3. Dezember 2024

Furcht und Schrecken in der Heide

Übernommen von Unsere Zeit:

Menschen sind immer noch Naturwesen. Ihr Territorialverhalten aber ist Produkt der Gesellschaft. Die sortiert sich unter anderem in unterschiedlich wohlhabende Nationalstaaten und differenziert sich zwischen Leben in der Stadt und auf dem Land. Gerade in Zeiten von Krisen und eskalierendem Kulturkampf brechen brodelnde Konflikte an solchen Verwerfungslinien aus: Da wird (völlig falsch) von Überfremdung durch Einwanderung geredet oder (sehr selten richtig) über Fremdbestimmung von außen oder oben. „Der Wolf gehört eben hier nicht her, Punkt“, sagt ein Heidebewohner in Markus Thielemanns Roman „Von Norden rollt ein Donner“ lautstark im Rahmen eines Expertengesprächs über die Rückkehr des Wolfs ins nordostniedersächsische Flachland. Einen Punkt macht er hinter seinen Rufbeitrag aber nicht ehe er noch in Ethnospezizismus kippt: Der Wolf gehöre „in die Vergangenheit oder in andere Länder. Einfach gesagt, passt er eben nicht in unsere deutsche Kulturlandschaft.“

So einfach ist es ja nicht, gibt es doch mehr Ansichten darüber, wie mit dem Raubtier umzugehen sei, als zu Recht besorgte Meinungsträger. Einig ist man sich aber weitgehend, dass man von der Landespolitik im Jahr 2014 mit dem Problem alleingelassen wird. Einzig Friedrich Kohlmeyer, der von ihm mit Papa angesprochene Stiefvater der Hauptfigur Jannes, findet lobende Worte dafür, dass Hannover die Anschaffung von Wolfszäunen und Hirtenhunden bezuschusst.

Dabei ist es gerade Friedrich, der direkt mit dem neuen Nachbarn in Unterlüß anbandelt. Einer mit Wolfsangel, der sich nicht nur den Kleidungsgeschmack mit Götz Kubitschek teilt, dabei aber seine rechte Identitätspolitik so unauffällig in seine Statements einwebt, dass sie erst mal kaum heraushörbar ist und man nur erahnen kann, dass sich hier vorgetastet wird, wie weit die Ohren schon offen sind für Faschistenpropaganda. Aber vorerst wird die Furcht mit den Fingerspitzen gekitzelt: „Ich bin zwar gewöhnlicher Handwerker, aber alleine mit unseren Kids jetzt hier im Wolfsgebiet, da kann man ja Angst bekommen. Das scheint der Politik hier ja ganz egal zu sein. Am Volk vorbeiregiert. Da graust es einem, was?“

Vieles graust: Während seine Schulfreunde in Göttingen studieren oder bei Rheinmetall am Band arbeiten, hat sich Jannes für das so einsame wie fordernde Leben als Heidschnuckenhirte entschieden. Nicht ohne Sachzwang dahinter: Jannes leiblicher Vater ist im Angriffskrieg auf Jugoslawien geblieben – unklar, ob bei einem Unfall oder durch Suizid gestorben. Der Mensch ist dem Wolf ein Wolf: Opa Wilhelm, der den Canis lupus am Liebsten abknallen will, hat seine besten Tage hinter sich, und Friedrich scheint nicht mehr wirklich zurechnungsfähig. Vielleicht Demenz im Frühstadium – es wäre nicht der erste Fall in der Familie: Jannes Mutter Sibylle schmeißt Haus und Hof, und ist die Einzige, die regelmäßig Oma im Heim besucht, die wiederum nur noch monomanisch von „Puschen“ redet, die die Füchse geholt haben sollen.

In den stillen Stunden auf der Heide summiert sich der ganze Wahnsinn in Jannes: Die Panik vorm Wolf, die Ahnung, dieses oder jenes vererbt bekommen zu haben und das Halb- und Viertelwissen darum, wie viele Verbrechen in der malerischen Lüneburger Heide verübt wurden und werden. Auf den Übungsplätzen Bergen und Munster-Nord wird der Krieg geprobt, bei Rheinmetall nebenan das Kriegsgerät geschmiedet. Dem deutschen Imperialismus ist der 1889 gegründete Rüstungskonzern einer seiner liebsten Läden. Während des Faschismus profitierte das Unternehmen, das sich dank der sogenannten Zeitenwende vor Rekordgewinnen kaum retten kann, von der Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die im KZ-Außenlager Tannenberg direkt vor dem Werkstoren interniert waren. Kulturlandschaft und Lebensraum Lüneburger Heide sehen viel Leid und Tod.

Jannes holen die Geister heim. Vier Beine schlecht, zwei Beine aber auch: Irgendwas, ahnt Jannes, ist an der Story faul, die Opa regelmäßig auspackt, wenn er davon berichtet, er habe kurz nach dem Krieg als Handlanger des hiesigen Großgrundbesitzers den Wolf abgeknallt, der das Land unsicher machte. Es braucht also keinen Zuzug neuheidnischer Spinner, um die Heide ins rechte Licht zu rücken.

Markus Thielemann
Von Norden rollt ein Donner
Verlag C. H. Beck, 287 Seiten, 23 Euro

Quelle: Unsere Zeit

UZ - Unsere Zeit