8. November 2024

Wir verurteilen den Anschlag in Solingen

Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:

Alev Bahadır

Solingen ist eine Gemeinde mit knapp 160.000 Einwohnern in Nordrhein-Westfalen. Am 23. August fand das Gründungsfest der Stadt statt. 650 Jahre sollten gefeiert werden. Beim Stadtfest kam es allerdings zur Tragödie. Ein Mann stach auf mehrere Menschen mit einem Messer ein, drei Menschen starben, acht weitere sind verletzt. Der flüchtige Täter stellte sich später der Polizei. Der 26-jährige Syrer teile laut Bundesanwaltschaft die Ideologie der Terrorvereinigung „Islamischer Staat“ (IS). Der IS hatte sehr schnell den Anschlag für sich beansprucht: „Er hat den Angriff als Rache für Muslime in Palästina und überall ausgeführt“, hieß es. Neben der Trauer um Familienangehörige, Nachbarn und Mitbürger wurde dieser Anschlag sofort ins Feld geführt, um über Migration und Asyl zu debattieren.

Die Frage ist nicht ob, sondern wie

Eigentlich ist es aber keine echte und sachliche Debatte, denn über „verschärfte“ und „beschleunigte“ Abschiebungen wird gar nicht mehr diskutiert. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits nach dem Anschlag an einen Polizisten in Mannheim im Juni erklärt, dass „Gefährder“ nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden sollten. Außerdem kündigte Scholz schärfere Waffenregelungen und eine EU-Taskforce an, die innereuropäische Abschiebungen erleichtern solle. „Wir werden alles dafür tun, diejenigen, die nicht bleiben dürfen, zurückzuführen“, erklärte er. Seine Regierung habe schließlich die Zahl der Abschiebungen in diesem Jahr um 30 Prozent gesteigert.

Auch, wenn er es in sanftere Worte packt, spricht sich SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ebenfalls für Abschiebungen in diese Gebiete aus. Auch Robert Habeck (Grüne) äußert sich wie folgt: „Für Mörder, Terroristen und Islamisten kann es keine Toleranz geben“, Asylsuchende hätten in diesem Fall „den Schutzanspruch verloren“. Drastischer formulieren es nur AfD und CDU. Alice Weidel (AfD) postet, man brauche eine „Migrationswende sofort“. In eine ähnliche Kerbe schlägt die Union. NRW Ministerpräsident Hendrik Wüst spricht über mehr Abschiebungen und einen Aufnahmestopp. Ebenso wie CDU Chef Friedrich Merz. Der fordert schon lange, nicht mehr aufzunehmen. Am besten sollte man direkt an der deutschen Grenze abweisen und Straftäter in zeitlich unbegrenzten Abschiebegewahrsam nehmen. Merz erklärt: „Wir haben Leute hier in Deutschland, die wir nicht haben wollen. Und wir müssen dafür sorgen, dass nicht noch mehr kommen“. Auch Sahra Wagenknecht spricht sich für schnellere Abschiebung und Aufnahmestopp aus.

Auch die Polizei meldet sich zu Wort

Nach solchen brutalen Angriffen geht die Diskussion um Abschiebung immer Hand in Hand mit der Diskussion nach Ausweitung der Befugnisse der Polizei. Am besten sollte noch mehr kontrolliert werden, wenn es nach der Gewerkschaft der Polizei (GdP) geht. An bestimmten „Hotspots“, wie Bahnhöfen sollte mehr Überwachung und Kontrolle möglich sein, schließlich würden an solchen Orten „Straftaten verabredet, vorbereitet oder verübt“. Ein Wunsch, der nur zu gerne von der SPD unterstützt wird. Dabei wissen alle, die schon mal an einem Bahnhof waren und „migrantisch“ aussehen, dass anlasslose Kontrollen längst Realität sind. Mit solchen Regelungen wird Racial Profiling nur weiter juristisch legitimiert.

Willkommen im Reich der Krokodile

Die Tat von Solingen ist verabscheuungswürdig. Das steht außer Frage. Wir alle können uns den Abend lebendig vor Augen führen. Wer genießt es nicht an einem warmen Sommerabend ein Stadtfest zu besuchen? Auf der Bühne spielt Musik, es riecht nach gebrannten Mandeln. Am Bierstand wird laut gelacht, die Kinder genießen die Augustabende, betteln bei ihren Eltern um eine weitere Fahrt auf dem Karussell. Weil für uns alle dieser Abend so bekannt ist, ist die Tat umso schrecklicher. Denn wir wissen, das gleiche hätte auch in Stuttgart, Nürnberg oder Hamburg passieren können, es hätte auch uns passieren können. Und wir sind wütend auf Menschen, die andere gewaltsam aus ihrem Leben reißen. Die unser Zusammenleben nachhaltig zu zerstören versuchen und die dafür sorgen – und das tun sie – dass die Vorurteile gegen uns alle zunehmen.

Der Täter von Solingen muss bestraft werden. Aber wo endet seine Strafe und wo stellen wir Menschen unter Generalverdacht? Selbst Menschen, die sich für Vielfalt und Zusammenhalt engagieren, hört man mancherorts sagen: jetzt ist es genug. Ja, es ist genug. Aber indem wir zulassen, dass Menschen, die Schutz suchen, hier keinen mehr finden können, werden wir kein besseres Leben führen. Wir schotten uns ab und stumpfen ab gegen das Leid der Menschen weltweit. Wenn wir Abschiebungen für Gefährder fordern, kann uns niemand sagen, wer, auch wenn er heute nicht als solcher gelten mag, morgen ein „Gefährder“ sein kann. Wer garantiert, dass morgen Menschen, die sich gegen Rassismus und Hass engagieren, für das Recht auf Asyl und Schutz kämpfen, nicht diejenigen sind, die Friedrich Merz „nicht hier haben will“? Es gibt bereits in Deutschland Urteile gegen politisch Fortschrittliche, die anschließend abgeschoben werden sollten. Im Zusammenhang mit Solingen wird jetzt viel darüber geschimpft, dass der Täter schon vor einem Jahr nach Bulgarien abgeschoben hätte werden sollen, aber sich der Ausreise entzog. Was wäre aber anders, wenn er in Bulgarien diese Tat begangen hätte? Wäre es weniger schlimm, wenn drei Menschen in Sofia statt in Solingen die Opfer geworden wären? Oder müssen wir nicht entschiedener gegen Hass und Ausgrenzung, die den Nährboden für Radikalisierung bilden, kämpfen?

Solingen ist ein Mahnmal. 1993 setzten Neonazis ein von einer türkeistämmigen Familie bewohntes Haus in Flammen. Fünf Menschen starben an dem Tag, entweder in den Flammen oder an ihren Verletzungen, weil sie sich in ihrer Not aus dem Fenster stürzten. Alle fünf Menschen waren noch jung. Die Älteste war 27 Jahre alt, die jüngste keine fünf Jahre. Wie kaum ein anderes Ereignis der Nachkriegsgeschichte steht Solingen dafür, was passiert, wenn wir zulassen, dass Hass und Ausgrenzung an Stärke gewinnen. Wenn die Krokodile versuchen sich an unserem Leid zu nähren. Die Antwort darauf kann nur eins sein: Zusammenhalt. Ob es nun die deutschen Nazis oder der IS-Terrorist oder Politiker sind, die sprechen wie der Wind weht: lassen wir uns nicht spalten!

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben

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