19. Dezember 2024

Agitprop in Amerika

Übernommen von Unsere Zeit:

Der Ausgang des Ukraine-Krieges ist unter anderem und vielleicht vor allem eine Variable des Präsidentschaftswahlkampfes in den USA. Ob US-Präsident Joseph Biden die letzten vier Monate seiner Amtszeit für eine militärische oder eine diplomatische Initiative nutzt, ist offen. Einen Aufschluss könnte seine Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen liefern, die er am Dienstag nach Redaktionsschluss der UZ halten sollte. Bis dahin zögerte Biden, die Einschränkungen für den Gebrauch weitreichender Raketen gegen Russland durch Kiew aufzuheben. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, der seit dem Wochenende in New York war, bekräftigte dort noch einmal sein Nein zur Lieferung von „Taurus“-Marschflugkörpern an Kiew. Aber der Druck auf Biden, die Beschränkungen aufzuheben, nehme zu, urteilte die „New York Times“ am Dienstagmorgen.

Der Druck hat einen Namen: Wladimir Selenski. Seine Bemühungen, die USA und die NATO in den Krieg hinzuziehen, fasste er in einem „Siegesplan“ zusammen, über den er seit Ende August immer wieder öffentlich spricht, ohne Details zu nennen – zuletzt am Freitag vergangener Woche. An diesem Tag war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Kiew gekommen, um einen Kredit in Höhe von 35 Milliarden Euro anzukündigen, der mit Zinsgewinnen aus beschlagnahmtem russischen Staatsvermögen zurückgezahlt werden soll. Die Regel der Staatsimmunität hat der regelbasierte Westen für russische Staatsfinanzen nämlich aufgehoben und damit soeben neues Völker„recht“ geschaffen. In Anwesenheit der EU-Chefin, die sich neben zwei Ultrarechten etliche Russlandhasser in die Kommission geholt hat, drängte der so allseits ermunterte Selenski auf Verwirklichung seines „Siegesplans“ durch seine Sponsoren im Westen: „Der gesamte Plan basiert auf schnellen Entscheidungen unserer Partner, die unverzüglich zwischen Oktober und Dezember kommen müssen. Dann wird der Plan funktionieren.“ Im November wolle er einen zweiten internationalen Friedensgipfel abhalten. Auf diesem könne ein „Schlusspunkt im Krieg“ gesetzt werden.

Das EU-Parlament folgte Selenskis Wunsch und verabschiedetet in der vergangenen Woche eine nicht bindende Resolution, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, von ihnen gelieferte Waffen für den Einsatz auf russisches Gebiet freizugeben.

Am Sonnabend wiederholte Selenski vor seinem Abflug in die USA vor ukrainischen Journalisten, dass der Westen gefälligst die Kastanien für ihn aus dem Feuer holen solle: Biden habe bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt noch wichtige Entscheidungen zu treffen, um die Ukraine zu stärken. Bei seinem für Donnerstag dieser Woche vorgesehenen Treffen mit Biden wolle er einmal mehr darauf drängen, dass die USA ihre Waffen mit großer Reichweite für Schläge weit ins russische Hinterland freigeben: „Wir brauchen Langstreckenwaffen.“ Der Kern des „Siegesplans“ war somit freigelegt: Russland „enthaupten“.

Selenski kündigte an, er wolle auch Kamala Harris und Donald Trump treffen, und behauptete, er wolle dessen Sicht auf den Krieg in der Ukraine „verstehen“. Am Sonntag tauchte Selenski in Pennsylvania in einer Munitionsfabrik auf, die auch Geschosse für Kiew produziert, und führte erst einmal Wahlkampf gegen Trump. Jedenfalls wertete Springers englischsprachige Zeitung „Politico“ das so und schrieb unter dem Titel „Pennsylvania Agitprop“: „Also tat Selenski Harris mit seinem Besuch in Pennsylvania am Montag einen großen Gefallen. (…) Der demokratische Gouverneur Josh Shapiro hofft zweifellos, dass dieser Clip, in dem er Artilleriegeschosse signiert – während der ukrainische Präsident zustimmend zusieht – seinen Weg zu den 758.000 polnischen Amerikanern des Staates findet. ‚Moment mal, habe ich eine solche Zahl nicht schon einmal gehört?‘, fragen Sie. Wahrscheinlich. Während der Debatte mit Trump in diesem Monat sagte Harris, wenn die USA und ihre Verbündeten nicht eingegriffen hätten, um der Ukraine zu helfen, hätte Russlands Wladimir Putin Kiew bereits eingenommen und Polen könnte als nächstes dran sein. ‚Warum sagen Sie den 800.000 polnischen Amerikanern hier in Pennsylvania nicht, wie schnell Sie aufgeben würden‘, sagte sie und rundete ab. Laut AP sind es 784.000 in Michigan und 481.000 in Wisconsin – wichtige Wahlkampfstationen für Harris’ letzte Woche.“

Die Treffen Selenskis mit Scholz sowie den Regierungschefs Indiens und Japans waren da Nebensache, wichtiger der „Druck“ auf Biden im US-Wahlzirkus. Am Dienstag kommentierte der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, auf Nachfrage von Journalisten gelassen: „Der politische Kampf in den Vereinigten Staaten ist derzeit sehr hart, aber die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen dort sind für Moskau nicht ‚Thema Nummer eins‘. Das ist nicht unsere vorrangige Angelegenheit, wir leben mit unseren Problemen, wir leben nach unserer Tagesordnung.“

Quelle: Unsere Zeit

UZ - Unsere Zeit