19. November 2024

Nein zu US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland!

Übernommen von Bundesausschuss Friedensratschlag:

Positionspapier des Bundesausschusses Friedensratschlag 2024

Die überraschende Verkündung einer von Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden getroffenen Vereinbarung am 10.7.24, ab 2026 in Deutschland drei Typen konventioneller Mittelstreckenwaffen zu stationieren, die gegen Russland gerichtet sind, erfordert vor allem Aufklärung. Wir fragen: Was ist über die zu stationierenden Waffensysteme bekannt? Welche Aufgaben sollen sie erfüllen? Stimmt die Absicht, Russland von einem Angriff auf die NATO abzuschrecken, mit den Fähigkeiten dieser Waffen überein? Welche Folgen wird die Stationierung für Deutschland und Europa haben? Wie stichhaltig sind die Argumente der Befürworter der Stationierung?

Diesen Fragen sind wir nachgegangen und kommen zu folgendem Schluss: Es ist eine brandgefährliche Entwicklung, die der Stationierung von strategischen Nuklearwaffen Anfang der 80er Jahre sehr ähnelt. Neben der Aufklärung muss es einen laut vernehmbaren Widerspruch und Widerstand gegen dieses existenzgefährdende Vorhaben der deutschen Regierung geben.

WAFFEN ZUR ABSCHRECKUNG RUSSLANDS?

Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz eines kann, dann ist es das Überrumpeln. Das gilt nicht nur für Gegner, sondern auch für Freunde. Nach dem Coup am 27.2.22, für eine bis dato nie dagewesene Aufrüstung der Bundeswehr Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro zu machen, verbunden mit dem Tabubruch, fortan Kriegswaffen in Kriegs- und Krisengebiete liefern zu wollen, folgte am 10.7.24 die zweite Überrumpelung. Beides jeweils ohne vorherige öffentliche oder parlamentarische Debatte. Aus einer dürren achtzeiligen bi-lateralen Erklärung der US-amerikanischen und deutschen Regierung geht hervor, dass die USA ab 2026 konventionelle Waffensysteme der Typen SM-6, Tomahawk und hypersonische Waffen in Deutschland stationieren „werden“. Diese Stationierung „weit reichender Waffensysteme“ in einer Multi-Domain-Taskforce sei zunächst zwar nur zeitweilig, ziele jedoch auf eine dauerhafte Stationierung. Die Maßnahme und ihre „Beübung“ sollen der „integrierten europäischen Abschreckung dienen“. 1

STANDORTE FÜR DIE NEUEN US-WAFFEN

Die angesprochene Multi-Domain-Task-Force (MDTF), sie erhielt die Ordnungsnummer zwei von weltweit insgesamt fünf, ist im US-Heereshauptquartier für Europa und Afrika in Wiesbaden-Erbenheim angesiedelt. Die übergeordnete Kommandostelle ist das EUCOM in Stuttgart. Bereits 2019 hatte die US-Army für 2021 die Aufstellung einer MDTF in Europa anvisiert. Im April 2021 kündigte US-Verteidigungsminister Austin in Berlin persönlich an, 500 US-Soldaten zusätzlich für die MDTF nach Deutschland zu entsenden.2 Einiges Aufsehen erregte dann im November 2021 die Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos (56th Artillery Command) in Wiesbaden. Warum? Weil exakt dieser Verband bis 1991 das Kommando über die nuklearen 108 Pershing II innehatte, bis diese infolge des INF-Vertrages3 abgerüstet wurden. Nun war es wieder da, das Artilleriekommando, zusammen mit seinen Kanonieren von damals, der 41. Feld-Artillerie-Brigade (41st Field Artillery Brigade4), die damals als eine von drei untergeordneten Bataillonen die Pershings befehligte. Sie ist auch heute wie damals in Grafenwöhr (Bayern) stationiert. Allein schon diese Parallelen wecken Befürchtungen, wie sie massenhaft entstanden, als es ab Ende 1979 um die Stationierung US-amerikanischer Nuklearwaffen in Deutschland und Europa ging.

Über die Spezifikation der neuen Waffen, die zum Teil noch nicht ganz fertig entwickelt sind, ihre Anzahl und ihren besonderen Zweck gibt die Erklärung von Biden und Schulz keine Auskunft. Abschrecken sollen sie, liest man.

SPEZIFIKATION DER US-MITTELSTRECKENWAFFEN

BODEN-BODEN-MITTELSTRECKENRAKETE STANDARD-MISSILE (SM) 6

In US-Navy und US-Luftwaffe sind SM-6 zur Flugkörperabwehr und als Anti-Schiffswaffe im Einsatz. Die für Deutschland vorgesehene SM-6 soll eine ballistische Rakete als Boden-Boden-Waffe sein, die ihre Einsatzreife 2024 erreichen soll.5 Laut einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) soll es sich um ihre Variante 1 B handeln, der eine Reichweite von „über 1.600 km“ zugemessen wird.6 Das entspricht der direkten Entfernung Grafenwöhr bis etwa 150 km vor Moskau. Die Flugdauer dürfte weniger als zehn Minuten betragen. Die SM-6 werden von neu entwickelten Typhon-Batterien verschossen, die unter anderem aus 4 LKW mit jeweils 4 Starterzellen bestehen, so dass 16 SM-6 eine Batterie bilden.7 Die Typhon-Batterie wird auch für den Start der Marschflugkörper Tomahawk verwendet.

Auch hier bilden 16 Tomahawk eine Batterie. Marschflugkörper werden mit einer Hilfsrakete (Booster) gestartet, die nach dem Start abgeworfen wird. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 880 km/h bewegt sich der Flugkörper dann entlang von programmierten Geländepunkten, um vom gegnerischen Radar möglichst unentdeckt zu bleiben, in Flughöhen unter 200 m (meist 30 bis 90 m) ins Ziel. Der Tomahawk-Gefechtskopf soll 450 kg konventionellen Sprengstoff enthalten und das Ziel auf 10 m genau treffen können.8 Die Reichweite soll – je nach Typ zwischen 1.650 und 2.500 km liegen.

Für den Fall, dass die USA Tomahawks mit der großen Reichweite (2.500 km) aufstellen würden, kämen vier der insgesamt 11 russischen Divisionen mit Silos ihrer nuklearen Interkontinentalraketen (ICBMs) in die Reichweite der Tomahawks. Das entspricht etwa der Hälfte ihrer insgesamt 326 ICBMs.9 Zusätzlich wird die strategische Stabilität durch Tomahawks dadurch gefährdet, weil sie sechs der insgesamt 12 russischen strategischen Frühwarnradaranlagen angreifen könnten, wenn Tomahawks der langen Reichweite verwendet würden, aber auch bei der kürzeren Reichweite wären es zwei oder drei.

Das stellt aus russischer Sicht objektiv einen Angriff auf das strategische Gleichgewicht dar, wie es im noch gültigen START III-Vertrag10 zwischen den USA und Russland festgelegt ist. Russland muss die Stationierung weitreichender Tomahawk als einen Angriff auf seine nukleare Zweitschlagskapazität werten.

Zur Erinnerung: Die USA stationierten vorübergehend (bis März 1986) 64 von geplant 96 nuklear bestückten Tomahawks in Rheinland-Pfalz, 11 bis sie durch den INF-Vertrag abgerüstet wurden. Sämtliche der heute über 4.000 Tomahawks im US-Waffenarsenal sind konventionell bewaffnet.12 Wie die damalige Geschichte zeigt, ließen sie sich auch heute wieder mit einem Nuklearsprengkopf bestücken.

STRATEGISCHE HYPERSCHALLRAKETE DARK EAGLE

Sie ist von den drei Waffentypen die mit Abstand gefährlichste. Die außerordentliche Effektivität von Hyperschallraketen ergibt sich aus einer Kombination von Geschwindigkeit (> Mach 5) und der vom Verteidiger nicht vorhersehbaren Manövrierfähigkeit des von der Rakete abgelösten Gleitflugkörpers bei gleichzeitig sehr hoher Präzision. Sie gelten als nicht abfangbar. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums erreichen US-Hyperschallsprengköpfe eine Geschwindigkeit von Mach 17 (> 20.000 km/h)13

Weltweit sollen fünf Dark Eagle-Batterien aufgestellt werden, was den global-strategischen Charakter dieser Waffen unterstreicht. Die erste MDTF wurde 2017 in den USA aufgestellt. Ihr fehlten lediglich noch die Raketen. 14

Eine Dark-Eagle-Batterie besteht aus vier Sattelschleppern, die je zwei zweistufige Feststoffraketen in Containern tragen. Somit verfügt jede Batterie über acht Raketen. „Die komplette Batterie kann durch mehrere C-17-Flugzeuge in eine Konfliktzone verlegt werden.“15 Die Verlegung an Land kann nur auf befahrbaren Straßen stattfinden, nicht in unwegsamem Gelände.

DARK EAGLE: WEITREICHENDE MITTELSTRECKENRAKETE

Unter US-Präsident Trump erging im August 2019 der Entwicklungsauftrag für die Rakete an Lockheed Martin. Dessen Vorgänger-Firma Martin Marietta hatte einst die Pershing II entwickelt. Der bisher einzige geglückte Flugtest einer Dark Eagle am 28.6.24 von Hawaii zu den Marschallinseln stellte seine Reichweite von „über 2.000 Seemeilen“ unter Beweis.16 Das sind mindestens 3.700 km. Die reale Weite übertrifft die bisherige offizielle Angabe (2.785 km) demnach um rund 1.000 km. Somit wären damit von Grafenwöhr Ziele bis etwa 500 km jenseits des Ural-Gebirges in Russland zerstörbar. Damit gerät nicht nur die politische Führung und das militärische Zentralkommando in Moskau ins Visier, sondern auch sieben der insgesamt 11 Divisionen der russischen nuklearen ICBMs. Insgesamt betrifft das 212 der 326 ICBMs Russlands. Die Dark Eagle würden zugleich acht der 12 Frühwarnradaranlagen Russlands ins Visier nehmen können. 17 Mit anderen Worten: eine Batteriesalve Dark Eagle könnte zwei Drittel der strategischen Frühwarnradare ausschalten, was Russland weitgehend blind gegenüber US-Angriffen mit Nuklearwaffen machen würde – und erpressbar. Oder eine Salve Dark Eagle zerstört auf einen Schlag zwei Drittel der russischen nuklearen Zweitschlagskapazität am Boden. Diese neuen Möglichkeiten unterstreichen die außerordentliche Bedrohung, der sich Russland durch Dark Eagle aus Deutschland ausgesetzt sieht. Die Stationierung der Hyperschallwaffe Dark Eagle bedroht das strategische Gleichgewicht zwischen Russland und dem Westen in weit höherem Maße als die beiden anderen neuen Waffentypen es tun.

Bisher ist das einzig infrage kommende Raketen- und Flugabwehrsystem, das Russland gegen Hyperschallangriffe schützen könnte, das russische System S-500 Prometheus18, von dem nach langer Entwicklungszeit 2021 „mehr als 10 Systeme“ bestellt sein sollen und das sich seit 2022 in der Serienproduktion befinden soll. 19 Die Kosten für das komplette System in seiner höchsten Ausbaustufe werden mit 2,5 Milliarden Dollar beziffert, so dass seine Herstellung als komplex und zeitraubend gelten muss. So ist momentan ein Wettrennen im Gange, ob Russland zuerst seine S-500 aufgestellt hat, oder die USA ihre Dark-Eagle-Batterie in Deutschland. Lockheed benötigt für die Herstellung einer Rakete etwa sechs Wochen, für eine Batterie (8 Raketen) etwa 11 Monate.20 Ein unvollständiges S-500-System soll bereits in Moskau installiert sein, für ein weiteres auf der Krim reklamiert Kiew die Zerstörung, was von Moskau bestritten wird. Es ist zu befürchten, dass die Aufstellung der US-Offensivwaffen schneller geschieht als die russischen Abwehrmöglichkeiten installiert sind.

Vom US-Außengebiet Guam in Mikronesien aus könnten Dark Eagle Pjöngjang und möglicherweise auch Peking erreichen.

Die strategische Aufgabe des Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW) Dark Eagle ist gegenüber dem US-Kongress definiert: „Das LRHW-System bietet dem Heer ein strategisches Offensivwaffensystem zur Bekämpfung von Anti-Access/Area Denial (A2/AD)-Fähigkeiten, zur Unterdrückung gegnerischer Langstreckenartillerie und anderer hochwertiger/zeitkritischer Ziele.“21 Obwohl in dieser Liste russische Stellungen ihrer Interkontinentalraketen oder Großradaranlagen nicht genannt werden, schließt dies nicht aus, dass auch sie in die Zielplanung einbezogen werden. Die russische Seite muss von dieser weitreichenden Bedrohung ausgehen. Angriffsziele und Aufgaben der Dark Eagle werden auf höchster militärische Ebene festgelegt, dem US Strategic Command (STRATCOM), das auch für Nuklearwaffeneinsätze zuständig ist. 22

DARK EAGLE: DIE ENTHAUPTUNGSWAFFE

Die außerordentlich ernste Bedrohung durch US-Hyperschallwaffen haben die Präsidenten Russlands und Chinas öffentlich frühzeitig betont. Am 21.2.2022, drei Tage vor dem Angriff auf die Ukraine, sprach der russische Präsident Putin die Stationierung bodengebundener Angriffswaffen der USA in der Ukraine an, wie sie nach der – wie er es nannte – „Zerstörung“ des INF-Vertrags 2019 durch Trump ermöglicht wird. Putin sagte: „Die Flugzeit von Marschflugkörpern ‚Tomahawk‘ nach Moskau beträgt weniger als 35 Minuten, für ballistische Raketen aus dem Raum Charkow – 7 bis 8 Minuten und für die Hyperschall-Schlagmittel – 4 bis 5 Minuten. Das bezeichnet man als ‚das Messer am Hals.‘“23 Da gewöhnlich etwa 5 Minuten für die Verifikation benötigt werden, ist eine Reaktion auf einen Angriff damit aus der Ukraine oder auch aus den baltischen Staaten auf Moskau faktisch unmöglich. Die Wirkung wäre tödlich. Putin fürchtet offensichtlich einen Enthauptungsschlag. Diese militärische Aufgabe war vor 40 Jahren auch den Pershing II zugedacht gewesen. Stehen wir vor einem Déjà-vu?

In einer von Putin und Chinas Präsident Xi am 4.2.2022 abgegebenen „gemeinsamen Erklärung“ ist folgende Passage in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung: „Die Seiten stellen fest, dass die Kündigung einer Reihe wichtiger internationaler Abkommen im Bereich der Rüstungskontrolle äußerst negative Auswirkungen auf die internationale und regionale Sicherheit und Stabilität hat. Die Seiten äußern ihre Besorgnis über den Fortschritt der Pläne der USA zur Entwicklung einer globalen Raketenabwehr und zur Stationierung ihrer Elemente in verschiedenen Regionen der Welt, verbunden mit dem Aufbau eines Potenzials hochpräziser nichtnuklearer Waffen zum Zweck eines Enthauptungsschlages und zur Lösung anderer strategischer Aufgaben.“ 24 Die Präsidenten Russlands und Chinas werten die US-Hyperschallwaffen als Enthauptungsschlagwaffen, die gegen sie als Person gerichtet sind.

Allein schon die Aufgabenstellung, „zeitkritische Hochwertziele“ zerstören zu können, rückt die politische Führung ins Visier. Zeitkritisch bedeutet, das bewegliche Objekt muss zu dem Zeitpunkt getroffen werden, zu dem es sich nicht bewegt. Das ist am effektivsten mit einer superschnellen – und zudem noch präzisen – Waffe erreichbar. Kosten spielen für ein solches Ziel kaum eine Rolle. Der US-Rechnungshof rechnet für die Hightech-Waffe Dark Eagle mit einem Stückpreis von 41 Mio. Dollar.25

NEUE US-EINSATZDOKTRIN MULTI-DOMAIN-OPERATIONS (MDO) IST AGGRESSIV

MDO ist das vierte grundlegende Einsatzkonzept der US-Army nach „AirLand Battle“ (1986), „Full Spectrum Operations“ (Anfang der 2000er) und „Unified Land Operations“ (Anti-Terrorismus seit 2011).26 Die Multi Domain Task-Force (MDTF) bildet für die USA das „organisatorische Kernstück“27 im MDO-Konzept.

Einen wichtigen Meilenstein zur Definition der MDO setzte die „Joint Air and Space Power Conference 2019“ (JAPCC) in Essen.28 Aus einer Einführung in das Thema Multi-Domain Operations (MDO), die das Planungsamt der Bundeswehr im November 202329 veröffentlichte, erfahren wir, dass außer den USA, die NATO und andere NATO-Staaten auch die Bundeswehr sich dieses strukturierende Konzept in einem „Marathon“ zu Eigen machen will. Wir erfahren, dass MDO „spätestens seit 2017 in der Diskussion“ sind, in Wirklichkeit tauchten schon 2016 konturierte Überlegungen zur Multi-Domain-Battle im Netz auf,30 also weit vor Beginn des Ukrainekriegs.

ZIEL DER MDO: DOMINANZ

Im Papier des Planungsamts der Bundeswehr lesen wir: „Heute hat sich MDO zu einem Paradigma westlicher Kriegsführung entwickelt. Ziel ist militärische Dominanz gegenüber Gegnern, die sich militärisch und technologisch auf Augenhöhe zu den westlichen Streitkräften befinden, sogenannten ‚Peer-Gegnern‘. Hierfür reicht die bisher praktizierte Zusammenarbeit der Teilstreitkräfte in klassischen Joint Operations nicht mehr aus.“ (S.8) „Die NATO unterscheidet insgesamt fünf operative Dimensionen (englisch: domains); Land, Luft, See, Weltraum und Cyber“. (S.10) Über die Merkmale von Multi-Domain Operations: „Im Kern geht es bei MDO um das umfassend orchestrierte und sich gegenseitig fördernde Zusammenwirken von Effekten aus mehr als einer Dimension. In ihrer Gesamtheit sollen sie dazu beitragen, die Prozesse eines Gegners zu überfordern, Prioritätendilemmata zu erzeugen (Fußnote im Originaltext: Damit ist gemeint, dem Gegner im Grunde nur noch schlechte Reaktionsmöglichkeiten zu geben und möglichst seine Ressourcen zu überfordern, sei es Zeit, Personal, Material) und dadurch eigene Vorteile zu gewinnen.

ZIEL DER MDO: ÜBERFORDERUNG

Erreicht wird diese Überforderung durch die Schnelligkeit der eigenen Aktionen, die Anzahl der Effekte und ihre Richtung aus und in alle Dimensionen. Dabei muss es nicht immer um letale kinetische Effekte gehen. Im Cyber- und Informationsraum können bspw. auch nicht-letale, nichtkinetische Effekte das gewünschte Resultat erbringen. Auch bei MDO gilt der Grundsatz, dass Informationsüberlegenheit zu Entscheidungsüberlegenheit und das wiederum zu Wirkungsüberlegenheit führt.“ (S.11) „Voraussetzung und bestimmendes Merkmal von MDO ist die umfassende Vernetzung. Zweck ist die zeitliche Verkürzung des Ablaufs zwischen Auffassen des Ziels durch Sensoren, Entscheiden über die erforderliche Wirkung und Auslösen des Effektors. Diese sog. ‚sensor-decider-shooter-chain‘ soll so schnell wie möglich ablaufen. Hierbei ist zweitrangig, welcher Sensor das Ziel aufklärt und aus welcher Teilstreitkraft der Effektor stammt. Entscheidend ist die Bekämpfungsgeschwindigkeit.“ Der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) ist dafür maßgebend. (S.13) „Das Ziel, durch viele verschiedene Effekte aus allen Dimensionen und in alle Dimensionen den Gegner zu überfordern, bedingt zukünftig viele Ereignisse nahezu gleichzeitig ablaufen zu lassen.“ (S.14)

Auffallend ist, dass in dieser Einführung aus dem Haus des Planungsamts der Bundeswehr vom Ziel der Abschreckung nirgendwo die Rede ist – wohl jedoch vom Streben nach eigener Dominanz, die durch Schnelligkeit, Vernetzung und effektiven Waffeneinsatz den Gegner überfordern soll.

Das spätestens seit 2017 bekannte MDO-Konzept, das auf weitreichende Präzisionswaffen setzt, um Russland und China zu überfordern, konnte bei Fortbestehen des INF-Vertrages nicht umgesetzt werden. Diese Säule der strategischen Stabilität musste also fallen.

ABSCHRECKUNG ODER ANGRIFF?

Ein aktueller Grundsatzartikel in der Militärzeitschrift Europäische Sicherheit & Technik des Brigadegenerals a.d. Heinrich Fischer hebt hervor, dass mit der „Gemeinsamen Erklärung“ zur Stationierung der drei Mittelstreckenwaffen in Deutschland „der Weg geebnet“ ist „zur Implementierung des Multi-Domain Operations Konzepts im Verantwortungsbereich der US Army Europe and Africa.“31 Fischer: „Die zentrale Idee des US Army Multi Domain Operations (MDO) Konzepts ist die schnelle und kontinuierliche Integration aller Domänen der Kriegführung mit dem Ziel, eine hohe Abschreckungswirkung vor dem Ausbruch von Feindseligkeiten. Sollte die Abschreckung versagen, wird die US Army zunächst vorrangig die gegnerischen Anti Access/Area Denial (A2/AD) Fähigkeiten bekämpfen und desintegrieren.“ Er erklärt die Begriffe: „Anti Access ist die Fähigkeit, gegnerischen Streitkräften das Eindringen in einen Operationsraum zu verwehren, während Area Denial auf das Verwehren der Operationsfreiheit im Einsatzraum abzielt. Mit der durch den erfolgreichen Kampf gegen die gegnerischen A2/AD Systeme gewonnenen eigenen Operationsfreiheit soll dann der Gegner geschlagen und damit die eigenen Ziele erreicht werden.“ 32

MULTI-DOMAIN TASK FORCE (MDTF) SETZT MDO UM

Die Umsetzung des MDO-Konzepts erfolgt über die Multi-Domain-Task Force (MDTF), unter dessen Kommando die drei Typen US-amerikanischer Mittelstreckenwaffen in Deutschland aufgestellt werden. Fischer beschreibt militärisch knapp die Funktion der MDTF: „Sie synchronisiert dimensionsübergreifende Effekte und weitreichendes Präzisionsfeuer vor allem gegen feindliche A2/AD Fähigkeiten und Kräfte und ermöglicht damit der Joint Force das Erreichen ihrer operativen Ziele. Ihre Hauptfunktionen sind folglich: Wirkung durch multiple Effekte, Feuerunterstützung in der Tiefe, Schutz vor allem gegen Luftfeind und eigene Durchhaltefähigkeit.“33

Jonas Schneider und Torben Arnold vom regierungsnahen Thinktank SWP wenden dieses Konzept konkret auf die neue US-Raketenstationierung an: Die Kernaufgabe der drei Raketensysteme sei, „Russlands Anti-Access/ Area-Denial (A2/AD)-Kapazität mit Hilfe neuer Technologien und Konzepte zu überwinden: Moskau hofft, in einem Krieg das Gros der Nato-Kräfte vom Kampfgebiet an seiner Grenze fernzuhalten, indem es mit Raketen und Marschflugkörpern deren Aufmarsch und Versorgung unterbindet oder mit Schlägen gegen einzelne Nato-Länder deren Einlenken erzwingt.“34

WER BEDROHT WEN?

Das Narrativ der Autoren setzt voraus, dass die NATO sich mit ihrer exorbitanten Steigerung der Rüstungsausgaben, des Anwachsens des NATO-Bedrohungsarsenals, der immer größer und zahlreicher werdenden Kriegsmanöver entlang der russischen und weißrussischen Westgrenzen, des Ausbaus von Militärstützpunkten in den neuen NATO-Mitgliedsländern lediglich gegen ein vermeintlich angriffsbereites Russland wehrt. Die unterstellte Bereitschaft Russlands über die Grenzen der Ukraine hinaus NATO-Gebiet angreifen zu wollen, ist realitätsfern. Diese Annahme setzt auf russische Selbstmordabsichten. Das ist absurd.

Das Magazin DER SPIEGEL brachte im Februar 2024 eine Gegenüberstellung von militärischen Kräften. Es berief sich auf aktuelle Daten des renommierten Jahrbuchs The Military Balance 2024, das vom NATO nahen International Institute for Strategic Studies (IISS) herausgebracht wird. 35 Demnach stehen 3,2 Millionen Soldaten der NATO-Staaten 1,1 Millionen Soldaten Russlands gegenüber. Die NATO verfügt über 6.030 Kampfflugzeuge, Russland hat 1.377. Die NATO zählt 8.901 Kampfpanzer, Russland 2.000. Bei der Artillerie ist das Verhältnis 21.879 zu 5.485, bei U-Booten 143 zu 50 und bei großen Kriegsschiffen 274 zu 33 zu Gunsten der NATO.36 Als Faustregel der Kriegsführung gilt, dass der Angreifer über die dreifache Überlegenheit an Soldaten und Kriegsmaterial gegenüber dem Verteidiger verfügen muss, um den Krieg zu gewinnen. Das gilt für das freie Feld. Beim Kampf in Ortschaften und Städten ist eine fünf- bis achtfache Überlegenheit für den Sieg notwendig. Der Vergleich zeigt, dass die NATO-Überlegenheit bei Soldaten das Dreifache, bei schweren Waffen des Heeres und der Luftwaffe mindestens das Vierfache Russlands, bei der Marine das Drei- bzw. das Achtfache beträgt. Oberst a.D. Wolfgang Richter macht in einer umfangreichen Studie über die neue Stationierung der US-Waffen darauf aufmerksam, dass Russland „über ein breites Spektrum von dual use-fähigen land-, luft- und seegestützten Langstreckensystemen im Kurz und Mittelstreckenbereich verfügt. […] Die NATO- Partner verfügen zwar nicht über konventionelle landgestützte Marschflugkörper oder ballistische Raketen im Mittelstreckenbereich, jedoch ebenfalls über ein breites Arsenal von luft- und seegestützten Wirkmitteln sowie landgestützte Kurzstreckenraketen.“ Richter schlussfolgert: „Generell sind die Luft- und Seestreitkräfte der NATO denen Russlands qualitativ und quantitativ deutlich überlegen.“37 Das Gesagte demonstriert klar eine strategische NATO-Überlegenheit im konventionellen Bereich, was komplett das Gegenteil dessen ist, was uns tagtäglich suggeriert wird. In Wirklichkeit muss sich nicht die NATO gegen russische Überlegenheit wappnen, sondern Russland muss sich von der NATO bedroht fühlen.

Weil laut Schneider/Arnold ein ungestörter NATO-Aufmarsch an den Westgrenzen Russlands/Weißrusslands nicht gewährleistet sei und selbst durch den Aufbau einer Raketen- und Luftabwehr nicht abgesichert werden könnte, benötige man neue weitreichende Mittelstreckenwaffen. Sie schreiben: Dessen „erste Aufgabe ist es, jene russischen Deep-Strike-Fähigkeiten, welche die Allianz auf Distanz halten sollen, ins Fadenkreuz zu nehmen (hold at risk) und eventuell zu zerstören, bevor sie auf Nato-Gebiet feuern. […] Die zweite Aufgabe der Mittelstreckenwaffen besteht darin, wenigstens einige zeitkritische Hochwertziele in Russland zerstören zu können. Hierzu zählen mobile Kommandozentralen oder Abschussrampen für ballistische Raketen und Marschflugkörper. So wird Russland signalisiert, dass die Nato bei einem Angriff gegen sich die Option hat, die russische Fähigkeit zur Fortsetzung der Kampfhandlungen massiv einzuschränken – was abschrecken soll.“38

Aber: Die angesprochenen möglichen strategischen Ziele in Russland beständig zu gefährden (hold on risk), löst dort einen dauerhaften Alarmzustand aus, so dass die Gefahr von Fehlalarmen zunimmt, welche aufgrund der extrem kurzen Vorwarnzeiten wiederum zu falschen Reaktionen, unter Umständen auch zum Start von Nuklearwaffen, führen können. Dadurch könnte Moskau aber auch zu einem Präventivangriff auf die Kommandozentren und Stationierungsorte der US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland provoziert werden, die Moskau anschließend als versehentlich kommunizieren könnte.

Der Rat von Schneider/Arnold, von NATO-Seite aus als erste anzugreifen, bedeutet unmittelbar den Beginn des 3. Weltkriegs, der in einem nuklearen Inferno endet, und der Deutschland zum Schlachtfeld macht und somit der Vernichtung preisgibt. Diese Art von Politikberatung propagiert offen den Angriffskrieg auf Russland und spielt mit unser aller Leben.

Würde sich die NATO von ihrem martialischen Aufrüstungskurs (NATO-Militärausgaben 2024: 1.474,4 Milliarden US-Dollar 39, Russland ca. 110 Mrd. US Dollar) und der Verschwendung öffentlicher Ressourcen verabschieden und einen Interessenausgleich auf der Basis einer gegenseitig kontrollierten Abrüstung auf niedrigem Niveau suchen, die auch im konventionellen Bereich zu einem strategischen Gleichgewicht führt, wäre die Furcht vor der angeblichen A2/AD-Fähigkeit Russlands aus der Welt.

ARGUMENTE DER STATIONIERUNGSBEFÜRWORTER UND DIE ENTGEGNUNG

REAGIEREN USA LEDIGLICH AUF RUSSISCHE „MITTELSTRECKENWAFFEN“?

Aus einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ): „Die USA reagieren damit auf die Entwicklung und Stationierung von Mittelstreckenwaffen durch Moskau. Russland hat als erstes Land mit der Wiederaufrüstung in diesem Bereich begonnen. Es verfügt über Marschflugkörper, die vom Vorposten Kaliningrad aus fast ganz Europa erreichen können einschließlich Berlin, Paris und London. Die Stationierung der Marschflugkörper SSC-8 ab 2017 stand am Anfang der jetzigen Entwicklung. Weil diese russischen Waffen mit einer Reichweite von mindestens 2.000 Kilometern gegen den Abrüstungsvertrag INF (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) verstieß, stiegen die USA 2019 aus dem Abkommen aus. Zu jenem Zeitpunkt hatte Russland heimlich offenbar bereits 64 Mittelstreckenwaffen stationiert.“40

ISKANDER-RAKETEN IM „VORPOSTEN KALININGRAD“

2008 bereits drohte Russland in Kaliningrad Iskander-Raketen aufzustellen, falls die USA in Polens Norden und in Rumänien Raketenabwehrsysteme des Typs SM-3 errichten sollten. Die USA behaupteten, diese seien gegen (bis heute nicht entwickelte) iranische Langstreckenraketen gerichtet, was Russland als Vorwand und somit als Provokation wertete. Sie bedrohen seine nukleare Zweitschlagsfähigkeit. Obama stoppte im September 2009 das US-Vorhaben, Russland verzichtete auf die Stationierung in Kaliningrad. Im Juli 2010 jedoch unterzeichnete US-Außenministerin Hillary Clinton mit Polens Außenminister Radoslaw Sikorski eine Übereinkunft, in Redzikowo (unweit von Polens Ostseeküste) ein Raketenabwehrsystem des Typs SM-3 errichten zu wollen. 2013 wurde bekannt gegeben, dass es sich um 24 Raketen des Typs SM-3 Block IIA handeln soll, die 2018 aufgestellt sein sollten.41 Diese US-Abwehrrakete ist sowohl gegen iranische also auch gegen russische ICBMs einsetzbar, weil sie über eine Reichweite von 1.200 km und eine Flughöhe von bis zu 1.050 km verfügt. Der Iran verfügt über keine ICBMs, Russland schon. Russland begann ab 2013 damit, vorübergehend Iskander-M-Raketen in Kaliningrad zu stationieren, die gegen die US-Installation in Redzikowo gerichtet sind. Seit Mai 2018 ist im Stationierungsort Tschernjachowsk im Oblast Kaliningrad (gut 300 km östlich von Redzikowo gelegen) eine Brigade mit 12 Raketen des Typs 9M723 dauerhaft stationiert. Die Reichweite der Rakete wird mit 480 bis 500 km angegeben.42 Sie kann einen konventionellen oder einen nuklearen Sprengkopf tragen. Die USA haben seit Dezember 2023 die Station in Redzikowo in Betrieb und diese auf dem NATO-Gipfel in Washington im Juli 2024 an die NATO übergeben.43 Von einer Stationierung russischer Marschflugkörper in Kaliningrad, wie es die NZZ behauptet, ist nirgendwo die Rede.

NICHT PUTIN, TRUMP BRACHTE DEN INF-VERTRAG ZU FALL

Der 1988 in Kraft getretene INF-Vertrag legte fest, dass die beiden Vertragsparteien USA und Sowjetunion ihre an Land stationierten nuklearen Kurz- und Mittelstreckenwaffen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km verschrotten. Sie und ihre Abschussrampen wurden bis 1991 ebenso zerstört wie ihre Infrastruktur. Der INF-Vertrag verbot ihre Wiedereinführung, Flugerprobung, Produktion und Depotlagerung. Das gilt gleichermaßen für nuklear und konventionell bestückte Raketen und Marschflugkörper, die an Land stationiert werden, und deren Startanlagen. Allerdings gestattete der Vertrag Testflüge von fest installierten Rampen aus, sogar mit unerlaubten Reichweiten, wenn diese Flugkörper später nicht an Land aufgestellt werden.

Der Vertrag galt weltweit für die USA und die Sowjetunion (und ihre Nachfolgestaaten) – für sonst niemanden. Bis 2001 noch hatte es Inspektionen gegeben, die seine Einhaltung überwachten. Seitdem nicht mehr. Es gibt im Vertrag einen Streitschlichtungsmechanismus, der aber nicht angewendet wurde.

Die Ankündigung im Oktober 2018 vom damaligen US-Präsidenten Trump, den Vertrag zu verlassen, kam überraschend, denn die NATO hatte noch im „Juli 2018 […] einmütig erklärt, der INF-Vertrag sei für die europäische Sicherheit von grundlegender Bedeutung und müsse erhalten bleiben.“44 Russland wurden Vertragsverletzungen vorgeworfen und Moskau wurde Anfang Oktober 2018 von den NATO-Verteidigungsministern aufgefordert, den Vertrag einzuhalten und offene Fragen transparent zu klären.45 Am 22. Oktober 2018 bekundete der russische nationale Sicherheitsberater, Nikolai Patruschew, in Anwesenheit seines US-Gegenübers, John Bolton, „in aller Offenheit zur Klärung der Sachlage beitragen“46 zu wollen. Die USA haben das russische Angebot einer Klärung nicht aufgegriffen. Stattdessen wurde Russland noch zwei Monate Zeit gegeben, ihre SSC-8- bzw. 9M729-Marschflugkörper zu verschrotten, damit die USA im Vertrag bleiben können. Russland kam der Aufforderung nicht nach. Die USA kündigten den Vertrag dann einseitig am 2.2.19. Russland zog daraufhin nach. Den INF-Vertrag gibt es seit dem 2. August 2019 nicht mehr. Russland hatte sich für seinen Erhalt ausgesprochen, obwohl es den USA seinerseits zahlreiche Vertragsverstöße vorwarf.

Was waren die US-Vorwürfe gegenüber Russland? Im Wesentlichen der, dass Russland angeblich seit 2007 einen landgestützten Marschflugkörper mit verbotener Reichweite teste. Ende November 2018 konkretisierte der damalige US-Geheimdienstkoordinator die Vorwürfe47. Demnach hätte Russland zwei Tests auf seinem Testgelände Kapustin Jar durchgeführt. Einmal von einem festen Startgerät aus, mit einer Reichweite deutlich über 2.000 km. Das war durchaus vom INF-Vertrag gedeckt gewesen, wenn der Flugkörper anschließend nicht an Land stationiert wird. Der zweite Test sei von einer mobilen Startanlage erfolgt, die Reichweite habe hier deutlich unter 500 km gelegen. Auch das war erlaubt. In beiden Fällen habe es sich aber um dieselbe Rakete gehandelt, behaupten die USA. Folglich habe man daraus unzulässige Vergleiche für die Nutzung von beweglichen Startrampen ziehen können. Das werfen die USA den Russen als Vertragsbruch vor. Allerdings fehlen öffentliche Belege für die Flüge und auch darüber, dass es sich um denselben Flugkörper gehandelt habe.48 Die USA hatten lediglich den Außenministern der NATO-Staaten im November 2018 einen Satellitenfilm vorgeführt, „der die Flugbahn eines landbasierten Marschflugkörpers SSC-8 mit einer Reichweite von weit mehr als 500 km dokumentiert.“ So DER SPIEGEL damals. Und weiter: „Die Bundesregierung bewertet die Beweise nach einer Analyse des BND als überzeugend.“49 Das kann man glauben oder nicht. Anfang Dezember 2018 machte sich die NATO die US-Version zu Eigen. Russland bestritt die Vorwürfe.

Einladungen an USA und NATO, die inkriminierten Marschflugkörper in Augenschein zu nehmen und zu untersuchen50, kamen die USA nicht nach.

DER SPIEGEL schildert das sehr anschaulich: „Die Russen hatten am Dienstag (15.1.2019 d. Verfasser) in Genf angeboten, ihren Marschflugkörper SSC-8 vor Ort zu begutachten. […] Jon Wolfsthal zufolge, einst Abrüstungsberater von Barack Obama, ist das Angebot ‚ein großer Fortschritt‘. Auch Obamas ehemalige Topdiplomatin Alexandra Bell sieht darin eine Möglichkeit. Doch die US-Delegation lehnte ab. […] Robert Schmucker, ehemaliger Uno-Waffeninspekteur, und Wolfgang Richter, früher Verifikationsexperte der Bundeswehr, halten eine Vor-Ort-Inspektion für ausreichend, um diesen großen Unterschied (gemeint sind 480 zu über 2.000 km Reichweite. d. Verf.) zu klären. Dazu müsse man bloß Länge und Durchmesser der SSC-8 kennen.“51 Die USA lehnten Vor-Ort-Inspektionen ab und kamen nicht.

Die USA gaben vier angebliche Stationierungsstandorte der SSC-8 in Russland bekannt:52 Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Jedes der vier Bataillone verfügt über vier Startfahrzeuge auf Rädern, die jeweils vier Raketen abschießen können – ergibt zusammen 64 Stück.“53

Russland gibt zu, dass sie über diesen Flugkörper verfügt, gibt seine Reichweite aber mit 480 km an, was der INF-Vertrag erlaubte. Die Frage stellt sich, warum nutzten die USA die Angebote der Russen nicht?

WAS FOLGTE AUF DAS INF-VERTRAGSENDE?

Trumps Ankündigung vom Oktober 2018, den Vertrag zu kündigen, zeigte schon die Richtung an. Die Zeit zitierte Trump damals: „Wir werden die Vereinbarung beenden, und dann werden wir die Waffen entwickeln“, sagte der US-Präsident. „Wir werden es nicht zulassen, dass sie ein Nuklearabkommen verletzen“ und sich Waffen zulegen, „während es uns nicht erlaubt ist“, sagte Trump.54

Angesichts dieser US-Drohung kündigte Russland Anfang Februar 2019 konkret symmetrische Gegenmaßnahmen an: die Entwicklung einer Landvariante des seegestützten Marschflugkörpers Kalibr. Kalibr ist konventionell oder nuklear bestückbar und fliegt seegestützt bis zu 2.600 km weit.55 Ihr Bau sei für 2019 oder 2020 geplant, sagte der damalige russische Verteidigungsminister Schoigu im Februar 2019. Hinzu komme die Entwicklung einer hyperschallschnellen Mittelstreckenrakete. Allerdings würden diese neuen Waffen erst dann aufgestellt, nachdem die USA ihre Systeme aufgestellt hätten. Ansonsten sei Moskau unverändert gesprächsbereit.

Im Februar 2019 dokumentierte die ARD-Sendung Monitor ein Papier, worin der US-Kongress schon im Jahr 2017 bewilligte, „einen konventionellen bodengestützten Marschflugkörper zu entwickeln.“ 56 Und zwar „ausdrücklich einen konventionellen.“ Allerdings habe John Bolton, der damalige Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Trump, aus einem Memo aus dem Dezember 2018, so Monitor, das Wort „konventionell“ gestrichen. Das heißt, Bolton eröffnete die Möglichkeit für eine nukleare Variante.

Im März 2019 berichtete DER SPIEGEL, die USA hätten „begonnen, landgestützte konventionelle Marschflugkörper mit Reichweiten über 500 km zu bauen“ und „angekündigt, im August erste Testflüge mit dem neuen Marschflugkörper durchführen zu wollen.“57 Und genau das erfolgte am 18. August 2019 – 16 Tage nach Ende des INF-Vertrages. Ein Tomahawk-Marschflugkörper wurde von einer an Land aufgestellten Vorrichtung des Typs MK41 aus gestartet. Er flog mehr als 500 km weit und traf das Ziel genau. 58 Die US-Zeitung The Hill gibt seine Reichweite mit 1.000 km an.

Der Ablauf macht deutlich, dass es den USA bei den Vorwürfen von angeblichen Vertragsverletzungen an die russische Seite nicht darum ging, den INF-Vertrag zu retten, sondern Vorwände zu haben, ihn zu kündigen. Das machte den Weg für die Entwicklung von präzisen Mittelstreckenwaffen frei, die nun auf dem Globus verteilt gegen aus ihrer Sicht unbotmäßige Regime in Stellung gebracht werden können.

Die russische Seite hat erklärt, dass sie den NATO-Ankündigungen, nur konventionell aufzurüsten, nicht glaubt, sondern unterstellt der NATO Pläne zur nuklearen Bewaffnung.59 Die russische Seite hat angekündigt, dass sie ausschließlich nuklear antworten werde, weil sie nicht vorhersagen könne, welche Gefechtsköpfe montiert seien – ob konventionelle oder nukleare. Am selben Tag noch, am 28.6.24, als der erste erfolgreiche Dark-Eagle-Test bekannt wurde, kündigte der russische Präsident Putin an, dass er die Produktion von atomwaffenfähigen Kurz- und Mittelstreckenraketen wieder aufnehmen werde, um dann zu überlegen, wo sie stationiert werden sollen.60

Das bedeutet, wer glaubt, durch die Stationierung von Mittelstreckenwaffen gegen Ziele in Russland Deutschland und Europa dem Frieden ein Stück näher zu bringen, unterliegt einem Irrtum. Im Gegenteil: Die Gefahr eines gegenseitigen Aufrüstens wurde damit initiiert – mit dem Potenzial, weiter bis zu einem Atomkrieg zu eskalieren.

RUSSLAND AGGRESSIV – NATO ZURÜCKHALTEND?

Aus einem Kommentar in der NZZ: „Bis jetzt wollen die Amerikaner nur wenige Raketen in Deutschland aufstellen. Russland besitzt laut einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik 500 bodengestützte Mittelstreckenraketen, die Nato in Europa bis jetzt keine einzige. Der Schritt der Amerikaner ist also kalibriert. Damit zeigt die Nato Putin, das sie auch anders kann, zugleich signalisiert sie Zurückhaltung.“61

Die angesprochene Analyse ist die von Schneider/Arnold. Konkret listen die beiden Autoren darin „landgestützte Mittelstreckenwaffen“ Russlands auf, also jene angeblichen russischen „Deep-Strike-Fähigkeiten“, von denen eine Bedrohung ausgehe.

500 RUSSISCHE RAKETEN AUF EUROPA?

Schneider/Arnold schreiben: „Moskau verfügt über den Marschflugkörper SSC-8 (Zahl im hohen zweistelligen Bereich), der den INF-Vertrag 2019 zu Fall brachte, seit 2023 über die Raketen Zolfaghar aus Iran (400 Stück) und KN-23 aus Nordkorea (etwa 50 Stück). Die seegestützten Hyperschall-Marschflugkörper Zirkon (Zahl im hohen zweistelligen Bereich) verschießt Russland seit 2024 auch von Land aus. Von seiner ballistischen Iskander-Version SS-26 müsste Moskau trotz ihres Einsatzes gegen die Ukraine deutlich über 100 Stück haben (Fachleute betrachten die SS-26 als Mittelstreckenwaffe). Die Bilanz: Russland besitzt weit über 500 bodengestützte Mittelstreckenflugkörper, die Nato in Europa bislang keinen einzigen.“62

Auf Belege für ihre Datenangaben verzichten die Autoren gänzlich. Eine Untersuchung ihrer Angaben kommt zu anderen Ergebnissen als die beiden Autoren.

IRANISCHE RAKETE ZOLFAGHAR

Insbesondere die Angaben zur iranischen Rakete Zolfaghar sind falsch. Im Februar 2024 wurde berichtet, hohe iranische Beamte hätten bestätigt, dass der Iran seit Anfang Januar 2024 „über 400 ballistische Kurz- und Mittelstreckenraketen nach Russland verlegt hat, darunter Hunderte von Fateh-110-Varianten, und mehrere Zolfaghar, mobile mit Feststoffantrieb versehene ballistische Kurzstreckenraketen, für den Einsatz in der Ukraine.“63 „Mehrere“ bezeichnet eine kleine zweistellige Zahl. Die Schussweitenangabe für Zolfaghar-Raketen beträgt 700 km.64 Die Frage stellt sich, was sich Russland davon versprechen soll, mit wenigen aus Iran besorgten Raketen einen Aufmarsch von NATO-Truppen zu unterbinden? Die Reichweiten der Fateh-110 und ihrer Varianten werden mit 200 bis 500 km angegeben.65 Sie rangieren somit unter Kurzstreckenraketen. Die Neue Zürcher Zeitung berichtete am 13.9.24, dass von diesen Waffen auf dem Gefechtsfeld bisher noch nichts gesehen worden sei, und man sich wundere, dass neuerdings von der Lieferung anderer iranischer Kurzstreckenraketen die Rede sei. 66 US-Außenminister Blinken habe die Lieferung Hunderter iranischer Kurzstreckenraketen bestätigt. Es handele sich hauptsächlich um die Typen Fath-360 (Reichweite 120 km, 150 kg Sprengkopf) und Abadil-Raketen (Reichweite 86 km, 45 kg Sprengkopf). Iran und Russland dementieren diese Lieferung. Die NZZ: „Es ist unklar, warum Iran diese Kurzstreckenraketen verkauft und nicht die Raketen mit einer längeren Reichweite wie die Fateh-110 und die Zolfaghar, an denen Russland ursprünglich interessiert war.“67 Aus diesen Berichten geht hervor, dass es zu der von Schneider/Arnold angegebenen Lieferung gar nicht gekommen ist.

NORDKOREANISCHE RAKETE KN-23

Für die nordkoreanische Feststoffrakete KN-23 finden sich Reichweitenangaben von 450 bis 900 km, in Abhängigkeit von der Masse des Gefechtskopfs. Sie werden mobil von LKW aus gestartet. Ihre Zielabweichung beträgt zwischen 35 und 200 m.68 Gemeinhin gilt sie als Kurzstreckenrakete (Reichweiten 150 bis 800 km69) Eine aktuelle staatsanwaltschaftliche Untersuchung der Ukraine 70 stützt die SWP-Darstellung in keiner Weise. Sie ergab, dass von 50 im Zeitraum Ende Dezember 2023 bis Ende Februar 2024 gestarteten KN-23 in Richtung Ukraine nur von 21 Raketen Trümmerteile identifiziert worden seien. Die Hälfte aller 50 gestarteten KN-23 sei von der Flugbahn abgekommen, so dass deren Trümmer nicht aufgefunden werden konnten. Hieraus ergeben sich Fragen an die SWP-Autoren: Augenscheinlich wurden sämtliche 50 KN-23 bereits verschossen. Weshalb werden sie dennoch berücksichtigt? Ist man innerhalb der SWP wirklich der Meinung, dass derart unzuverlässige nordkoreanische Raketen eine ernsthafte Bedrohung für Deutschland oder ein anderes Land, in dem die NATO aufmarschiert, darstellen?

RUSSISCHE HYPERSCHALLRAKETE ZIRKON

Die Hyperschallrakete Zirkon wurde als Schiff-Schiffs-Flugkörper entwickelt, ihre maximale Geschwindigkeit wird mit Mach 9 angegeben, die Reichweite von 450 bis maximal 1.000 km. Inwiefern sie mit westlichen Luftabwehrsystemen im Endanflug abfangbar ist, ist umstritten.71 Die Angabe von Schneider/Arnold, die Zirkon würden seit 2024 auch von Land aus verschossen, geht möglicherweise auf die Spekulation zurück, dass ein Zirkon-Treffer in Kiew möglicherweise von einem an Land befindlichen russischen K-300-Küstenabwehrsystem, das für diesen Zweck umfunktioniert wurde, gestartet wurde. 72 Denn im Schwarzen Meer seien zu dem Zeitpunkt keine dafür geeigneten russischen Kriegsschiffe stationiert gewesen. Falls K-300 umfunktioniert wurde, wofür es keinen Beleg gibt, kämen nur ihre mobilen Varianten K-300 Bastion P73 in Frage. Es gibt nur eine dieser Abwehrsysteme, von denen aus deutsches Territorium mit Zirkon beschossen werden könnte: in Kaliningrad. Andere dieser Raketensysteme sind im hohen Norden, am Schwarzen Meer oder im äußersten Osten Russlands stationiert. Hier drängt sich die Frage auf: wenn die angebliche Gefahr im nahen Kaliningrad lauert, weshalb werden dann US-Raketen aufgestellt, die um ein Mehrfaches weiterfliegen? Hingewiesen sei auf den Umstand, dass die in der Ostsee eingesetzten deutschen Korvetten mit mindestens 160 konventionellen Marschflugkörpern bis 2026 ausgestattet werden sollen, die aus mehr als 200 km Entfernung – wenig störanfällig – in der Lage sind, Landziele mit einer Genauigkeit von 1-2 Metern zu treffen.

RUSSISCHE ISKANDER

Bei den angesprochenen straßenmobilen ballistischen Kurzstreckenraketen Russlands sind die Typen 9M720 Iskander und 9M723 Iskander M (SS-26) gemeint, deren maximale Reichweiten mit 415 km bzw. bis zu 500 km angegeben werden. 74 Sie gehören zweifelsfrei in die Kategorie Kurzstrecken- und nicht Mittelstreckenrakete. Nach Angaben der Jahrbücher The Military Balance hat Russland die Anzahl dieser Raketen in den letzten Jahren nicht wesentlich erhöht. Im Jahrbuch 2020 steht dafür die Anzahl 140, im Jahrbuch 2024 wird die Anzahl 150 angegeben, allerdings mit dem Hinweis versehen, dass sie möglicherweise nur in sehr begrenzter Anzahl verfügbar seien.75 Sie sind auf 12 Iskander-Brigaden über ganz Russland verteilt. Vier von ihnen sind im Westen76, der einzigen Region, aus der heraus NATO-Gebiet erreichbar wäre. Somit kämen wir auf maximal ein Drittel der Gesamtzahl 150, also auf maximal 50 und nicht auf 100, so wie Schneider/Arnold behaupten. Um Polen zu bedrohen, könnte dies auch von Belarus aus geschehen. Auch hier stellt sich die berechtigte Frage, was will Russland mit dieser kleinen Anzahl von Raketen gegen einen NATO-Aufmarsch in Polen, Deutschland oder dem Baltikum ausrichten?

Die Zahl der vom SWP ins Feld geführten 500 Mittelstreckenflugkörper erweisen sich als Luftnummer. Zum einen handelt es sich nicht um Mittelstreckenwaffen, sondern um Kurzstreckenflugkörper. Das bedeutet, eine „Deep-Strike-Fähigkeit“ Russlands ist ein Popanz. Und zum anderen reduziert sich die Zahl 500 auf gut ein Fünftel dessen.

US-RAKETEN: ANTWORT AUF UKRAINE-KRIEG UND NEUE RUSSISCHE ATOMWAFFEN?

Das führt abschließend zur Beurteilung der wesentlichen Aussagen des SPD-Präsidiumsbeschlusses vom 12.8.24. Ein Kernsatz über die Stationierung lautet: „Dieser Schritt ist eine Reaktion auf den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands in der Ukraine und trägt der Bedrohung Europas durch die massive russische Aufrüstung der vergangenen Jahre gerade im Bereich der Raketen mittlerer Reichweite Rechnung.“77

Den Angriff Russlands auf die Ukraine als Begründung für den Stationierungsbeschluss heranzuziehen, ist dreiste Geschichtsklitterung: Das MDO-Konzept der aggressiven, auf Schnelligkeit und Überrumpelung setzenden Angriffsoptionen unter Einsatz von weitreichenden Präzisionswaffen ist seit 2016 bekannt, Trump kündigte den INF-Vertrag 2019, die Aufträge für die Entwicklung von Hyperschallraketen und ihre Gleitflugkörper durch Trump erfolgte 2019, 2021 kam die MDTF-Truppe nach Wiesbaden. Dies alles geschah vor dem 24.2.22. Es kann keine Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine sein. Dass es eine massive russische Aufrüstung bei Mittelstreckenraketen gegeben hat, ist widerlegt.

Aus dem SPD-Präsidiumsbeschluss: „Darüber hinaus hat Russland in den vergangenen Jahren die Modernisierung seines Nukleararsenals beschleunigt und nuklear bestückbare Raketen in Position gebracht, die nicht nur aus Kaliningrad, sondern weit aus dem rückwärtigen Raum Russlands bis nach Westeuropa reichen. Der Aufbau dieser nuklearen Kapazitäten mittlerer Reichweite durch Russland war eine eklatante Verletzung des INF-Vertrags.“78

Wir haben gesehen, dass die USA das Angebot Russlands, die inkriminierten Reichweiten ihrer SSC-8 zu überprüfen, ablehnten, um Russland eines Bruchs des INF-Vertrags zu bezichtigen. In der SPD-Stellungnahme wird das einseitige russische Moratorium, keine Boden-Boden-Raketen zu stationieren, ignoriert. Die angesprochenen Raketen, die „weit aus dem rückwärtigen Raum Russlands bis nach Westeuropa reichen“, sind Kurzstreckenraketen, die dort seit 2017 sind und Westeuropa nicht erreichen können. Das bedeutet, von russischen „Deep-Strike“-Kapazitäten kann keine Rede sein. Bleibt Kaliningrad als inkriminierter Stationierungsort. Es stellt sich die Frage, weshalb extra weitreichende Raketen in Deutschland stationiert werden müssen, deren Schussweite beim Doppelten bis Fünffachen der Entfernung Grafenwöhr-Kaliningrad (ca. 800 km) liegen.

Wenn das SPD-Präsidium sich so sehr einer russischen Bedrohung ausgesetzt sieht, hätte es bereits vor dem Ukrainekrieg die Gelegenheit gehabt, auf russische Vorschläge einzugehen, die zum Ziel hatten, die Stationierung von Boden-Boden-Raketen sowohl für Russland als auch für die NATO auszuschließen. Im Artikel 5 des russischen Vertragsentwurfs vom 17.12.2021 heißt es: „Die Teilnehmer schließen die Stationierung von landgestützten Mittelstreckenraketen und Kurzstreckenraketen in Gebieten aus, von denen aus sie Ziele im Hoheitsgebiet anderer Teilnehmer treffen können.“79 Die Antworten von USA und NATO auf die russischen Vorschläge stellten für Russland unannehmbare Bedingungen dar: insbesondere die Akzeptanz der Aufnahme der Ukraine in die NATO.

Ein weiterer Kernsatz aus dem SPD-Papier: „Die Stationierung ist keine konfrontative Aufrüstung, sondern eine Stärkung der Verteidigung unseres Landes und der Bündnisfähigkeit von NATO und EU mit Waffensystemen, über die Russland seit Jahren verfügt.“

Die Formulierung suggeriert, dass mit den neuen US-Waffen in Deutschland lediglich eine Fähigkeitslücke gefüllt wird. Von der Gleichheit der Waffen kann in zweifacher Hinsicht nicht gesprochen werden. Erstens handelt es sich bei den inkriminierten russischen Waffen um Kurzstreckenwaffen, die bei Fortbestand des INF-Vertrages vertragskonform gewesen wären. Das trifft auf keine der neuen US-Waffen zu. Zweitens handelt es sich bei den US-Waffen um strategische Waffen, die ihren strategischen Rivalen Russland in seiner Existenz bedrohen. Die russischem Kurzstreckenwaffen sind für die Existenz der USA ohne Bedeutung. Die vom SPD-Präsidium vorgenommene Gleichsetzung ist grob irreführend.

FAZIT

Die für 2026 angekündigte Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper findet nicht in der verkündeten Absicht statt, Russland von einem Angriff auf NATO-Gebiet abzuschrecken. Russland ist der NATO gegenüber zu schwach. Sie ist vielmehr Bestandteil eines seit 2016 verfolgten geostrategischen Offensivkonzepts der USA, Russland und China („strategische Rivalen“) militärisch durch superschnelles Agieren in allen fünf Bereichen Land, Luft, Meer, Weltall und Cyberraum mit Hilfe von hypersonischen Raketen existenziell zu bedrohen und so dafür zu sorgen, dass sie in der Abwehr dessen überfordert sind. Dies stellt eine neue brandgefährliche Konfrontation dar, die in Europa nicht zu mehr Sicherheit führt, sondern Russland zu Reaktionen provozieren kann, die letztlich Deutschland und Europa in einem nuklearen Inferno untergehen lassen.

Um dies abzuwenden, ist es notwendig, diese Regierung zu zwingen, die Vereinbarung mit den USA zu widerrufen. Wenn diese Regierung nicht dazu bereit sein sollte, muss es die Nachfolgeregierung tun. Die nächsten Bundestagswahlen sind für September 2025 angesetzt. Zur Durchsetzung dieser Forderung ist es unerlässlich, dass wir, die betroffene Bevölkerung, sich organisiert und die Forderung auf die Straße bringt.

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Fußnoten

3 Der INF-Vertrag (engl. Intermediate Range Nuclear Forces Treaty), zwischen den USA und der Sowjetunion, der am 1.6.88 in Kraft trat und eine ganze Kategorie von bodengestützten Nuklear-Raketen und -Marschflugkörpern sowie ihrer Trägersysteme mit Reichweiten von 500 bis 5.500 km vernichtete. https://de.wikipedia.org/wiki/INF-Vertrag

6 Jonas Schneider / Torben Arnold, Gewichtig und richtig: weitreichende US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland SWP-Aktuell, Nr. 36, 18.7.2024, 4 Seiten, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2024A36_US-Mittelstreckenwaffen_Deutschland.pdf. Im Weiteren: Schneider/Arnold

7 Eine Typhon- Batterie wurde jeweils, einmal im September 2023 und einmal im Mai 2024, temporär von der US Navy auf der dänischen Insel Bornholm stationiert. Im Juni 2024 wurde sie im Rahmen der 1. MDTF auf die Philippinen verlegt. Wolfgang Richter, Stationierung von U.S. Mittelstreckenraketen in Deutschland, Juni 2024, 15 Seiten, S. 5, https://library.fes.de/pdf-files/bueros/wien/21371.pdf , im Weiteren: Richter

8 Heinrich Fischer, US-Marschflugkörper zurück in Deutschland, Europäische Sicherheit & Technik 31.7.24, https://esut.de/2024/07/allgemein/51906/us-marschflugkoerper-zurueck-in-deutschland-die-usa-beabsichtigen-eine-stationierung-ab-2026/ , im Weiteren: Fischer

9 Bulletin of the American Scientists, Estimated Status of Russian ICBM forces, 2024, https://thebulletin.org/wp-content/uploads/2024/03/rbul_a_2314437_t0002.pdf , im Weiteren: Bulletin Russian ICBM Forces

10 START III-Vertrag oder auch New-START-Vertrag zwischen den USA und Russland trat nach der Ratifikation durch beide Seiten am 5.2.2011 in Kraft. Er ist ein Abrüstungsvertrag, der die Obergrenzen strategischer Nuklearwaffen auf jeweils 1.550 Sprengköpfe und 800 Trägersysteme begrenzt. Er wurde zuletzt im Februar 2021 bis zum 5.2.2026 verlängert. https://de.wikipedia.org/wiki/Strategic_Arms_Reduction_Treaty#New_START

12 Ebenda

14 drei MTDFs sind für den Indo-Pazifischen Raum, eine für Europa und eine für globale Aufgaben gedacht. Die 1. MDTF ist seit 2017 im US-Bundesstaat Washington an der Pazifikküste stationiert, die 2. MDTF hat ihr Kommando seit April 2021 beim US-Heereshauptquartier Europa und Afrika in Wiesbaden angesiedelt, die 3. MDTF ist seit September 2022 in Hawaii stationiert, die 4. MDTF ist im US-Bundesstaat Colorado stationiert und ebenfalls dem Indo-Pazifik zugeordnet und soll 2027 voll operationsfähig werden, die 5. MDTF soll im US-Bundesstaat North Carolina stationiert werden. Ihre volle Operationsfähigkeit in einem noch nicht festgelegten Raum wird für 2028 angestrebt. Hierfür ist die Arktis, aber auch der Indo-Pazifik in der Diskussion.

15 Sidney E. Dean, Dark Eagle: US Army führt Hyperschallwaffe ein, Europäische Sicherheit & Technik November 2023, S. 60 bis 63, hier S. 60, im Weiteren Dean (dt.)

16 Andrew Feickert, Congressional Research Service, The U.S. Army’s Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW): Dark Eagle, 2.7.24, https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11991 im Weiteren: Feickert 2.7.24

17 Bulletin Russian ICBM Forces

19 Maxim Starchak, Where ist Russia’s S-500 air defense System?, 23.10.23, https://www.defensenews.com/industry/2023/10/05/where-is-russias-s-500-air-defense-system/

20 Feickert, 2.7.24, Seite 2

21 Andrew Feickert, Congressional Research Service, The US Army’s Long-Range Hypersonic Weapons (LRHW), 4.12.2023, 3 Seiten, hier S. 1, https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11991/13

22 Dean, S. 61

23 Dr. Rainer Böhme, dgksp-Diskussionspapiere, Dresden, März 2022, 151 Seiten, ISSN 2627-3470, S. 67f, https://slub.qucosa.de/landing-page/https%3A%2F%2Fslub.qucosa.de%2Fapi%2Fqucosa%253A78553%2Fmets%2F/

24 Zum Gipfeltreffen Russland – China, Februar 2022, 84 Seiten, darin: Gemeinsame Erklärung der Russischen Föderation und der Volksrepublik China zu den internationalen Beziehungen auf dem Weg in eine neue Ära und zur globalen nachhaltigen Entwicklung, S. 25 bis 43, Seite 35 https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A78050/attachment/ATT-0/

25 Andrew Feickert, Congressional Research Service, The US Army’s Long-Range Hypersonic Weapons (LRHW), 15.9.2023, 3 Seiten, hier S. 2, https://www.everycrsreport.com/files/2023-09-15_IF11991_09ce52bcc34816697c1f1e943a9466746b36773a.pdf

26 Multi Domain Operations – U.S. Army veröffentlicht neue Einsatzdoktrin, 11.10.22, https://soldat-und-technik.de/2022/10/streitkraefte/33022/multi-domain-operations-einsatzdoktrin/

27 Andrew Feickert, Congressional Research Service, The US Army’s Long-Range Hypersonic Weapons (LRHW), 10.7.24, 3 Seiten, S.1, https://sgp.fas.org/crs/natsec/IF11797.pdf

28 Bernhard Trautvetter, JAPCC: Gegen Kriegsplanungen im Ruhrgebiet, 28.9.2029 https://www.jungewelt.de/artikel/363738.japcc-gegen-kriegsplanungen-im-ruhrgebiet.html?sstr=JAPCC

29 Planungsamt der Bundeswehr, Multi-Domain Operations für die Bundeswehr. Eine kurze Einleitung, November 2023, 20 Seiten, https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5712296/ee4e4d36425e5366cec987225f3752e9/broschuere-data.pdf

31 Fischer, S. 12

32 Ebenda

33 Fischer S.13. Eine MDTF gliedert sich in vier Bataillone: Eines für Intelligence, Information, Cyber, Electronic Warfare, Space (I2CEWS), ein Strategic Fires Bataillon, ein Air Defense Bataillon und ein Brigade Support Bataillon. Die drei Waffentypen SM-6, Tomahawk und Dark Eagle werden dem Strategic Fires Batallion unterstellt.

34 Schneider/Arnold, S.2.

35 Der Spiegel, 17.2.2024, S. 14

36 Vergleichen wir die schweren Waffensysteme nur der europäischen NATO-Staaten und Russlands ergibt sich folgendes Bild: Soldaten 1,9 zu 1,1 Mio. Russlands, 6.297 Kampfpanzer NATO-Europas zu 2.000 Russlands, Artilleriesysteme: NATO-Europa 15.452 zu 5.485 Russlands, 2.487 Kampfflugzeuge zu 1.377 Russlands, große Kampfschiffe 151 zu 33 Russlands und U-Boote 71 zu 50 Russlands. Ergebnis: Die europäischen NATO-Staaten haben in jeder Kategorie mehr Waffen als Russland. Russland ist von einer dreifachen Überlegenheit meilenweit entfernt. (Quelle: The Military Balance 2024, Berechnungen d. Verf.)

37 Richter, S. 6f

38 Schneider/Arnold, Seite 2

39 NATO Press Release, Defence Expenditure of NATO Countries (2014 – 2024), 17.6.24, 17 Seiten, S.8 https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2024/6/pdf/240617-def-exp-2024-en.pdf

40 Andreas Rüesch, Die USA verlegen weitreichende Waffen nach Deutschland, die sogar Moskau treffen könnten – Was bedeutet das? 18.7.2024, https://www.nzz.ch/international/die-usa-stationieren-in-deutschland-weitreichende-waffen-was-heisst-das-ld.1839653

43 Die USA betreiben seit 2016 eine Raketenabwehranlage in Deveselu (Rumänien) mit 24 SM-3 Block IB Raketen. Sie haben eine Reichweite von 1.200 km. https://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rflugplatz_Deveselu

44 Wolfgang Richter, Der INF-Vertrag vor dem Aus, SWP-Aktuell Nr. 63. November 2018, 8 Seiten, S. 7

45 ebenda

46 ebenda

48 Vgl. „Der Vertrauensverlust ist spürbar“, Interview mit Oberst a.D. Wolfgang Richter, Stiftung Wissenschaft und Politik , 2.8.2019, https://www.deutschlandfunk.de/sicherheitsexperte-zum-inf-vertrag-der-vertrauensverlust.694.de.html?dram:article_id=455415

49 Der Spiegel Nr. 49/1.12.2018, Nato alarmiert über Russen

50 Der Spiegel, 19.1.2019, Chance vertan: „Um kleine Überschreitungen der 500-Kilometer-Grenze festzustellen, genügten Vor-Ort-Inspektionen jedoch nicht. Dafür wären Datenaustausch und eine Flugvorführung nötig, diese würden Angaben über die Motorenschubkraft oder das Massenverhältnis zwischen Gefechtsköpfen und Tankfüllung liefern. Solche Informationen bieten die Russen bisher nicht an.“ https://www.spiegel.de/politik/ausland/inf-vertrag-usa-verpassen-chance-fuer-abruestung-a-1248975.html

51 Ebenda

52 Kapustin Jar (etwa 100 km östlich von Wolgograd) und Mostok (in Nordossetien am Nordkauskasus) sowie Kamyschlow (in der Nähe von Jekaterinburg im östlichen Ural). In der zweiten Hälfte des letzten Jahres kam als vierter Ort Schuja nahe Moskau hinzu.

53 Thomas Gutschker, Amerika plant kein Wettrüsten, FAS 10.2.2019

57 Der Spiegel, 16.3.2019, US-Marschflugkörper für Europa im Bau

58 Der Spiegel, Nr. 12/16.3.2019, S. 25

59 Tagesschau, 2.8.19, INF-Vertrag mit Russland endet offiziell, https://www.tagesschau.de/ausland/inf-vertrag-ende-101.html

61 Morten Freidel, Das Sperrfeuer der SPD ist naiv, NZZ 30.7.24, https://www.pressreader.com/switzerland/neue-zurcher-zeitung-v/20240730/281724094815142

62 Schneider/Arnold, Seite 4

63 Iran provides Zolfaghar short-range ballistic missiles to Russia for first time, 22.2.24, https://armyrecognition.com/news/army-news/2024/iran-provides-zolfaghar-short-range-ballistic-missiles-to-russia-for-first-time

64 https://en.wikipedia.org/wiki/Zolfaghar_(missile). Hier wird berichtet, dass bis April 2024 noch keine Raketenverkäufe nach Russland stattgefunden hätten.

67 Ebenda

75 International Institute for Strategic Studies, The Military Balance Ausgabe 2020, S. 196, und Ausgabe 2024, S. 193.

76 The Military Balance 2024, S. 202 f

77 SPD-Präsidium, Wir organisieren Sicherheit für Deutschland und Europa, 12.8.2024, 3 Seiten, S. 1 https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Parteispitze/PV_2024/20240812_Beschluss_PS_Sicherheit.pdf

78 a.a.O. S.2

79 Vereinbarung über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Russischen Föderation und der

Mitgliedstaaten der Nordatlantikvertrags-Organisation, Entwurf des russischen Außenministeriums vom 17.12.2021, hier: Artikel 5 https://www.ostinstitut.de/files/de/2021/Ostinstitut_Vertrag_zwischen_der_RF_und_den_USA_%C3%BCber_Sicherheitsgarantien_OL_2_2021.pdf

Quelle: Bundesausschuss Friedensratschlag

Friedensbewegung