Wozu bedarf es der AfD – bei der Bundesregierung?
Übernommen von Unsere Zeit:
Diplomatie scheint sich die Bundesregierung nicht einmal mehr vorstellen zu können, kritisierte Ulrich Schneider in seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung „Blumen für Stukenbrock“ am 7. September 2024. Der FIR-Generalsekretär erinnerte daran, dass seine Organisation immer für den Kampf um Frieden stand. Er fordert: Entspannung statt Konfrontation. Wir dokumentieren seine Rede in voller Länge:
Ich spreche hier als Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten, die Dachorganisation von etwa 60 Verbänden von ehemaligen Partisanen, Deportierten, Opfern des Faschismus, Kämpfern in den Reihen der Anti-Hitler-Koalition und deren Angehörigen sowie Antifaschisten heutiger Generationen aus über 25 Staaten Europas, mit Mitgliedsverbänden von Portugal bis Russland, von Skandinavien bis Griechenland, aus Israel und aus Lateinamerika.
Unser Dachverband mit seiner bald 75jährigen Geschichte versteht sich nicht als Traditionsverband, sondern als Teil der gesellschaftlichen Kräfte für Antifaschismus, umfassende Menschenrechte, gesellschaftlichen Fortschritt und insbesondere Frieden. Die FIR war in allen Jahren ihres Bestehens ein Verband von Veteranen in Ost und West – ungeachtet des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts. Und wir stehen zu dieser Gemeinsamkeit auch in der heutigen Zeit des Krieges in der Ukraine.
Vor mittlerweile sieben Jahren habe ich anlässlich des 50jährigen Bestehens eurer Initiative hier gesprochen und euch für die beeindruckende Kontinuität der friedens- und geschichtspolitischen Arbeit gedankt. Nachdem wir lange glaubten, dass nun endlich die Zeit der Entspannungspolitik und der gesellschaftlichen Anerkennung der sowjetischen Opfer des Vernichtungskrieges gekommen sei, erleben wir aktuell eine Renaissance des Feindbildes „der Russe“ und die politische Unfähigkeit der Regierung und der überwiegenden Mehrheit der Opposition, etwas anderes als Krieg, Waffenlieferung und Eskalation – insbesondere gegen die Russische Föderation – zu denken. Diplomatie scheint aus dem Vorstellungsvermögen der Politik verschwunden zu sein.
Vor sieben Jahren sprach ich von der Notwendigkeit, geschichtspolitische Verantwortung für die Verbrechen, die von der deutschen Wehrmacht und den anderen Einheiten im Zweiten Weltkrieg – insbesondere im Krieg gegen die Sowjetunion – begangen wurden, zu übernehmen. Und ich rechnete euch vor:
An diesem Ort liegen 65.000 sowjetische Kriegsopfer, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die unter unmenschlichen Bedingungen umgebracht wurden. Das sind ungefähr 1 Promille aller Kriegsopfer im Zweiten Weltkrieg. Wer also diese große Friedhofsanlage betrachtet und diese Zahl mit 1.000 multipliziert, erhält eine ungefähre Vorstellung von der Dimension der damaligen Vernichtungspolitik.
Und es bleibt dabei: Wenn dieser Ort uns irgendetwas historisch lehren kann, dann, dass es angesichts dieser Verbrechen zur bundesdeutschen Staatsräson gehören muss, mit allen Staaten und Völkern der ehemaligen Sowjetunion ein diplomatisches und friedliches Verhältnis zu entwickeln. Deutsche Panzer und deutsche Raketentechnik auf dem Weg nach Moskau sind eine Ohnmachtserklärung politischer Fähigkeit und müssten eigentlich ein absolutes „No go“ sein, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen.
Aber diese politische Unfähigkeit korrespondiert mit der Veränderung der gesamtpolitischen Lage in Europa, die nicht erst in den vergangenen sieben Jahren sichtbar geworden ist. Damals prangerte ich an, dass insbesondere in den Baltischen Staaten, in Polen, Ungarn und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern Geschichtsrevision und Rehabilitierung von Kollaborateuren und Kriegsverbrechern stattfinden.
Mittlerweile müssen wir einen politischen Vormarsch der extremen Rechten in verschiedenen europäischen Staaten konstatieren. In Italien und Ungarn sind offene Faschisten an der Macht. In Finnland, in baltischen Staaten, den Niederlanden und vor einiger Zeit noch in Polen sind sie Teil der Regierungen. In anderen besitzen sie einen solchen Einfluss auf wahlpolitischer Ebene, dass die Regierungen die politische Agenda der extremen Rechten in das eigene Handeln aufnehmen, wie in Frankreich, wo in dieser Woche Präsident Macron einen konservativen Premierminister ernannt hat, der von Le Pens Gnaden abhängig sein wird, in Portugal, in Österreich und – das ist das niederschmetternde Ergebnis der beiden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen – die deutsche Bundesregierung. Wenn Bundesregierung und CDU/CSU als „Antwort auf die AfD“ nur einfällt, die Existenzbedingungen von Flüchtlingen in unserem Land zu verschlechtern, Menschen unter Pauschalverdacht zu stellen und Abschiebungen in Kriegsgebiete entgegen aller völkerrechtlichen Normen durchzusetzen, dann fragt man sich manchmal, wozu es eigentlich noch einer AfD bedarf.
Selbst in den Medien, die zuvor die AfD hochgeschrieben haben, wird jetzt beklagt, dass alle nur noch über die AfD reden würden. Recht haben sie! Warum redet man nicht über die Entwicklung einer Politik, die die Interessen der Menschen – und dazu gehört auch das Bedürfnis, in Frieden leben zu wollen – zum Handlungsmaßstab der Politik macht?
In Kassel beklagte in dieser Woche ein FDP-Politiker, selber Kämmerer der Stadt, ein „Staatsversagen“, als sei der Staat nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Nein, damit meinte er nicht, man müsse die Steuern für die Großkonzerne erhöhen, um die Kommunen, Länder und den Bund in die Lage zu versetzen, ihren Aufgaben gerecht zu werden. Das, was er formulierte, ist AfD-Narrativ und hat mit demokratischer Verantwortung nichts zu tun.
Und dass bundesdeutsche Staatsorgane keine Scheu haben, rechtswidrige Abschiebungen unter Missachtung der Beschlussfassung deutscher Gerichte selbst gegen deutsche Staatsbürger durchzusetzen, wenn sie denn Antifaschisten sind, zeigt, dass hier eine Verschiebung der Rechtsnormen stattgefunden hat, die nicht mehr mit „individuellem Fehlverhalten“ erklärbar ist.
Aber als optimistischer Mensch möchte ich auch daran erinnern, dass wir solchen Entwicklungen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern trotzdem politisch reagieren können.
Im Frühjahr dieses Jahres erlebten wir zum ersten Mal seit langer Zeit, dass, recht spontan, mehrere Millionen Menschen aus Sorge über den Vormarsch der extremen Rechten in allen Teilen unseres Landes – selbst in abgelegenen Landstrichen – auf die Straße gingen. Nein, das war keine „Regierungs-Antifa“, wie sie manchmal denunziert wurde. Das waren besorgte Bürgerinnen und Bürger, Demokraten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Spektren, zum Teil Menschen, die seit Jahren nicht mehr an Demonstrationen teilgenommen hatten und sehr viele junge Menschen. Diese Aktionen zeigen ein demokratisches Potential in unserer Gesellschaft, das sich erstmals öffentlich artikulierte. Leider sind diese Aktivitäten in den vergangenen Monaten wieder etwas eingeschlafen. Auch konnten sie – wie die Wahlen zum Europaparlament und in den ostdeutschen Länderparlamenten zeigten, die überzeugten AfD-Wähler nicht von ihrer Wahlentscheidung abhalten. Aber sie zeigen ein gesellschaftliches Potential für die Verteidigung unserer demokratischen Verfasstheit, auf das es aufzubauen gilt.
Wir sprechen heute viel von einem gemeinsamen Europa. Ich möchte daran erinnern, dass die Grundlagen für dieses Europa gelegt wurden im Kampf gegen die faschistische Barbarei – und zwar von allen Kräften der Anti-Hitler-Koalition, den militärischen Einheiten der sowjetischen Streitkräfte und der westlichen Alliierten sowie dem antifaschistischen Widerstand. Sie kämpften damals, wie es im „Schwur von Buchenwald“ heißt, für die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln und die Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit.
Auch die Überwindung des Kalten Krieges war das Resultat von Entspannungspolitik und Völkerverständigung, wozu die Völker selber mit ihrem Eintreten einen erheblichen Beitrag geleistet haben.
Doch all das spiegelt sich in dem Verständnis und der Politik der Europäischen Union heute in keiner Weise wider.
Stattdessen erleben wir mit den Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Jahr einen deutlichen Zuwachs von extrem rechten Parteien, rassistischen und nationalistischen Tendenzen, sowie einen Demokratieabbau. Denn das ist die Konsequenz des Zuwachses der extremen Rechten in Europa. Es geht denen nicht um mehr Souveränität für Nationalstaaten, sondern um einen autoritären Umbau des heutigen Europas und eine Militarisierung.
Deshalb sind selbst die Kräfte der extremen Rechten nicht gegen den Aufbau einer europäischen Armee, wenn sie denn im nationalen Interesse die Grenzen der „Festung Europa“ schließt. Und die vielbeschworene „Solidarität mit der Ukraine“ hat dort ihre Grenzen, wo aus der Sicht der extremen Rechten die nationalen Interessen betroffen sind.
Dabei geht es ihnen überhaupt nicht um „Frieden“, sondern nur darum, ihre nationalen Interessen durchzusetzen.
Und so sehen wir die italienische Faschistin Giorgia Meloni an der Seite der militärischen Unterstützung der Ukraine, weil sie sich davon die finanzielle Unterstützung der EU für italienische Projekte und einen Freibrief für ihren rechten Staatsumbau verspricht. Und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mehr als einmal gezeigt, dass sie dem zu folgen bereit ist.
Viktor Orbán aus Ungarn spricht sich nicht aus Gründen der Friedenspolitik gegen die Unterstützung der Ukraine aus, sondern weil er aus nationalem Interesse preiswerte russische Gas- und Öllieferungen möchte. Wenn er jetzt erleben muss, dass die EU Ungarn weder gegen die einseitigen ukrainischen Sanktionen unterstützt, noch ihm finanzielle Kompensationen anbietet, lässt ihn das noch massiver gegen EU-Militärhilfen für die Ukraine auftreten. Friedenspolitik ist das jedoch nicht.
In Frankreich wendet sich Marine Le Pen gegen den Vorschlag von Präsident Macron, französische Soldaten in die Ukraine zu entsenden, aber nicht, weil sie für Frieden wäre, sondern weil sie meint, dass damit die nationalen Interessen Frankreichs missachtet würden.
Auch die AfD wettert in unserem Land – gerade bei den Landtagswahlen im Osten – öffentlich gegen deutsche Waffenlieferungen. Aber nur wenige nehmen ihre Begründung wahr. Die AfD sieht dadurch die Handlungsfähigkeiten der Bundeswehr in Frage gestellt, für deren Aufrüstung sie selbstverständlich eintritt. Mit Friedenspolitik hat das wahrhaftig nichts zu tun.
Und so könnte man die Betrachtung fortsetzen. Man würde kein Beispiel finden, wo die extreme Rechte sich für Entspannung und Abrüstung einsetzt. Eine gestärkte Rechte im Europäischen Parlament ist daher eine deutliche Schwächung der Friedenskräfte. Umso lauter müssen außerparlamentarische Stimmen sein, die zeigen, wie viele Menschen sich gegen Militarisierung und Eskalation, für Abrüstung und Entspannungspolitik einsetzen. Die heutige Aktion, wie auch die über 100 Aktionen am vergangenen Wochenende zum Antikriegstag, sind solche Zeichen, auch wenn sie lauter und deutlicher hätten sein können. Erkennbar ist es uns noch nicht gelungen, das vorhin benannte demokratische Potential dieser Gesellschaft für den Friedenskampf zu mobilisieren. Es bleibt uns aber nichts übrig, als weiterhin unser Anliegen für Frieden und Entspannungspolitik und für die Bewahrung der Erinnerung immer wieder öffentlich zu vertreten.
Vor sieben Jahren habe ich meine Ansprache mit einem Appell beendet, der – und das bedauere ich zutiefst – heute noch von ungebrochener Aktualität ist. Gerade deshalb wiederhole ich ihn hier und jetzt:
Im Interesse der Menschen in unserem Land und in Russland – und an dieser Stelle ergänze ich: sowie der Ukraine – müssen wir uns gegen jede Verschärfung politischer und militärischer Spannungen in Europa wehren.
In Erinnerung an die hier in Stukenbrock begrabenen Opfer der faschistischen Aggressionspolitik sollte unsere Parole lauten: Entspannungspolitik statt Konfrontation! Das formulierte ich vor sieben Jahren, es ist bis heute aktuell. Für eine neue Ostpolitik und eine neue Westpolitik, die die Außenpolitik unseres Landes und der EU nicht zu einem Befehlsempfänger der US-Politik degradieren lässt!
Das sind wir den sowjetischen Toten und ihren Angehörigen, aber auch unseren eigenen Bürgern gegenüber schuldig.
Quelle: Unsere Zeit