingekerkerten Kollegen Theodorakis zu veranlassen. Genosse Rubin lehnte das mit der Begründung ab, Theodorakis, dessen Namen er, wie er erklärte, nie gehört habe (es war allerdings vor Beginn der großen internationalen Kampagne) sei sicherlich kein wirklicher, ernst zu nehmender Komponist, sondern wahrscheinlich ein Filmmusiker und die österreichischen Komponisten würden aus diesem Grund nicht Stellung nehmen. Ich schlug ihm daraufhin vor, da er selbst ein bekannter Komponist sei, wenigstens in seinem Namen einen Brief an die griechische Botschaft zu schreiben oder in einer anderen Weise öffentliche für Theodorakis einzutreten. Das lehnte Genosse Rubin ebenfalls ab. Theodorakis ist nun nach Folterungen und langer Haft dank einer Weltkampagne wenigstens vorläufig auf freiem Fuß. An dieser Weltkampagne haben sich neben kommunistischen Intellektuellen auch bekannte Persönlichkeiten aus anderen Lagern beteiligt, etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – [Friedrich] Dürrenmatt [(1921–1990)]. Es ist mir nicht bekannt, dass einer der kommunistischen Unterzeichner des Ginzburgprotestes sich an der Hilfsaktion für Theodorakis beteiligt hätte“.[13] Der eitle Marcel Rubin ist heute nicht einmal in der österreichischen Kulturszene irgendwie bekannt, Theodorakis dagegen errang Weltgeltung. Ernst Fischer, der über Jahrzehnte ein führendes Mitglied der KPÖ war und nach 1945 von den vielen Hoffnungen der Arbeiterklasse auf ein fruchtbares Bündnis mit Intellektuellen zur Kultfigur stilisiert wurde, ließ diesen Brief von Eva Priester unbeantwortet, ihr Name wie jener von Leopold Hornik oder Anna Strömer kommen in seinen für die bürgerliche Literaturwelt und für sich selbst gefällig geschriebenen Erinnerungen nicht vor.[14] Jürgen Kuczynski (1904–1997), der mit Ernst Fischer ziemlich befreundet war, schreibt nach dessen Ankunft in der bürgerlichen Welt, dieser sei „ziemlich verrückt“ geworden.[15]

Das Parteitagsprotokoll der KPÖ war noch nicht publiziert, da schreibt am 20. Jänner 1969 Leopold Hornik in einem Brief an Jürgen Kuczynski (1904–1997), dem er oft bei Einladungen und Drucklegungen behilflich war: „Die Situation in der Partei ist trotzalledem sehr schwer. Das jahrelange Schweigen zu den verschiedensten Auffassungen, die sich immer mehr von unseren Grundsätzen entfernten, rächt sich jetzt“.[16] Ein paar Monate hernach am 18. November 1969 erklärt Leopold Hornik seinem besorgten Berliner Freund, dass die Realitäten von Franz Muhri (1924–2001), seit 1965 als Parteivorsitzender Nachfolger von Johann Koplenig (1891–1968), zur Kenntnis genommen werden mussten: „Die Nachrichten aus unserem Land sind nicht nur >nicht sehr erfreulich<, sie werden noch immer unerfreulicher. Mehr als zwei Dutzend Mitglieder des ZK [Zentralkomitee], also weniger als ein Drittel haben an die Partei ein Ultimatum gestellt, das darauf hinausläuft, die Partei unter ihr Diktat zu stellen und unakzeptabel ist. Leider hat es über die Fragen um die es im Grunde geht, keine echte Diskussion gegeben, weder mit Fischer noch mit Marek und Teddy [d. i. Theodor Prager], die eine Position bezogen haben, die für eine Kommunistische Partei nicht tragbar ist“. Muhri hat Problemdiskussionen und kritische Argumente gegenüber den Standpunkten seiner Partei akzeptiert, aber er hat an der Sache des Marxismus-Leninismus unverrückbar festgehalten und die Illusion von einem marxistischen Neuanfang der KPÖ gehabt.[17] Die mit Ernst Fischer ausgetretenen oder ausgeschlossenen, bis dahin als Kommunisten geltenden Parteiangehörige wurden 1998 vom damaligen Bundesvorstand rehabilitiert, welche posthume Ehre sich diese durch das inzwischen ans Ruder gekommene „Intellektuellen-Gsindel“ der KPÖ redlich verdient haben.[18]

Am 23. Dezember 1969 schaut Leopold Hornik mit wenig Optimismus in die nahe Zukunft seiner Partei:

„Lieber Jürgen!

Wir bereiten uns jetzt auf die Wahlen vor, die am 1. März 1970 stattfinden werden. Unsere Aussichten sind minimal. Das hängt nicht nur mit den Differenzen in der Partei zusammen, sondern ist eine Frage der Polarisierung der beiden Großparteien (ÖVP und SPÖ), die in trauter Gemeinschaft alle kleinen Parteien mit Hilfe der 5% Klausel und anderer Bestimmungen auszuschalten versuchen.

Die >Progressiven< bei uns entwickeln sich progressiv immer weiter nach rechts. In der stupiden Gehässigkeit gegenüber der SU [Sowjetunion] haben sie alle Grenzen überschritten. Bei manchen von ihnen hat der Hass ausgesprochen pathologische Züge angenommen, darunter auch bei Leuten, denen man es nie zugetraut hätte. Sie fraktionieren offen, lehnen jede Mitarbeit ab und haben geglaubt, dass die Partei zusammenstürzen wird. Einige von ihnen wollen bewusst den Ausschluss provozieren, was ihnen früher oder später gelingen wird. Marek wird ab Jänner Chefredakteur des >Tagebuch<, das jetzt >Wiener Tagebuch< heißen wird. Auch er hat mit der Partei praktisch gebrochen und wartet auf seinen Ausschluss. Seit dem Parteitag, das ist immerhin schon ein Jahr, wird bei uns nur diskutiert und nichts gearbeitet, d. h. so diskutiert, dass die Arbeit gehemmt und die Fragen nicht geklärt werden. Wobei es bei uns Grund genug zur Kritik gibt und auch international in unserer Bewegung neue Fragen zu klären sind und unsere ganze Agitation und Propaganda nicht mehr der neuen Situation entspricht. Was uns hier schrecklich fehlt ist Literatur, die man Jugendlichen aber auch politisch noch indifferenten Arbeitern geben kann. Produzieren unsere westdeutschen Genossen nichts dergleichen? Von Deiner Broschüre >Warum sind wir gegen den Kapitalismus<[19] habe ich jetzt mehrere durch unseren Buchvertrieb bestellt und will sie bei den Jugendlichen kritisch lesen lassen. Auch Dein Büchlein >Vom Holzpflug zur Automation<[20] wäre mir sehr dienlich. Mein Exemplar habe ich einem Studenten gegeben, der Teile davon für eine Schülerzeitung verwenden wollte, es aber nicht getan hat und sich nur das Büchlein behielt. Wenn du mir noch eines auftreiben könntest, wäre ich Dir sehr dankbar. Dafür werde ich Dir berichten, wie Deine Produktion ankommt. Alles Gute und Schöne zum neuen Jahr Dir und Deiner lieben Frau!

Dein Leo

Am 12. Februar 1970 schreibt Leopold Hornik an Jürgen Kuczynski, dass er nächste Woche nach Moskau zu einem Lenin-Symposium fahren, aber am 1. März, zur Wahl, wieder zurück sein werde. „Wann ich wieder nach Berlin komme, weiß ich nicht. Aber über kurz oder lang, vielleicht im Herbst mit Eva, nach unserem Urlaub. Ende Mai haben wir einen außerordentlichen Parteitag,[21] der dem hin und her in der Partei Schluss machen soll“. Ad hominem Argumente zur internen Entwicklung der KPÖ tauschten die beiden Marxisten Leopold Hornik und Jürgen Kuczynski nur ganz selten aus. Leopold Hornik schrieb längere, meist handschriftliche Briefe an Kuczynski in Berlin-Weißensee, Parkstraße 94, der in der Regel seiner Sekretärin meist nur kurze präzise Antworten in die Schreibmaschine diktierte. Kuczynski war ein gelehrter, ungemein produktiver Enzyklopädist, dessen Arbeiten in etwa 30 Sprachen übersetzt wurde. Anfang 1975 (7. Jänner) schreibt Hornik, es sei von ihm, Kuczynski, nicht richtig besonders hervorzuheben, dass bei Wissenschaftlern wie Jacob Burkhardt in der Schweiz oder Hippolyt Taine (1828–1893) in Frankreich oder bei dem US-Amerikaner Henry Adams (1838–1918) „die Konzentration des Kapitals und der Gewalt bei ihnen eine tiefe Abneigung gegen die Gewalt erzeugte“.[22] Er, Kuczynski, hätte auch John Acton (1834–1902) aus England „und dutzende auch hunderte Wissenschaftler anführen können, die zur >Macht< eine ähnliche Einstellung hatten. Aber was kann man damit anfangen, wenn von Macht >an sich< geredet wird, losgelöst von den klassenmäßigen Zusammenhängen. Du kannst heute wohl bei zehntausenden Wissenschaftlern antikapitalistische Perzeptionen finden, die aber in den meisten Fällen nicht den Kampf gegen den Kapitalismus fördern, sondern ihn erschweren. Das gilt ebenso für die Abneigung von Burkhardt, Taine und Henry Adams gegen die >Macht<, die sich auch gegen die Macht richtet, die wir zur Beseitigung des Kapitalismus etablieren. Bei der Lektüre Deiner Essays scheint mir ein anderer Zusammenhang gerade heute von größter Bedeutung. Es gibt notwendigerweise aus der Zeit heraus, in der wir leben, massenhaft Perzeptionen bei Künstlern und Wissenschaftlern, die ohne Kenntnis der eigentlichen Zusammenhänge Zukunftsahnungen haben, bestimmte Erscheinungen richtig sehen, aber gegen uns sind. Wir haben früher alle diese Leute niedergebügelt und in unsere geräumige Abteilung für Feinde abgeschoben. Heute können wir nicht nur dank unserer Theorie, sondern von der für jeden sichtbaren Entwicklung, die jetzt vor sich geht, mächtig unterstützt, an solche Perzeptionen anknüpfen und mit wachsendem Erfolg solche Leute, sofern sie nicht total verbohrt oder korrumpiert sind auf unseren Weg bringen oder zumindest nachdenklich machen. Mit Deinen drei Toten lässt sich eine solche Diskussion nicht führen, sie wäre damals wahrscheinlich auch nutzlos gewesen“. Gleich eingangs dieses Briefes betont Hornik, er sei „beim Ändern von Ansichten langsam und nur dann schnell, wenn Ereignisse eintreten, die eine Änderung der alten zwingend und rasch fordern. Zweitens habe ich nichts zu ändern, weil es mir nicht im Traum einfällt zu bestreiten, dass Künstler auch wissenschaftlich perzipieren können und Wissenschaftler künstlerisch“. Dabei macht Hornik auf einen Brief von Friedrich Engels (1820–1895) an Margaret Harkness (1854–1923) aufmerksam, in der dieser sagt, dass er von Honoré de Balzac (1799–1850) in ökonomischen Einzelheitern mehr gelernt habe als von allen Spezialisten seiner Zeit zusammen.[23]

Leopold Hornik referiert in Moskau zum 100. Geburtstag von Lenin

1970 wurde weltweit an den Hundertsten Geburtstag von Wladimir Iljitsch Uljanow (10.[22.] April 1870 in Simbirsk) gedacht. In Moskau fand vom 24. bis 26. Februar 1970 eine vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) organisierte theoretische Konferenz statt. Das Eröffnungsreferat hielt Boris Nikolajewitsch Ponomarjow (1905–1995), Sekretär des ZK der KPdSU, zum Thema „Der Leninismus und der revolutionäre Weltprozess“, Leopold Hornik referierte als Delegierter der KPÖ „Zu einigen Fragen unserer Weltbewegung“. Als Leiter der österreichischen Delegation sprach Friedl Fürnberg (1902–1978), Sekretär des ZK der KPÖ, bei der Eröffnung ein paar Worte.[24] Er war in der aus diesem Anlass gedruckten Sammlung von deutschen und sowjetischen Dichtungen mit seinem 1946/1948 geschriebenen Poem „Lenin in Zürich“ vertreten: „In der Spiegelgasse hatte er ein Zimmer, der Herr Uljanow. Einer von den vielen Emigranten, und man sprach nicht weiter über ihn. Doch die Arbeiter von Rußland nannten ihn Lenin“.[25] Wunderbar die Ansprache von Dolores Ibárruri (1895–1989) als Vorsitzender der KP Spaniens zu lesen: „Die faschistische Reaktion hat viele Male erklärt, die Kommunistische Partei Spaniens existiert nicht mehr, und jedesmal war das eine Lüge. Heute können wir sagen, dass die Kommunistische Partei Spaniens nicht nur die blutigen Prüfungen bestanden hat, sondern auch weiterhin die von Lenin angezündete Fackel hochhält, dass sie sie den neuen Generationen der Revolutionäre weiterreicht, dass sie es vermocht hat, diese neuen Generationen für unsere Ideen zu gewinnen und in ihnen den Leninschen revolutionären Enthusiasmus zu entzünden“.[26]

Lenin war sicher einer der Menschen, der, wie Albert Einstein (1879–1955) das gesagt hat, als „Hüter und Erneuerer des Gewissens der Menschheit“ genannt werden kann, denn er habe „seine ganze Kraft unter völliger Aufopferung seiner Person für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt“.[27] Einstein hat in Berlin wie René Kuczynski (1876–1947), Vater von Jürgen Kuczynski, die Gesellschaft der „Freunde des neuen Russlands“ unterstützt. In seiner Rede auf der Moskauer Konferenz hat Leopold Hornik Probleme der sozialistischen Länder angesprochen. Er wusste von den sich auf das alltägliche Leben der Menschen auswirkenden Deformationen, die durch den die Macht ausübenden „Staatssozialismus“ mit seinen Massen von parasitären und korrumpierbaren Kadern bedingten waren. Leute wie Michail S. Gorbatschow (1931–2022) haben ihre Karriere damals begonnen, indem sie zu ihrem persönlichen Vorteil „neu“ und oligarchisch zu denken begannen. Das alles erleichterte die ideologische Unterwanderung der sozialistischen Länder und der Kommunistischen Parteien durch den westlichen Kulturimperialismus, den Leopold Hornik schier prophetisch als Hauptgefahr für die mit den Ideen von Lenin begonnene Verwirklichung der Utopie einer neuen, von Unterdrückung und Ausbeutung freien Welt für alle Menschen benennt. Den durch die Enzyklika „Populorum progressio“ (26. März 1967) von Papst Paul VI. (1897–1978) eingeleiteten Prozess des innovativen Dialogs zwischen Katholiken und Marxisten schätzte Leopold Hornik für beide Dialogpartner als sehr fruchtbar ein. In seiner Zeitschrift „die arbeit“ hat er bereits 1967, also lange vor Kenntnisnahme der in Lateinamerika sich entwickelnden Befreiungstheologie, die Enzyklika „Populorum progressio“ als einen antikapitalistischen „entscheidenden Schritt“ der Katholischen Kirche „von der Orientierung auf das Jenseits zu einer aktiven Teilnahme an der Schaffung eines menschenwürdigen Lebens auf dieser Erde“ definiert.[28]

Dokument

Leopold Hornik: Zu einigen Fragen unserer Weltbewegung.

Druck: Weg und Ziel 1970, Nr. 4, S. 11–13.

Zu einigen Fragen unserer Weltbewegung

Nachdem es den Imperialisten klar geworden ist, dass sie einen Atomkrieg nur bei Strafe des eigenen Untergangs entfesseln können, verlagern sie mit immer größerer Intensität und mit immer raffinierteren Methoden das Schwergewicht auf die ideologische Unterwanderung und Zersetzung des kommunistischen Lagers und der kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern. Dieser Übergang von einer Politik der Vernichtung und des gewaltsamen Sturzes der sozialistischen Herrschaft zu einer Politik der ideologischen Unterminierung ist unter dem Druck der Stärke des sozialistischen Lagers vor sich gegangen, das heute eine nicht mehr zu besiegende Macht geworden ist. Diese Änderung der Taktik wurde den Imperialisten vor allem durch die Sowjetunion aufgezwungen, die durch ungeheure materielle Opfer ein militärisches Übergewicht der USA und der mit ihr verbündeten Mächte verhindert hat. Die Sowjetunion hat eine kriegerische Auseinandersetzung in dem weltgeschichtlichen Entscheidungskampf zwischen den beiden Systemen für die Imperialisten zum höchsten Risiko gemacht. Diesem Umstand verdanken wir es in erster Linie, dass wir, allen imperialistischen Plänen zum Trotz, die noch während des zweiten Weltkrieges ausgebrütet wurden, keinen dritten Weltkrieg erleben mussten.

Fragen des Neorevisionismus

In ihrem Kampf gegen den Kommunismus versuchen die Imperialisten die Meinungsverschiedenheiten in den Reihen der Kommunisten auszunützen, ebenso wie sie an die Auffassungen des Revisionismus und Neorevisionismus anknüpfen. Das ist umso leichter möglich, als es sich um Auffassungen handelt, die der bürgerlichen Ideologie verwandt oder in vielen Punkten mit ihr identisch sind. Wenn es bei Meinungsverschiedenheiten innerhalb der kommunistischen Weltbewegung in manchen Fällen echte Zusammenhänge mit revisionistischen Auffassungen gibt, so glaube ich doch, dass es ein ernster Fehler wäre, sie einfach auf revisionistische oder imperialistische Einflüsse zu reduzieren. Ich möchte mich auch mit einigen wichtigen Fragen des Neorevisionismus beschäftigen, der heute in den kapitalistischen Ländern zu einer allgemeinen Erscheinung geworden ist. Es gibt einige neuen Momente. Sie hängen mit dem wachsenden Einfluss des Kommunismus, mit der Einbeziehung kleinbürgerlicher Schichten in die kommunistische Bewegung zusammen. Diese Kreise sind es vor allem, die in den letzten Jahren immer bewusster versuchen, den Marxismus-Leninismus mit ihren eigenen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Was aber dabei herauskommt, ist nichts anderes als eine Verflachung und Verwässerung unserer Theoretischen Auffassungen. Der Dialog mit den Katholiken kann als Beispiel dafür dienen. Ich halte den Dialog mit aufgeschlossenen Katholiken, die gegen den Kapitalismus revoltieren, für notwendig und nützlich. Aber er muss von klaren Positionen aus geführt werden. Unsere Aufgabe kann es bei diesen Diskussionen nicht sein, grundsätzliche Auffassungen zu opfern und uns auf dieser Basis zu einigen. Auf das Lob, das man in diesem Falle erhält, kein „dogmatischer“, sondern ein „progressiver“ Kommunist zu sein, kann man leicht verzichten. Das unmittelbare Ziel des Dialogs kann nur sein, über alle ideologischen Differenzen hinweg einen gemeinsamen Boden für gemeinsame Kampfziele zu gewinnen. Wenn bestimmte Beiträge, die von Kommunisten im Verlaufe des Dialogs gehalten wurden, liest, muss man zur Auffassung kommen, dass sie in ihrem Bestreben, eine Verständigung mit den Katholiken zu erreichen, grundsätzliche Positionen des Marxismus aufgegeben haben. Ein besonders charakteristisches Merkmal des alten wie den neuen Revisionismus ist die Preisgabe des Klassenstandpunktes. Wenn Ernst Fischer zum Beispiel erklärt, dass jede Macht korrumpiert ist, ob im Kapitalismus oder Sozialismus, so ist dies eine Weisheit, die bürgerliche Ideologen und Historiker, wie Lord Acton, längst vor ihm „entdeckt“ haben, sich dabei aber nicht als Kommunisten deklarieren. Wenn es keinen Unterschied mehr gibt, ob die Macht in der Hand der Arbeiterklasse oder der Bourgeoisie ist, weil sie in beiden Fällen zur Entartung führt, dann ist jeder Kampf um den Sozialismus sinnlos geworden. In dieses Konzept passt der Versuch, die führende Rolle der Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution zu leugnen und sie der Intelligenz zuzuordnen. Die Maiereignisse in Frankreich haben diese Auffassungen ad absurdum geführt und den progressiven Wissenschaftlern und Technikern, den Intellektuellen und Studenten in dramatischer Weise gezeigt, wem diese Rolle zukommt, und dass nur im Bündnis der Intelligenz mit der Arbeiterklasse der Sozialismus erkämpft werden kann.

Ein typisches Merkmal des Neorevisionismus ist die Ablehnung der führenden Rolle der Partei ebenso wie die Ablehnung des demokratischen Zentralismus. Selbstverständlich wird die führende Rolle der Kommunistischen Partei nicht durch Selbstproklamation realisiert. Diese Position muss sie sich erobern, gestützt auf die wissenschaftliche Theorie des Marxismus-Leninismus, die die einzige Theorie der proletarischen Revolution ist. Sie muss sich diese Position erobern durch die Anwendung der Theorie auf die konkreten Verhältnisse des Landes. Und sie muss sie sich nicht zuletzt erobern durch die Treue und Opferbereitschaft im Dienst der Arbeiterklasse bei der Verteidigung ihrer Lebensinteressen und im Kampf um den Sozialismus.

Die negative Haltung zur Partei

kommt bei Fischer und seinem Kreis auch in dem Bestreben zum Ausdruck, sie zu einem Anhängsel der „Neuen Linken“ zu machen, die in Österreich praktisch gar nicht existiert beziehungsweise sich auf einen kleinen Kreis von Studenten und Intellektuellen beschränkt. Der Versuch, ein Konglomerat von linken Gruppen zu schaffen, eine Art „parteilose Partei“, ist absurd. Dahinter steckt nichts anderes als der Unglaube an die Partei. Es ist ein Davonlaufen vor den Schwierigkeiten, die die Kommunistische Partei in Österreich zu bewältigen hat, nicht zuletzt auch durch eigene Fehler und Unzulänglichkeiten.

Den demokratischen Zentralismus wollen unsere Neorevisionisten nicht anerkennen. Und wenn sie ihn mit Worten akzeptieren, verstehen sie darunter das Recht auf Fraktionsbildung. Sie wollen die Partei zu einem Diskussionsklub degradieren, der sich ununterbrochen mit ihren ideologischen Zweifeln und mit Fragen, die ihnen wichtig erscheinen, auseinandersetzen muss. Keine Kommunistische Partei kann existieren, wenn jeder gefasste Beschluss, ohne dass irgendwelche neue Momente auftauchen, in Frage gestellt wird, nur weil er einer kleinen Minderheit nicht passt. Das führt dazu, dass die Partei vor lauter Diskussionen zu keiner praktischen Arbeit kommt.

Allerdings muss gesagt werden, dass die Führung unserer Partei eine große Verantwortung für diese Entwicklung trägt, weil sie jahrelang eine Auseinandersetzung mit Ernst Fischer und seiner Gruppe ausgewichen ist. Das hat mit dazu geführt, dass Genossen, die durchaus nicht mit den Auffassungen Fischers, Mareks oder Pragers übereinstimmen in eine Oppositionsstellung gedrängt wurden. Einzelne besonders eifrige Verfechter der „freien“ Kritik haben von ihrer Freiheit den richtigen Gebrauch gemacht und sind aus der Partei ausgetreten. Einer von ihnen hat sogar ohne Zwischenlandung den Weg von der Redaktion des Zentralorgans der Kommunistischen Partei direkt in die Redaktion der einflussreichsten Unternehmerzeitung gefunden.[29] Solche Beispiele werden dazu beitragen, so manchem Genossen die Augen zu öffnen.

Nicht weniger typisch für den Neorevisionismus ist die

Feindselige Einstellung zur Sowjetunion

und zu den sozialistischen Ländern. Gewiss kann man zu einzelnen Erscheinungen und Maßnahmen in den sozialistischen Ländern kritisch Stellung nehmen. Wenn man aber diese Erscheinungen verabsolutiert, wenn man darüber die Rolle vergisst, die die Sowjetunion und die sozialistischen Länder im Kampf um den Sozialismus spielen, in der Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker, in Vietnam und bei der Sicherung des Friedens, dann muss man in die Irre gehen, dann hilft man der Reaktion und den Imperialisten. Ernst Fischer ist ein Beispiel dafür.

Von Antikommunisten wurde das raffinierte Schlagwort von der „Glaubwürdigkeit“ der Kommunisten erfunden. „Glaubwürdig“ erscheinen sie allerdings nur dann, wenn sie sich von der Sowjetunion distanzieren. Und so gibt es Mitglieder der Kommunistischen Partei, die, um ihre „Autonomie“ und „Unabhängigkeit“ besonders zu unterstreichen, sich ständig distanzieren, erst von der Sowjetunion, dann von der Partei, und schließlich von ihrer eigenen Vergangenheit.

Wenn wir von Neorevisionismus und von revisionistischen Gefahren sprechen, denen die kommunistische Bewegung ausgesetzt ist, sollen wir nicht übersehen, dass es sich hier um Erscheinungen handelt, die ständig auf dem kapitalistischen Boden wachsen, auf dem wir uns bewegen. Ich möchte auf zwei Momente hinweisen.

In einer Reihe von Ländern ist die kommunistische Partei zu einer entscheidenden Kraft geworden, die morgen vor der Aufgabe stehen kann, sich an einer Regierung zu beteiligen, die im Rahmen des Kapitalismus wirken muss. In Finnland ist dies bereits der Fall. Je grösser und einflussreicher die Kommunistische Partei ist, desto unausweichlicher steht sie vor dieser Alternative, die sie bewusst anstrebt.

Sie kann sich dieser Aufgabe nicht entziehen, wen sie nicht abseitsstehen und sich zu einer Sekte entwickeln will. Eine solche Beteiligung birgt gewisse Gefahren in sich, die man ins Auge fassen muss, um nicht aus Angst vor einem Abrutschen dieser Alternative auszuweichen, sondern um vorzubeugen, dass in einer solchen Situation revisionistische Einflüsse wirksam werden. Die einzige Möglichkeit, sich dagegen abzusichern, ist eine prinzipienfeste Politik, die sich auf die Massen stützt und sie bei allen Entscheidungen einbezieht.

Die kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern sind unvermeidlich dem Trommelfeuer der Wohlfahrtstaats- und Partnerschaftsideologie ausgesetzt. Es gibt Kommunisten, die in verschiedenen staatlichen und öffentlichen Institutionen wirken oder in reformistischen Gewerkschaften beamtete Funktionen bekleiden. Dort, wo sie sich nicht auf eine starke revolutionäre Bewegung stützen können und auf eine ideologisch gefestigte Kommunistische Partei, werden sich bürgerliche und reformistische Einflüsse geltend machen, die nicht ohne Folgen bleiben. Auch hier kann es sich nicht darum handeln, aus lauter Sorge um die Reinheit der Prinzipien solche Funktionen auszuschlagen, sondern durch eine ideologisch starke Partei, durch eine enge Verbindung mit den Massen die Möglichkeit zu schaffen, dass diese Funktionen im Interesse der Arbeiterklasse zur Geltung kommen.

Wenn wir uns auf Lenin berufen, sind wir auch verpflichtet, über Mängel und Schwächen in unseren eigenen Reihen, vor allem was die Verbreitung unserer Weltanschauung betrifft, zu sprechen. Meiner Meinung nach haben wir die neuen Erscheinungen nicht genügend analysiert, sie nicht genügend systematisiert und auch nicht die entsprechenden Formen gefunden, um unsere Erkenntnisse den Massen zu vermitteln. Es ist heute, im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution, bei der Vielfalt der Probleme unmöglich, diese Arbeit ohne ein echtes internationales Teamwork zu bewältigen. Man müsste einen entsprechenden Katalog von Fragen auf nähere und weitere Sicht ausarbeiten, die systematisch abgearbeitet und in den einzelnen Ländern untersucht werden, die zentral zusammengefasst als Basis für die Erarbeitung bestimmter Schlussfolgerungen dienen können. Wir haben in einer Reihe kapitalistischer Länder marxistische Institute, die eine hervorragende Arbeit leisten, und müssen einen Weg finden, um die Arbeit zu koordinieren. Es wäre zu prüfen, ob nicht die Zeit zur Schaffung eines internationalen Institutes für Gesellschaftswissenschaften gekommen ist, das sich mit diesen Aufgaben beschäftigt.

Ein anderes wichtiges Problem stellt unsere Agitation und Propaganda dar, die in vieler Hinsicht veraltert ist. Wir betreiben sie oft noch wie vor fünfzig Jahren, ohne Rücksicht darauf, dass inzwischen eine neue Generation herangewachsen ist, der viele Vorstellungen und Begriffe, die bei uns schon zu bedingten Reflexen geworden sind, fremd sind. Nicht umsonst hat Lenin darauf hingewiesen, dass jede Generation durch eigene Erfahrungen und auf Grund ihrer eigenen Erlebniswelt zum Kommunismus kommt. Dem tragen wir nicht genügend Rechnung. Oder nehmen wir uns eine andere Frage: die unerhörte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Fernsehen und Radio, durch die Nachrichtenzentralen, durch die Presse, durch illustrierte Zeitschriften, durch Filme usw. Das ist ein Phänomen, wie wir es in solcher Massivität und Wirksamkeit bisher nicht erlebt haben. Wir müssen vielfältige Wege finden, um den Einfluss dieser Massenmedien zu paralysieren und darüber hinaus neue, wirksame Methoden zur Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln. Es gibt auf diesem Gebiet praktische Erfahrungen, in einigen Ländern auch wissenschaftliche Untersuchungen, aber es fehlt die Zusammenfassung und Systematisierung dieser Erfahrungen, um sie praktisch am besten verwerten zu können. Auch was unsere

Nachrichtenversorgung und Information

betrifft, sind wir hinter dem zurückgeblieben, was wir in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg bereits gehabt haben. Es gab damals die mehrmals in der Woche erscheinende „internationale Pressekorrespondenz“, die ein lebendiges Bild und laufende aktuelle Informationen von den Kämpfen der Arbeiter, von den politischen und ideologischen Problemen in den einzelnen Ländern und der Politik der kommunistischen Parteien vermittelte. Eine ähnliche Korrespondenz fehlt uns heute.

Ich erinnere an die vierteljährlich erschienenen Wirtschaftsberichte des internationalen Wirtschaftsinstitutes die von [Eugen] Varga [(1879–1964)] herausgegeben wurden. Ihr Erscheinen wurde nicht nur von uns, sondern auch von den Gegnern mit Ungeduld erwartet und führte immer zu Auseinandersetzungen in der bürgerlichen Presse. Wir müssen Formen der Arbeit finden, die den Gegner zwingen, sich mit uns zu beschäftigen, die ihm die Themen stellen, mit denen er sich auseinandersetzen muss.

Eine nicht unwichtige Frage ist die Sprache in unserer Agitation. Es geht nicht darum, ob man sich in einer groben oder feinen Ausdrucksweise bedienen soll. Es gibt dafür auch kein Rezept. Das Wesentliche ist der sachliche Inhalt und die Stärke der Argumente. Aber notwendig ist es, die Wirkung unserer Agitationsliteratur zu untersuchen, festzustellen, warum bestimmte Materialien gut aufgenommen werden und umgekehrt. Diese Frage kann man nicht über den Daumen beantworten. Auf diesem Gebiet ist eine wissenschaftliche Forschungsarbeit notwendig, wobei psychologische Probleme miteinbezogen werden müssen.

Auch über die Thesen unserer internationalen Konferenzen möchte ich ein paar Worte sagen, das gilt übrigens nicht nur für internationale Dokumente. Gewiss können Dokumente, die sich mir grundlegenden Fragen beschäftigen, nicht in Form von comic strips verfasst werden. Aber die Erfahrung zeigt, dass infolge ihrer großen Länge der Kreis der Mitglieder, aber auch der Funktionäre in den unteren Organisationen, die diese Dokumente lesen, verhältnismäßig gering ist. Das keinesfalls einfache Problem besteht darin, wie man solche Dokumente in geeigneter Weise nicht nur an die Parteimitglieder und Funktionäre heranbringt, sondern an die Arbeiterschaft. Auch hier wäre ein Meinungsaustausch von größtem Nutzen. Man kommt heute ohne eine wissenschaftliche Behandlung auch der Fragen unserer Agitation und Propaganda nicht mehr aus. Ich glaube, dass wir Lenin am besten ehren, wenn wir uns nicht nur mit seinen Ideen beschäftigen, sondern auch bemüht sind, die besten Methoden ausfindig zu machen, um sie an die Massen zu bringen.


[1] Arnold Reisberg: Lenin und die Zimmerwalder Bewegung. Dietz Verlag Berlin 1966; vgl. auch. Über Reisberg s. Gerhard Oberkofler: Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien. Eingeleitet von Hermann Klenner. StudienVerlag Innsbruck 2020.

[2] Lenin, Werke 28 (1975), S. 122.

[3] Über Anna Strömer zuletzt Gerhard Oberkofler: Für Brot und Frieden – Zeitung der Arbeit

[4] Vgl. Leopold Hornik: Die Zimmerwalder Linke und die Linksradikalen in Österreich. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg. Weg und Ziel 1955, S. 655–668; Hans Hautmann: Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924. Europa Verlag Wien / Zürich 1987.

[5] Meldezettel, Archiv der Stadt Wien.

[6] Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft – Manfred Mugrauer: Franz Honner

[7] die arbeit. Zeitschrift für Sozialpolitik, Wirtschaft und Betrieb. Erster Jahrgang, November 1947, Heft 9, S. 1–3.

[8] Manfred Mugrauer: Von der Verurteilung zur „bitteren Notwendigkeit“. Die KPÖ, der „Prager Frühling“ und die Militärintervention in Prag. Alfred Klahr Gesellschaft Mitteilungen 15. Jh., Nr. 2 (Juni 2008): https://www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/Mugrauer_2_08.pdf

[9] Gerhard Oberkofler: Eva Priester. Eine jüdische Frau im Kampf für eine gerechte Menschheit. Mit Originaltexten aus ihrem poetischen und essayistischen Werk. StudienVerlag Innsbruck / Wien 2022.

[10] Eva Priester: Was war in Ungarn wirklich los? Bericht einer Augenzeugin. Dietz Verlag Berlin 1957.

[11] Archiv der Republik, Bundesministerium für Inneres, Republik Österreich, Zl. 370.329–2/56

[12] Forvm. Doppelheft Januar / Februar 1968, S. 9; https://en.wikipedia.org/wiki/Trial_of_the_Four

[13] Nachlass Ernst Fischer. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.

[14] Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1969; dazu die Besprechung von Ernst Wimmer in Weg und Ziel 1970, Heft 3, S. 14–17.

[15] Jürgen Kuczynski: Freunde und gute Bekannte. Gespräche mit Thomas Grimm. Schwarzkopf & Schwarzkopf Berlin 1997, S. 118; auf seine.

[16] Nachlass Jürgen Kuzynski, Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Thomas Kuczynski (1944–2023) hat veranlasst, dass mir die Kopien des Briefwechsels seines Vaters mit Leopold Hornik durch die Berliner Bibliothek übermittelt werden.

[17] Franz Muhri: Kein Ende der Geschichte. Erinnerungen. Kritische Bilanz. Gedanken über die Zukunft. Globus Verlag Wien 1995. Auf meine Besprechung dieser Erinnerung in der nVs 7–8, 1995, 34 f. antwortete dieser am 27. Juni 1995: […] Es freut mich, dass Du als eine von mir hochgeschätzte Persönlichkeit, diese Schrift kommentierst und möchte versichern, dass ich auch über Deine kritischen Bemerkungen und anderen, zum Teil gegenteiligen Auffassungen, dich voll respektiere, gebührend nachdenken werde. Ich empfinde keine der kritischen Passagen, die ja eine politische Auffassung wiedergeben, als persönlich kränkend, zumal ich weiß, dass sie aufrichtig und ehrlich gemeint sind“.

[18] Walter Baier: Das kurze Jahrhundert. Kommunismus in Österreich. KPÖ 1918 bis 2008. Edition Steinbauer Wien 2009.

[19] Warum sind wir gegen den Kapitalismus? Dietz Verlag Berlin 1. A. 1966 (48 S.)

[20] Richtig: Vom Knüppel zur automatischen Fabrik: Eine Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Berlin Kinderbuchverlag 1. A. 1960

[21] 21. Parteitag der KPÖ vom 28. bis 30. Mai 1970.

[22] Es werden verschiedene Publikationen von Jürgen Kuzynski zu dieser Thematik angesprochen. Viele dieser Gedanken finden sich zuletzt in den posthum publizierten Gesprächen von ihm mit Thomas Grimm „Freunde und gute Bekannte“. Schwarzkopf & Schwarzkopf Berlin 1997; ausführlich in seinen zehnbändigen „Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften“. Akademieverlag Berlin 1975–1978.

[23] Brief von Anfang April 1888, London. MEW 37 (1967), S.42–44.

[24] Lenins Ideen verändern die Welt. Buch I. Reden der Leiter der ausländischen Delegationen auf den Festveranstaltungen anläßlich des 100. Geburtstages W. I. Lenins. APN-Verlag Moskau 1970, S. 87–89.

[25] Wladimir Iljitsch Lenin zum hundertsten Geburtstag. Eine Auswahl aus deutscher und sowjetischer Dichtung über den Begründer des ersten sozialistischen Staates der Welt. Dresden 1970, S. 30.

[26] Ebenda, S. 153–157, S. 155.

[27] Gelegentliches von Albert Einstein. Zum Fünfzigsten Geburtstag 14. März 1929. Dargebracht von der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches zu Berlin. Berlin 1929, S. 20 f.; zitiert auch von Siegfried Grundmann: Einsteins Akte. Einsteins Jahre in Deutschland aus der Sicht der deutschen Politik. Springer Verlag Heidelberg 1998, S. 331.

[28] Leopold Hornik: Ist der Papst ein Marxist? Zur Enzyklika „Populorum progressio“. die arbeit 21. Jg., 1967, Heft 6 (Juni 1967), S.14–17.

[29] Leopold Hornik meint hier Georg (Schurl) Auer (1922–2004) gewesen sein, der 1970 von dcr „Österreichischen Volksstimme“ zur „Wochenpresse“ und „Die Presse“ als Journalist wechselte.

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Quelle: Zeitung der Arbeit

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