Zeit für was Neues
Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:
Der Austritt des kompletten Vorstands der Grünen Jugend, sowie einiger Landesvorstände aus der Mutterpartei macht deutlich, dass die Politik der Ampelregierung, die ihren Wahlversprechen diametral entgegensteht, nicht folgenlos bleibt.
Alev Bahadır
Ende September erklärte der achtköpfige Bundesvorstand der Grünen Jugend seinen geschlossenen Austritt aus der Partei. Mehrere Vorstände aus Bundesländern und Ortsgruppen folgten. In ihrer Austrittserklärung machten die ehemaligen Vorstandsmitglieder klar, dass diese Entscheidung bereits vor Wochen und somit unabhängig vom Rücktritt des Parteivorstands der Grünen getroffen wurde. In dem Schreiben werden die sich immer weiter zuspitzenden Konfliktlinien zwischen Partei und Jugendverband benannt: „Sei es bei der Debatte um das 100-Mrd-Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, bei der Auseinandersetzung rund um Lützerath, bei den Asylrechtsverschärfungen oder den Haushalten“. Was schlussendlich zum Bruch führte, wird ebenfalls offen beschrieben: „Dauerhaft ist es aber nicht möglich, gleichzeitig Teil einer Partei zu sein und für eine grundsätzlich andere Politik zu werben als die eigene Partei umsetzt. Wir merken, dass unsere inhaltlichen aber auch strategischen Vorstellungen von Politik immer weiter auseinander gehen – und glauben, dass es mittelfristig keine Mehrheiten in der Partei für eine klassenorientierte Politik gibt, die soziale Fragen in den Mittelpunkt rückt und Perspektiven für ein grundsätzlich anderes Wirtschaftssystem aufzeigt.“
Der Kampf zwischen oben und unten
Der Brief, der an den Parteivorstand sowie die Geschäftsführung der Grünen adressiert ist, erklärt in einem, doch recht versöhnlichen Ton, dass man eine neue linke Kraft aufbauen wolle. Worum es genau geht, erklären die ausgetretenen Mitglieder sowie weitere Mitstreitende mit deutlicheren Worten auf ihrer neuen Plattform „Zeit für was Neues“: „Vor der letzten Bundestagswahl hofften viele Menschen auf einen Politikwechsel: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Klimaschutz, Fortschritt. Doch die Ampel ist eine bittere Enttäuschung. Wirksame Kritik an der Regierung kommt nur von rechts: Sie können die Schwächsten auch deshalb so gut gegeneinander ausspielen, weil es derzeit niemanden gibt, der den großen Konflikt in unserer Gesellschaft – zwischen Arm und Reich, Oben und unten – ernsthaft führt. Die Reichen lehnen sich zurück, während die Rechten die Ärmsten dazu anfeuern, sich um die Krümel zu prügeln“.
Es folgt eine Abrechnung mit der ehemaligen eigenen Partei. Sie stelle sich auf die Seite von Konzernen und deren Profiten, das zu Kosten der Umwelt und der arbeitenden Bevölkerung. Sie trage eine Asyl- und Migrationspolitik mit, die „wohl selbst unter der großen Koalition undenkbar gewesen wäre“. Wegen all dem und viel mehr erklärt die neue Gruppe, was sie in Zukunft plant: „Unser Ziel: Wir wollen dazu beitragen, dass es bald eine starke linke Partei in Deutschland geben kann. Eine Partei, die nicht so ist wie alle anderen“.
Sprechen vielen aus der Seele
Angetreten waren vor allem die Grünen und SPD mit großen Versprechen, mit denen sie Menschen, unter ihnen sehr viele junge, die sich für soziale Gerechtigkeit, Antirassismus, Frauenrechte und die Umwelt einsetzen wollen, abgeholt haben. „Wirtschaft und Klima ohne Krise“, „Klima retten, Menschen schützen“, „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete“ hieß es z.B. auf Wahlplakaten der Grünen. Ähnlich auch bei der SPD: „Jetzt 12 € Mindestlohn wählen“, „Kanzler für stabile Renten“, „Kanzler für bezahlbares Wohnen“. Mit all diesen Slogans versuchten vor allem diese zwei Parteien sich von den politischen Gegnern abzugrenzen. Bei den Bundestagswahlen 2021 steckte die Welt noch in der Pandemie. Black Lives Matter war erst vor kurzem passiert, Fridays for Future war auch damals eine starke Jugendbewegung. Dass soziale Kürzungen und Preissteigerungen kommen würden, zeichnete sich bereits ab, waren aber noch nicht spürbar. Viele Menschen suchten eine soziale Lösung, die ihnen die Parteien versprachen. Und selbst der Koalitionsvertrag der „Zukunftskoalition“ wollte „mehr Fortschritt wagen“. Digitalisierung, Klimaschutz, Mobilität, Frieden, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung wurden dort versprochen.
Jedoch ist die Realität ernüchternd für viele Menschen. Nicht nur wurden die meisten Versprechen nicht gehalten, sondern verfolgt die Regierung einen genau gegenteiligen Kurs. Die Ampel betreibt eine Politik der Aufrüstung, der Waffenexporte in Kriegs- und Krisengebiete, der sozialen Kürzungen, der Ausgrenzung. Sie verschärft das Asylrecht und die Ampelparteien reden den rechten Kräften nach dem Mund. Die Fortschrittskoalition will nämlich eifrig weiter Krieg führen und das Land bewaffnen und auch im großen Stil abschieben. Ein Schlag ins Gesicht für alle (junge) Menschen, die sie aus genau gegenteiligen Gründen gewählt hatten. Während die Grünen bei den Wahlen der letzten Jahre oft stärkste Kraft unter den jungen Menschen waren, ist dieser Einfluss weitestgehend gesunken.
Nur selbst können wir etwas verändern
Natürlich passiert sowas nicht zum ersten Mal. Vor allem bei den Grünen gab es in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen. Gegründet als Partei, die sich für Frieden, gegen Waffenstationierungen und gegen Atomkraft einsetzte, erfolgte schon lange die Abkehr von diesen Zielen. Gemeinsam mit der SPD entschied die „grüne Partei“ nicht nur den Einsatz von Bundeswehrsoldaten im Jugoslawienkrieg (und somit den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr seit dem 2. Weltkrieg), sondern führte auch mit der Agenda 2010 einen der größten Angriffe auf die Arbeiterklasse durch. Auch, wenn man diesen Angriff heute „Bürgergeld“ statt „Hartz IV“ nennt, ändert sich wenig. Doch weiterhin setzten viele Menschen ihre Hoffnung darin, dass diese Parteien etwas verändern würden. Schließlich waren es nicht mehr Joschka Fischer und Gerhard Schröder, sondern Annalena Baerbock und Olaf Scholz und zumindest erstere erweckt ja einen progressiven Eindruck. Dabei wirken viele Politiker, es sei denn sie heißen Friedrich Merz oder Alice Weidel, in der Opposition erstmal progressiv, doch verfolgen sie im Regierungsamt die Interessen einiger weniger, die von Krieg, Aufrüstung und billigen Arbeitskräften profitieren. Denn so funktioniert dieses System.
Das haben auch die Initiatorinnen und Initiatoren von „Zeit für was Neues“ erkannt. Wie es mit ihrer Initiative weitergeht, ob sie es schaffen, neue Menschen für sich zu gewinnen und bestehende Bewegungen zu stärken, bleibt zu diesem Zeitpunkt abzuwarten. An Systemkritik mangelt es bei ihnen nicht, diese in die Tat umzusetzen und die Massen zu begeistern, ist die große Herausforderung. Aber sie haben recht, es ist schon lange Zeit für was Neues.
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben