19. November 2024

Zum Thema: Der Sturm und der Tag Danach. Nachwort. Zweiter Teil: Veränderung mit Kontinuität? Das Gleiche erneut?

Übernommen von Enlace Zapatista:

Die Versammlung der Gemeinde geht mit dem Reihum-sich-vorstellen weiter. Jetzt sind Sie dran, die Schlüsselfrage zu beantworten: »Und du, was?«

Ja, es gibt mehrere Möglichkeiten. Sie sind eine durchschnittlich intelligente Person, glauben an sich und ihre Überzeugungskraft (Sie haben nicht wenige Anleitungen gelesen, wie Followers zu gewinnen sind, und Sie haben sogar den Kurs absolviert: »1000 Schritte, um im digitalen Zeitalter populär zu sein«). Somit können Sie beispielsweise versuchen, den Rest der Anwesenden dieser hypothetischen Versammlung davon zu überzeugen, das Beste sei, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Künstler und Wissenschaftler einen gesonderten Ort haben. Und dazu brauche es, na klar, einen Staat, denn es sei unmöglich, sich eine Gesellschaft ohne Staat vorzustellen (ja gut, es ist möglich, aber das ist jetzt nicht Thema). Dieser Staat brauche denjenigen, der regiert, das heißt, der befiehlt. Wem zu befehlen ist, daran wird es nicht fehlen. Und für alles sollten Papiere produziert werden: für die Besitztümer jedes einzelnen, sowie um auszutauschen, das heißt, zu kaufen und zu verkaufen.

Während Raub und Enteignung, bevor dieser Staat auftauchte, mit Gewalt durchgeführt wurden, ist die neue Gesellschaft genau das: zivilisiert. Somit müssen diese Verbrechen jetzt reguliert und dazu Gesetze erlassen werden, um sie legal zu machen, sodass die Legalität die Legitimität ersetzt. Es wäre somit auch nicht schlecht, eine Körperschaft von Personen zu schaffen, die darauf spezialisiert sind, Gesetze zu machen. Mit jenen werden dann auch die Fahnen, die Nationalhymnen, die Grenzen und  jeweiligen Geschichten entstehen.

Was dann natürlich passieren wird, ist folgendes: Diejenigen, die enteignet wurden – mit oder ohne Gesetze – werden nicht mehr besitzen als ihre manuelle Fähigkeiten, sowie ihre Kenntnisse, um zu produzieren. Auf der anderen Seite können die, die von den Verbrechen profitiert haben, diese Fähigkeit zu produzieren »kaufen«. »Anstellen/vertraglich abmachen« könnten die verwendeten Begriffe lauten, denn »ausbeuten« hört sich wohl mies an. Somit wird es auch diejenigen geben, die über dieses Verhältnis Gesetze erlassen. Gegen jeden Augenschein – denn beide, Ansteller/Vertragshändler wie auch Angestellter/Vertragsnehmer, sind Mitglieder der entstehenden Gesellschaft – handelt es sich hierbei um eine Vereinbarung zwischen Gleichen, die frei handeln/anstellen oder eingehandelt/angestellt werden.

Um diese »Freiheit« zu preisen, wird ein Begriff geprägt, der den Unterschied zwischen Eigentümer und Nicht-Eigentümer eliminiert: »Bürger« könnte dazu eine attraktive Option sein. Und von dort abgeleitet seine keimfreien Entsprechungen: »Frauen«, »Jugendliche«, »Kinder«, »Senioren«, »Weiße«, »Afroamerikaner«, »Asiaten«, »Braune«, »Indigene«, »Mestizen«, »Kreolen« etc.

All diese Begriffe erlauben die im Widerspruch zu einander stehenden Unterschiede zwischen Eigner/Besitzende und Enteignete/Besitzlose bei Seite zu lassen und zu verbergen, und dazu muss es Gesetze geben, die dies Verbergen garantieren.

Damit den Gesetzen gehorcht wird (Sie wissen ja bereits: Es soll wohl welche geben, die nicht gehorchen) wird eine andere Personengruppe gebraucht, die sich dem »Einsetzen der Ordnung« widmet. Nun, eine Polizei. Und um sich die Ressourcen anzueignen, die sich innerhalb einer anderen Comunidad befinden, wird eine Armee gebraucht.

Und dass eine Hautfarbe und ein Geschlecht den Ort innerhalb der Gesellschaft festschreiben.

Beispielsweise: Dunkelhäutige Personen ertragen besser die Unbill des Klimas (so wurde es Ihnen gelehrt), und hellhäutige sind empfindlicher, kränklicher (so wurde es Ihnen gelehrt), die weiblichen Geschlechts eignen sich gut für Heim und Herd, die männlichen für die ausführenden Posten. Loas otroas/die AnderEn? … Pfui, das ist ein verirrtes Phänomen, das eliminiert oder dessen Existenz  ignoriert werden muss. Dafür gibt es die Kleiderschränke, die Razzien, die Knäste und Särge.

Sie haben bei der Katastrophe das Wichtigste, das heißt, Ihr Werteschema, bewahrt. Somit ist es [für Sie] nur natürlich, dass die Frauen – gesetzt sie sind diejenigen, die Kinder haben können – sich ums Zuhause kümmern, worin diese Kinder heranwachsen und ihren ihnen gemäßen Ort einnehmen werden. Das [Ihr Werteschema] brachte Ihren Schönheitskanon mit sich, der instinktiv bestimmen wird, welche Frau … »begehrenswerter« ist (ich hätte hier stattdessen auch »… besser ist« einsetzen können, jedoch die künstlerische und wissenschaftliche Redlichkeit dieses Textes rät davon ab), derart, sodass die besten »Zuchttiere« ausgewählt werden, um »die Gattung zu verbessern«. Der »gute Geschmack« wird somit nicht nur zu Tisch und bei der Kleidung wichtig, sondern auch bei der Menschenjagd.

Ja klar, die Frauen werden immer Probleme machen – das liegt in ihrem Wesen – somit muss ein moderater Feminismus eingesetzt werden, der zu jeder Zeit durch den Mann bevormundet wird. Bezüglich »der Exzesse« werden die Maskulinen anbieten, sich gut zu benehmen und beispielsweise zubilligen, Gender-Kurse zu nehmen. Und dass die Femininen Zugang zu den Räumen der Macht erhalten. Klar, zuvor deren Maskulinisierung.

Das Erlangen eines führenden Postens durch eine Frau wird zum Beispiel als eine  »Errungenschaft« für alle Frauen präsentiert. Obzwar jene/s Mädchen-Jugendliche-Erwachsene-Alte – welche/s als Schülerin, Angestellte oder Hausfrau zur Schule, zur Arbeit oder zum Markt geht – im Blick des hinter »den neuen Männlichkeiten« versteckten Angreifers weiterhin »Zielscheibe bei passender Gelegenheit« sein wird.

Mit den Dunklen wird das Gleiche geschehen. Kontinuierlich werden sie rebellieren und dagegen Widerstand leisten, ihren [ihnen zugewiesenen] Ort innerhalb der neuen Welt einzunehmen. Somit sind zu mindestens zwei Sachen wichtig: die eine besteht darin, Almosen zu verteilen (jedoch nicht viel, denn sie gewöhnen sich ansonsten schlechterdings daran). Die andere ist, sich einige von dunkler Haut zu eigen zu machen, damit gesehen wird: Es gibt Inklusion und immer gibt es die Möglichkeit innerhalb der Gesellschaft aufzusteigen. Wenn sie jedoch in ihrer Halsstarrigkeit verbleiben, nun gut, dafür sind die Polizisten und die Armeen da.

Falls, Gott bewahre, die Otroas/die AnderEn dem schlechten Beispiel weiterhin folgen, nun, kein Problem. Es wird ausreichen, das »Fälschungsprinzip« anzuwenden. Das meint: Heteros fingieren Otroas/AnderE zu sein, betragen sich ordentlich, übernehmen ihren Platz innerhalb der Regierung, und fertig ist die Kiste. Obacht: Niemals die Politik von Kleiderschrank-Razzia-Knast-Sarg aufgeben. Nun gut, für diejenigen, die einen Sarg erlangen. Denn [auch] das gewaltsame Verschwunden machen wird eine Option sein.

Die Gesellschaft, sagen wir mal, »von dunkler Haut« wird dazu beisteuern müssen, dass der geschaffene Staat, die Künste und die Wissenschaften unterstützen kann. Denn dies wurde Ihnen in der Schule gelehrt: Es waren die großen Gelder, welche die großen wissenschaftlichen Entdeckungen und wundervollen Kunstwerke finanziert haben, die unzugängliche Museen, moderne Laboratorien und Testräume füllen.

Nun gut, sie haben diese gefüllt; denn in der Annahme, die ich Ihnen hier entwerfe, verschwand all das, wurde zerstört, geplündert oder verbleibt isoliert, irgendwo zwischen Schutt, Blut, Knochen, Schlamm und Scheiße.

In Ihrer Idee über die Zukunft jener isolierten Comunidad wird in kurzer Zeit jedoch (sagen wir, innerhalb einiger Jahrhunderte) der »Fortschritt« neue Gebiete und Technologien entdecken, die es zu erobern gilt.

Zu Beginn mittels Hieb- und Stichwaffen und Rüstungen, später mit noch mehr Bewaffnung, jetzt mit Schusswaffen, Panzern und Flugzeugen, wird die Conquista voranschreiten – und mit ihr werden Wohlstand und Entwicklung erblühen. Ja klar, und die Beraubung, die Unterwerfung (»modern«, dies ja), die Zerstörung und der Tod; das spielt jedoch jetzt keine Rolle.

Bald werden die Banken es sein, die Bergbau, Agroindustrien, Industriekorridore, Touristikzentren, moderne Züge und Flughäfen kommandieren, welche in Ebenen und Gebirge eindringen. Sie werden Flüsse, Seen und Quellen kontaminieren, die Ortsansässigen dunkler Haut als Angestellte nutzen (Obacht: Vermeide hier das Wort »versklaven«), werden plündern, was sie können und dann weiterziehen, ein Ödland hinter sich lassend … wie in einem Krieg. In jeglichem Moment werden sie im Staat den fügsamen, untertänigen und grausamen Vorarbeiter finden, den sie brauchen, um diese neue Zivilisation zu schaffen.

Und derart werden Sie bemerken: Es ist möglich, einen sicheren Ort zu haben, falls – wie so schön gesagt wird – »gewusst wird, mit wem sich zu verbandeln ist«. Für dies wird ein Bildungssystem gebraucht, das den Kindern von klein auf beibringt, welches ihr Ort ist. Also wird es dann Schulen für die Dunklen und Schulen für die Hellen geben. Ihr Aufstieg als Künstler und Wissenschaftler wird dem niederwalzenden Voranschreiten der neuen Welt hinterherlaufen.

Da die Freiheit der Schöpfung/Urheberschaft, der Forschung und Vertragsabschlüsse das Wichtigste darstellt, muss das Herankommen derjenigen verhindert werden, die für einen Totalitären Staat kämpfen, auch wenn dazu … ein anderer Totalitärer Staat …  notwendig sein sollte.

Es spielt dabei keine Rolle, ob der Staat eine repräsentative, monarchistische, parlamentarische oder diktatorische usw. Demokratie darstellt, sondern ob er fähig ist, die Gesellschaft zu homogenisieren, indem er die Hegemonie einer Idee aufzwingt. Die Idee des »Fortschritts«, was bedeutet:  Fortschritt der Einzelperson, auf Kosten von was auch immer und über wen auch immer hinweg gehend. Von daher muss die Anstrengung der Anderen sich darauf richten, die der Einen zu sein. Die Seite wechseln, nun, ohne dass Farbe, Gender (oder No-Gender), Größe, Religion, Ethnie, Sprache, Modus, Geschichte dabei wichtig sind. In den Einen wird Glückseligkeit herrschen, in den Anderen das Unglück für Glück kämpfen zu müssen. Die Einen sind die Besitzenden, die Anderen die Habenichtse, die sich danach sehnen, Besitzende zu sein.

In diesem Dilemma werden Sie hoffen, die anderen Leute von Ihrer grandiosen Idee zu überzeugen. Nun, jetzt sind Sie dran, nur Mut, wenden Sie das an, was Sie gelernt haben.

Na klar, höchstwahrscheinlich wird Sie jemand unterbrechen und daran erinnern, alle, auch Sie, befänden sich in dieser Situation – genau wegen einem System mit den [bereits geschilderten] Charakteristiken.

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Natürlich denken Sie jetzt, diese Hypothese sei zu extrem und keine vernünftige, gebildete Person,  mit höherem Studium, hetero, maskulin oder maskulinisiert, zivilisiert und »modern«, mag das.

Ich habe jedoch nichts anderes gemacht als die Grundlagen einer kapitalistischen Gesellschaft zusammengefasst: Ausbeutung, Repression, Raub und Verachtung. Ein patriarchales, rassistisches, ausbeuterisches, kriegerisches, verbrecherisches, unmenschliches, grausames, unbarmherziges, System, welches wächst, indem es zerstört. Und anwuchs bis es die Welt, wie Sie sie kannten, zerstört hat. Eine Gesellschaft wie die, in welcher Sie und wir »lebten/leben«.

Oh, regen Sie sich nicht auf. Es ist ja lediglich eine, wie gesagt wird, »hypothetische« Situation, nun, eine Annahme. Das wissenschaftliche und technologische Voranschreiten, wie auch das Blühen der »alten« und »neuen« Künste, sind w-u-n-d-e-r-v-o-l-l. Das von der globalen Erderwärmung stellt lediglich eine grobe Lüge, erfunden von faulenzenden Ökologisten, dar (und hässlich sind sie auch noch, habe ich das nicht schon gesagt?), bloße moderne Hippies mit Hochschulstudium; die Klimaveränderung bildet eine Mode(-Erscheinung); es gibt keine Hurrikans, Erdbeben, Dürren, Überschwemmungen über die gewöhnlichen Maße hinaus. Die Feminizide? Gibt‘s nicht. Sie sind Strafe, die das Schicksal Frauen auferlegt, welche ihrem Ort abtrünnig werden … oder am falschen Ort und zur falschen Zeit dort sich befinden. Es gibt kein organisiertes Verbrechen, denn da lässt der Staat keinerlei Konkurrenz zu (na klar, bezüglich des Verbrechens; in Bezug auf das Organisierte wird er dort reichlich überragt). Ja, und die Streitigkeiten zwischen Ländern werden im Dialog gelöst, somit gibt es weder Kriege noch Genozide, welche Geschichte für den Zweck gebrauchen (»wir haben das Recht, den Anderen zu eliminieren, denn zuvor waren wir die Anderen und sie wollten uns eliminieren«). Letztendlich alles prima – ehrlich?

Jedoch, dem vorherigen System zu widersprechen, bildet nur eine Möglichkeit; es soll noch andere geben. Denn innerhalb des »hypothetischen« Tages Danach stellt es [auch] eine Option dar, erneut zu beginnen, indem das System – welches zum Sturm führte, ihn erzeugte und vor sich hintrieb – wieder aufgebaut wird. Na klar, dabei »die Ecken und Kanten« des Systems »schleifend«.

Ich entwerfe Ihnen diese Möglichkeit, weil bekannt ist: Es gibt welche, die aus Mangel an Vorstellungskraft und Verwegenheit, dazu neigen, vom bereits Gekannten aus erneut anzufangen. So wie eine Bewegung, die sich organisiert, um sich einer Partei des Staates entgegenzustellen, sich verwandelt in eine … Partei des Staates. Sie nährt sich vom Staat und eignet sich die Sitten und Gebräuche derjenigen an, die ihr Feind war. Somit wird auf alles zurückgegriffen und erlaubt, um zu verhindern, nicht mehr … eine Partei des Staates … zu sein.

Und sowie es ersichtlich ist, »etwas« im System ist schlecht, wird dieser Augenschein ebenso gewöhnlich nach innen projiziert: eine andere Sache sei nicht möglich; es sei nicht möglich: »eine Welt, die viele Welten birgt«.

Fortsetzung folgt …

Aus den … usw.

Der Capitán.
Oktober 2024.

Quelle: Enlace Zapatista

Mexiko