11. September 2024

Mit Pablo Neruda zur Kultur der Befreiung und des Friedens

Übernommen von Zeitung der Arbeit:

Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

„Danach erlebten wir die Agonie des Zweiten Weltkrieges. Wir sahen die messianische Maske der Krieger fallen. Wir sahen das wahre Gesicht des Krieges: Galgen und Gaskammern zerstörten für alle Zeiten die Legende von den Rittern, die für ihren Gott, ihren König und ihre Dame kämpften. Nach der Niederlage legten Tausende überlebender Gespenster ein furchtbares Zeugnis ab. Die äußerste Grenze menschlicher Grausamkeit wurde an ihnen sichtbar. Die Ungeheuer wurden zum Teil bestraft. Aber schaudernd fragten wir uns, ob sich dieses unvorstellbare Grauen nicht eines Tages in der Geschichte wiederholen könnte. Später sahen wir, dass der Frieden, dieser so tragisch errungene Frieden, verraten wurde. Ein Staat, der stärker war als die anderen, trug Tod und Zerstörung in Gebiete, die seinem Territorium sehr fern waren. Mit wilder Grausamkeit wurden Städte, Felder und Häuser, wurde das Leben eines kleinen Landes zerstört, dessen Volk, stolz auf seine alte Kultur, eben erst die kolonialen Fesseln gesprengt hatte.“ 

Pablo Neruda: Glühender Glaube an den Frieden. Rede im Stadttheater von Santiago de Chile bei der Entgegennahme des Joliot-Curie-Preises, gehalten am 8. April 1968. In: Pablo Neruda. Ausgewählte Werke. Denn, geboren zu werden … Prosa, Publizistik, Reden. Hg. von Matilde Neruda und Miguel Otero Silva. Aus dem Spanischen von Anneliese Botond und Ulrich Kunzmann. Verlag Volk und Welt Berlin, S. 422–430, hier S. 426.    

Vorbemerkungen

Bei einer Messfeier für Frieden und Gerechtigkeit in Santiago de Chile am 16. Jänner 2018 ruft Papst Franziskus (*1936) den revolutionär denkenden und handelnden Dichter Pablo Neruda (geb. 12. Juli 1904 in Parral, gest. 23. September 1973 in Santiago de Chile) in Erinnerung, weil dieser in seiner 1926 veröffentlichten Erzählung „Der Bewohner und seine Hoffnung“ („El Habitante y su Esperanza“) von Wiederaufbau und Neuanfang der Menschheit spricht, vom Mut zur Hoffnung auf „den neuen Tag“ und vom „Abschütteln einer negativen Niedergeschlagenheit“. In seinem Apostolischen Schreiben „Querida Amazonia“ vom 12. Februar 2019 nennt Papst Franziskus Pablo Neruda als Mitstreiter für den bedingungslosen Einsatz gegen die anhaltende brutale Kolonialisierung durch die imperialistischen Mächte genannt. Ganz allgemein ist Papst Franziskus von der geistigen Kraft literarischer Worte zur Befreiung der Menschen überzeugt. Wir werden sehen, dass es kein Zufall ist, dass das Schaffen von Pablo Neruda, an dessen Klassencharakter kein Zweifel bestehen kann, zuerst in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) für deutschsprachige Leser zugänglich gemacht wurde.

In der Gegenwart wird von den in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Eliten mit der Begründung für den Krieg massiv aufgerüstet und mobilisiert, dass Russland spätestens in fünf Jahren die BRD angreifen werde. Dass die Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) voll hinter dieser Politik steht, entspricht ihrer 100jährigen Geschichte. Immanuel Kant (1724–1804) bleibt im Bücherschrank und wird für die deutschen Kriegspolitiker von deren an den Universitäten ausgebildeten Pressestäben aus Anlass seines 300.ten Geburtstages gerade noch für das eine oder andere Zitat missbraucht. Das war in der 1990 von der Bundesrepublik Deutschland okkupierten und seither von dafür eigens eingerichteten Institutionen denunzierten DDR, von der nie ein Krieg ausgegangen ist, anders. Hermann Klenner (*1926), der zwei Editionen von Kant herausgegeben hat, hat in der Leibniz Sozietät in diesem Jahr einen Vortrag gehalten und auf die antirussische Kriegshetze des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (*1958), der zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant in Berlin eine Rede hielt, Bezug genommen. Auf den mobilen Geräten der deutschen Wehrmacht von heute werden Berichte abrufbar sein, welche gute Erfahrungen israelische Militärs in Palästina mit ihren völkermörderischen Massakern machen und wie ohne viel logistischen Aufwand Frauen und Kinder als „Schutzschilder“ vor sich in den Tod getrieben oder Schulen bombardiert werden.

Pablo Neruda ist in ärmlichen Verhältnissen inmitten von Chile aufgewachsen und hat sich, geboren als Neftalí Reyes Basoalto, als Vierzehnjähriger selbst den Poeten-Namen „Neruda“ ausgesucht. Es war ihm, der sich von den äußeren Umständen nicht fesseln lassen wollte und der auf der Suche nach einem Pseudonym war, der Name „Neruda“ in einer Zeitschrift zufällig begegnet. Das war eine glückliche Intuition, denn der Prager Dichter Jan Neruda (1834–1891) war ein den Armen des Volkes zugewandter, religiös empfindender und optimistischer Dichter. Jan Neruda hat als realistisch denkender Poet Heinrich Heine (1797–1856) und Sándor Petöfi (1823–1849) verehrt.

Erstveröffentlichungen von Pablo Neruda in der Deutschen Demokratischen Republik in Übertragungen von Anna Seghers, Stephan Hermlin und Erich Arendt

Pablo Neruda war in der DDR bekannt geworden durch seinen von Stephan Hermlin (1915–1997) erstmals ins Deutsche übersetzten und im Verlag Volk und Welt 1949 herausgegebenen Gedichtband „Beleidigtes Land“, zu dem Anna Seghers (1900–1983) das Vorwort geschrieben hat. Der dort wiedergegebene „Gesang für Bolivar“ greift das „Vaterunser“ Gebet auf, reiht den Kämpfer für Freiheit von Sklaverei und für Unabhängigkeit Símon Bolivar (1783–1830) unter die Hoffnungsträger der Menschheit und lässt diesen zum Schluss sagen: „Ich erwache alle hundert Jahre, wenn das Volk erwacht“. Stephan Hermlin und Pablo Neruda sind sich nach dem Krieg an vielen Orten öfters begegnet. 1953 erschien im selben DDR-Verlag Volk und Welt von Pablo Neruda „Der grosse Gesang. Canto General“ in einer Übertragung des von den deutschen Faschisten verfolgten, ins Exil geflüchteten und 1950 in der DDR willkommen geheißenen vielsprachigen Literaten Erich Arendt (1903–1984) und mit Illustrationen des chilenischen Künstlers José Venturelli (1924–1988).  Arendt hat Ende der 1960er Jahre zwei Bände „Dichtungen“ von Pablo Neruda übertragen und herausgegeben und 1978 mit Illustrationen von Hannelore Teutsch (*1942) und einem Nachwort von Carlos Rincón (1937–2018) im Insel-Verlag dessen oft doppelbödig zu lesendes Prosabüchlein „Der Bewohner und seine Hoffnung“ in Spanisch und Deutsch.

Das wissenschaftliche, politische und ideologische Umfeld der Karl-Marx-Universität Leipzig zur Verleihung des Ehrendoktorats an Pablo Neruda 

Pablo Neruda wurde im November 1950 in Warschau auf dem dort abgehaltenen 2. Weltfriedenskongress für sein Gedicht „Holzfäller, wach auf!“ der Literaturpreis verliehen. Bei dieser Gelegenheit hatte Pablo Picasso (1881–1973) den Kunstpreis erhalten. 1953 hat die Sowjetunion Pablo Neruda den nach Josef Stalin (1878–1953) benannten Weltfriedenspreis verliehen. Die Initiative zur Verleihung des Ehrendoktorats an Pablo Neruda aus Anlass der 50-Jahrfeier der Oktoberrevolution an der Karl-Marx-Universität Leipzig im Rektorat von Georg Müller (1917–2004) ging mit Zustimmung von Minister Ernst-Joachim Gießmann (1919–2044) vom dortigen Romanischen Institut unter der Leitung von Kurt Schnelle (1923–2006) am 26. September 1967 aus. Drei Jahre zuvor, am 17. Juli 1964, hatte der Leipziger Slawist Rudolf Fischer (1910–1971) für Michail Alexandrowitsch Scholochow (1905–1984) mit der Begründung das Ehrendoktorat der Karl-Marx-Universität beantragt, dieser habe, wie auch Walter Ulbricht (1893–1973) ausgeführt hat, „in seinem Schaffen die entscheidenden Abschnitte der Geschichte des sowjetischen Volkes meisterhaft gestaltet und als kommunistischer Künstler zu den zentralen Problemen unserer Epoche Stellung genommen“. Für Walter Ulbricht hat Scholochow in seinen Schriften „Neuland unter dem Pflug“ oder in der tragischen Bürgerkriegsgeschichte „Der Vater“ Menschen der neuen Zeit dargestellt, die ohne Sucht nach Reichtum und Eigenbesitz um das künftige und mögliche Menschsein ringen. Das Doktordiplom wurde Scholochow, der 1965 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, am 10. Jänner 1966 von Dekan Eberhard Brüning (1925–2023) und dem Slawisten Erhard Hexelschneider (1934–2018) in Weschenskaja am Don überreicht. Das Romanistische Institut der Karl-Marx-Universität in Leipzig war geprägt von den beiden antifaschistischen Widerstandskämpfer und international renommierten Gelehrten Werner Krauss (1900–1976) und Walter Markov (1909–1993).

Nach Leipzig konnte Neruda nicht kommen. In einer feierlichen Zeremonie wurde ihm deshalb das Ehrendoktorat der Karl-Marx- Universität an der Universität in Bogotá am 14. Oktober 1968 überreicht.  Pablo Neruda wusste, dass das sozialistische Deutschland überhaupt erst entstehen hatte können, weil die Rote Armee gegen die für das faschistische Deutschland als führende Macht in Europa und um Kolonien im Osten kämpfende deutsche Wehrmacht einen blutigen, opferreichen Sieg errungen hat. Ein Wendepunkt in diesem Krieg war Stalingrad (1942 bis 2. Februar 1943). In diesem historischen Kontext meldete Pablo Neruda, der damals schon zu den bekanntesten lateinamerikanischen Poeten gehörte, sich inmitten der Kämpfe 1942 mit einem „Neuen Lied der Liebe zu Stalingrad“ zu Wort:

„Stalingrad, noch immer gibt es keine Zweite Front,

Aber du wirst nicht fallen, wenn auch Eisen und Feuer

Tag und Nacht an dir nagen.

Selbst wenn du stirbst, wirst du nicht sterben!

Denn nun haben Menschen keinen Tod mehr,

Sondern müssen weiterkämpfen, wo immer sie fallen,

Bis der Sieg in deinen Händen ist,

Seien sie auch müde, geehrt und tot,

Denn andere rote Hände, wenn die deinen sinken,

Werden die Gebeine deiner Helden hinsäen über die Welt,

Dass deine Saat die Erde erfülle“.

Pablo Neruda war zur Zeit der Abfassung dieses Gedichts Konsul seiner chilenischen Heimat in Mexiko. An einem frühen Morgen klebte er, der seine protokollarischen Verpflichtungen hintanstellte, sein Stalingrad-Gedicht im Stadtzentrum an Hauswänden, um die angeblichen Verbündeten der Sowjetunion, die eine zweite Front verhinderten, bloßzustellen. Für Pablo Neruda bedeutete der Kampf der Sowjets ein Wunder des Widerstands von Menschen gegen die Barbarei. Ilja Ehrenburg (1891–1967) würdigte die Hymnen von Pablo Neruda auf Stalingrad und zitiert dabei dessen „Neuen Liebessang für Stalingrad“.

Pablo Neruda betont in seiner Dankesrede für die Verleihung des Ehrendoktorats aus Leipzig die Rolle der DDR als Faktor für die Erhaltung des Friedens und trug, wie es seiner sozialen Haltung entsprach, sein Poem „Ode auf Lenin“ vor. Im Hinblick auf den zwanzigsten Jahrestag der DDR hat Pablo Neruda in einem Interview in Santiago de Chile festgestellt: „Die DDR ist ein großes modernes Beispiel für den Aufbau eines sozialistischen Staates. Ihr Aufstieg in den letzten Jahren ist eine großartige Tat. Wir Schriftsteller Lateinamerikas erwarten, dass die DDR offiziell durch unsere Regierungen anerkannt wird. Unsere Völker haben sie nicht nur anerkannt, sondern lieben, achten und verteidigen sie“. 1973 emittierte die DDR aus Anlass des Ablebens von Pablo Neruda, der 1971 den Nobelpreis erhielt, eine Gedenkmedaille („Wir schwören, fortzusetzen deinen Weg bis zum Sieg des Volkes“) und 1974 eine Briefmarke ( „Ich läute dem sieghaften Volk den Sturm“). In der dem US-Imperialismus untertänigen BRD mit ihren US-amerikanischen NATO-Stützpunkten wurde bis in die 1960er Jahre hinein Pablo Neruda ignoriert oder offen als „Stalinist“ oder „Leninist“ abgelehnt. Pablo Neruda hat in Chile noch erlebt, wie dessen Präsident (seit 1970) Salvador Allende (1908–1973) dort versuchte, die von ihm in seinen Dichtungen erträumte Utopie einer neuen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Ordnung zu realisieren. Die imperialistischen Kräfte mit den USA an der Spitze unterminierten im Interesse der Reichen mit ihren korrumpierten Militärkadern diese werdende Volksdemokratie. Am 11. September 1973 wurde die Volksfrontregierung von Salvator Allende durch einen blutigen Faschistenputsch unter Anführung von Augusto Pinochet (1915–2006) niedergeschlagen. Zehn Tage hernach starb Pablo Neruda, der geahnt hat, dass Chile zu einem schweigenden Vietnam werden wird.

Dokument

Antrag des Direktors des Romanischen Instituts der Karl-Marx-Universität Leipzig Kurt Schnelle vom 26. September 1967 auf Verleihung des Ehrendoktorats an Pablo Neruda aus Anlass des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution.

Original. Maschineschrift mit eigenhändiger Unterschrift. Bundesarchiv Berlin. 

Der Rat der Hohen Philologischen Fakultät der Karl-Marx-Universität wird hiermit um die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den chilenischen Dichter Pablo Neruda anlässlich des 50. Jahrestages der Grossen Sozialistischen Oktoberrevolution.

Dieser Antrag beruht auf den ausserordentlichen Leistungen eines der grössten und wortmächtigsten Poeten unserer Zeit. Hochgeehrt und anerkannt in seinem eigenen Land und Kontinent, ausgezeichnet mit dem chilenischen Nationalpreis, dem Weltfriedenspreis sowie dem Lenin-Friedenspreis haben wir in Neruda eine Persönlichkeit vor uns, die auf gültige Weise als Dichter und politischer Kämpfer zugleich wirksam war und ist.

Bis zur Feier seines 60. Geburtstages, zu dessen Anlass die Chilenische Nationalbibliothek 1964 einen Zyklus von Konferenzen organisierte, war die Zahl der seinem Werk gewidmeten Kritiken und Arbeiten in spanischer Sprache bereits auf über 700 gestiegen. Die Worte seiner Dichtung und ein politisches Wirken haben in allen Teilen unserer Erde Widerhall gefunden. Bescheiden tritt Neruda hinter sein Schaffen zurück und verweist unablässig auf die von ihm gesehene Einheit von Leben und Werk mit den Worten: „Wenn Sie mich danach fragen, was meine Dichtung ist, so muss ich sagen: Ich weiss es nicht; aber wenn Sie meine Dichtung befragen, so wird sie Ihnen sagen, wer ich bin“.

Der Dichter wurde am 12. Juli 1904 mit dem Namen Neftali Ricardo Reyes geboren. Er legte diesen Namen mit seinen jugendlichen dichterischen Versuchen ab und nannte sich Pablo Neruda. Der Dichter weigert sich nicht mehr mit den Literaturwissenschaftlern anzunehmen, dass ihn der Name des tschechischen Erzähler Jan Neruda angezogen habe. Die Interpreten haben weiter herausgefunden, dass der Vorname Pablo eine Referenz an die drei grossen französischen Dichter Paul Valéry [(1871–945)], Paul Claudel [(1868–1955)] und Paul Éluard [(1895–1952)] darstellen könnte.

Im Verlaufe seiner Oberschulzeit entwickelte sich in ihm, in Auseinandersetzung mit den neuen ästhetischen und dichterischen Diskussionen um das Vermächtnis des 1916 verstorbenen Rúben Darío [(1867–1916)] und der Strömung des Modernismo sowie durch die Bekanntschaft mit Gabriela Mistral [(1889–1957)] , der Drang zur dichterischen Darstellung der neuerkannten Beziehungen zwischen dem aus der feudalen Bindung heraustretenden Individuum und der Gesellschaft. Neruda wurde weiter bekannt mit den Schriften Diderots [Denis Diderot (1713–1784)] , Strindbergs [August Strindberg (1849–1912)] und Gorkis [Maxim Gorki (1868–1936)] . In der Hauptstadt des Landes nahm er dann sein Französischstudium an dem mit ausgezeichneten philologischen Traditionen versehenen Pädagogischen Institut auf. 1924 versicherte sich der Dichter der Anteilnahme der gesamten spanischsprechenden Welt mit seinen „20 Liebesgedichten und einem Lied der Verzweiflung“, in denen er seine poetische Ausdruckskraft meisterhaft erprobte. Seit dieser Zeit ist der Name Nerudas nicht mehr auf den ästhetischen Diskussionen wegzudenken. Bis zum Jahre 961 erreichten seine „20 Liebesgedichte“ die Auflagenhöhe von einer Million Exemplaren.

1927 verließ Neruda Chile, um als Konsul nach Indien, das er lieben lernte, zu gehen. Fünf Jahre lebte er im Orient und weitete seinen Blick für die Welt und die Menschen. Sein weiteres dichterisches Werk bleibt eng verbunden mit den Traditionen der spanischen Dichtung und der chilenischen Folklore. Er schätzte die sogenannten „verworfenen Dichter“ Frankreichs: Baudelaire [Charles Baudelaire (1821–1867)] und Rimbaud [Arthur Rimbaud (1854–1891)]. Den wichtigsten Platz in seiner künstlerischen Entwicklung nahmen aber Walt Whitman [(1819–1892)] und Majakowski [Wladimir W. Majakowski (1893–1930)] ein.

Nach Chile zurückgekehrt übernahm er 1933 für kurze Zeit das Amt eines chilenischen Konsuls in Buenos Aires. Hier lernte er Garcia Lorca [Federico García Lorca (1898–1936)] und dessen Poesie kennen. Sie sollte ihn heranführen helfen aus der Periode seiner Dichtung, die durch Unergründlichkeit und verwickelte Verse gekennzeichnet war, ohne dabei ihre tragische Kraft und aufwühlende Tiefe verloren zu haben. In einer Betrachtung über García Lorca und die spanische Dichtung formulierte Werner Krauss [(1900–1976)], wo der Rückstand Nerudas aufgetreten war:

„Durch die Dichtung fühlt sich der Mensch zu seinem Menschsein berufen. Aber die Botschaft wird von Neruda gehört und noch nicht vernommen …

Selbstbefreiung kann nur auf eine befreite Menschheit zielen. Hier ist der Dichtung der Vorsprung für alle sprachliche Zukunftsbestimmung gegeben. Ihre Sendung ist durch einen Akt der Parteiergreifung erfüllbar.“

Neruda befreite sich aus seinen Verstrickungen. Er ging als Konsul nach Spanien und wurde hier von den grossen spanischen Dichtern der Zeit mit einem Willkommensgruss beehrt, den unter anderen unterzeichneten: Rafael Alberti [(1902–1999)], Vicente Aleixandre [(1898–1984)], Luis Cernuda [(1902–1963)], Federico García Lorca, Jorge Guillén [(1893–1984)], Pedro Salinas [(1891–1951)] und Miguel Hernández [(1910–1942)]. Zum Ersten Internationalen Schriftstellerkongress für die Verteidigung der Kultur delegiert, verband er sich in Paris mit Paul Eluard, Louis Aragon [(1897–1982)], Alexei Tolstoi [(1883–1945)], Henri Barbusse [(1873–1935)] und Ilja Ehrenburg [(1891–1967)].

Nach Madrid zurückgekehrt, setzte er seine Arbeit als Dichter fort und suchte die Bedrohung der Welt und der Dichtung durch den Faschismus zum Ausdruck zu bringen. Der Mord an García Lorca und das blutige Ereignis des spanischen Bürgerkrieges bestimmen ihn, auch in seiner Dichtung Partei zu ergreifen für die Sache des spanischen Volkes. Es entstand seine erste bewusste politische Dichtung: „Spanien im Herzen“. Inmitten des Kampfes und des Todes entdeckte er das Leben neu. Er arbeitete an der Aufstellung einer spanisch-amerikanischen Gruppe der Hilfe für Spanien und mit den Erfahrungen, die er auf dem Zweiten Schriftstellerkongress in Valencias, Madrid und Paris gesammelt hatte, getragen von der Anteilnahme der spanischen Freiheitskämpfer, die mitten im Kampf im Ostheer 500 Exemplare seiner kämpferischen Dichtung druckten, ging er 1939 als Konsul für die spanischen Emigranten nach Paris Er leistete eine grosse Arbeit für die Versorgung der republikanischen Flüchtlinge und half, ihnen neue Lebens- und Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Seine Dichtung erfasste neue Bereiche der menschlichen Existenz und Gemeinschaft. Der Prozess des Wachstums seines künstlerisch-menschlichen Bewusstseins setzte sich dialektisch, dynamisch und vielfältig fort. Liebe und Hass gewannen neue Dimensionen. Als er 1941 nach Mexiko als chilenischer Generalkonsul ging, war seine dichterische und politische Arbeit auf die Erweckung der grossen freiheitlichen Traditionen des ganzen südamerikanischen Kontinents gerichtet. Aufgerüttelt durch den grossen vaterländischen Krieg der Sowjetunion und den Heldenkampf der sowjetischen Völker bezog er Stellung und sagte von sich, dass er geboren sei, um diesen Kampf zu unterstützen. Man suchte die Veröffentlichung seiner Gedichte zu verhindern; sie tauchten dafür als Mauerplakate in den südamerikanischen Städten auf. Die Faschisten versuchten Anschläge auf ihn und als Antwort verlieh ihm die Universität von Michoacán für seinen Kampf gegen den Faschismus und für seine dichterisches Werk den „Doctor Honoris Causa“.

Zu dieser Zeit wurden die ersten Gedichte seines Grossen Gesangs geschrieben und veröffentlicht. Der Autor trat mit dieser Dichtung in die Geschichte seines Volkes, seiner Heimat und seines Kontinents ein. Zugleich schloss er sich der Kommunistischen Partei Chiles an und formulierte in einem Vorwort zur Sammlung von Kriegsberichten Ilja Ehrenburgs:

„Wer jetzt nicht kämpft, ist ein Feigling. Es kommt unserer Zeit nicht zu, sich mit dem Überlebten der Vergangenheit zu befassen oder im Labyrinth der Träume zu forschen. Leben und Kampf der Menschen haben eine solche Grösse erreicht, dass man nur in unserer Epoche, in unserem Kampf die Quellen der Kunst finden kann“.

Die chilenischen Arbeiter wählten ihn als Abgeordneten der Kommunistischen Partei in den Senat. Sein Kampf galt den Rechten der Arbeiter und einer demokratischen Verfassung. Seine Dichtung „Der Grosse Gesang“ setzte er in dieser Zeit fort und besang mit Leidenschaft den nationalen und sozialen Befreiungskampf seines Kontinents. Mit geschichtlichem Optimismus wendet er sich dem Endkampf des Volkes zu. Die Partei wird für ihn zum verlässlichen Führer in diesem Ringen um die Herbeiführung einer wahren menschlichen Gesellschaft und er widmete ihn den Schluss des Grossen Gesangs mit den Worten:

„Du gabst mir die Brüderlichkeit zu ihm, den ich

nicht kenne.

Du hast mir die Kraft aller, die leben, verliehen.

Du liessest mich erstehen auf der Wirklichkeit

wie auf einem Fels.

Du machst zum Feind des Ruchlosen mich und zum Wall

Gegen den Rasenden.

Du liessest mich erkennen das Licht der Welt und

die Möglichkeit der Freude.

Du machst mich unzerstörbar, denn mit Dir hab ich

in mir selbst kein Ende“.

Die Partei, die für die Fertigstellung der grossen Dichtung eintrat, suchte Neruda von der politischen Tagesarbeit zu entlasten. Der Staatsstreich von Gonzales Videlas [Gabriel Gonzáles Videla (1898–1980)] rief indessen Neruda wieder zum politischen Kampf zurück. Er entlarvte als Senator in einem offenen Brief die falsche Politik des Präsidenten. Sein Haus wurde daraufhin in Brand gesteckt und die Regierung klagte ihn des Hochverrats an. In seiner Verteidigungsrede vor dem Senat hat der Dichter unversöhnlich Stellung gegen die Unterdrückung der Arbeiter und der Kommunistischen Partei bezogen. Die Fortsetzung seines Grossen Gesangs schrieb er versteckt in Hinterhöfen und Hütten der Armen und während eines langen illegalen Wanderlebens. Auf dieser Weise formte sich in ihm ein neues Verhältnis zur Chronikdichtung, und der kündigte an, dass er der Geschichte Lauf erzählen wolle.

Im Juli 1948 organisierten die grössten kubanischen Dichter eine Ehrung für den Kämpfer und Dichter Pablo Neruda. Sie gaben ihm neue Kraft für die Fortsetzung seines Lebenswerkes. Als der „Canto General“ 1950 erschien, befand sich Pablo Neruda in Mexiko. Um die Mitte des Jahres verliess er das Land und schiffte sich nach Europa ein. Seine Stimme ertönte schon auf dem 1. Weltfriedenskongress in Paris, in den folgenden Jahren – bis 1953 – lebte er in Paris Prag, Rom, Moskau, Peking, Neu-Delhi und vielen anderen Orten und Ländern Europas und Asiens. Die Frucht seiner Reisen ist der Band „Die Trauben und der Wind“, ein Bericht und eine Preisung all dessen, was er auf seinem Weg zwischen den Trauben Europas und dem Wind Asiens gesehen und erlebt hatte. Man könnte diese Verse als eine Fortsetzung des „Canto General“ betrachten, als einen grossen Gesang von Europa und Asien. Neruda vollendete dieses Werk in Chile. Sein Land konnte nicht länger einem Dichter die Tore verschliessen, den Millionen Menschen der ganzen Welt verehrten.

Sein Werk wuchs und wächst aus der Liebe zum Menschen, zu seiner Heimat, zu seinem Volk und wendet sich der ganzen Menschheit zu. Fortwährend fliessen in seiner Dichtung neue Erfahrungen seines Lebens und des nationalen Befreiungskampfes aller Völker ein. Der Dichter lässt Botschaft an alle Menschen gehen, und er hat erregende Worte des Kampfes gegen den amerikanischen Imperialismus gefunden, gegen die Vergewaltigung von Santo Domingo und die amerikanische Invasion in Vietnam.

In der Person des Dichters und in seinem umfangreichen Werk, dessen ganze Ausdehnung und Tiefe hier unmöglich auszumessen ist, kommt zum Ausdruck, dass das Leben dieses Dichters ein überwältigendes Zeugnis für die Sache des Einzelmenschen, wie die der ganzen auf ihre endgültige Befreiung hoffende Menschheit ist.

Die Hohe Philosophische Fakultät kann keinen würdigeren Partner ihres Ehrendoktors Scholochow [Michail Alexandrowitsch Scholochow (1905–1984)] finden.

K. Schnelle

Prof. Dr. phil. habil. K. Schnelle

Direktor des Romanischen Instituts

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Quelle: Zeitung der Arbeit

ChileKulturZeitung der Arbeit