18. Dezember 2024

„Darüber würde ich gerne mit Margot Honecker sprechen“

Übernommen von Unsere Zeit:

Ellen Schernikau, die Mutter des Schriftstellers Ronald M. Schernikau, hat mit ihrem kleinen Sohn 1966 die DDR verlassen – für die Liebe und gegen ihre Überzeugung. Das Leben im Westen stellte sich anders raus als erwartet: Ronalds Vater war – entgegen aller Versprechungen – nicht nur verheiratet, sondern auch noch ein Nazi. Ronald M. Schernikau hat über das Leben seiner Mutter das Buch „Irene Binz. Befragung“ geschrieben. UZ sprach mit Ellen Schernikau über das anhaltende Interesse an dem Buch, ihre eigenen Schreiberfahrungen und ihre Sicht auf die DDR.

UZ: Vor über 40 Jahren hast du deinem Sohn Ronald, wie du sagst, „deine Geschichte geschenkt“. Er hat daraus die „Irene Binz. Befragung“ gemacht. Hättest du je gedacht, dass das Interesse an deinem Leben einmal so groß ausfallen würde?

Ellen Schernikau: Das hätte ich nicht gedacht. Ich habe das erst mal Ronald erzählt, damit er einen neuen Stoff hat und ein neues Buch schreiben kann. Er suchte ein neues Thema und hat mich dann gefragt und ich dachte, ich kann ihm das ja alles mal erzählen.

Es gibt heute jene, die „Irene Binz“ gelesen haben und sagen: ja, du warst Genossin, du warst überzeugt von der sozialistischen Idee. Das hat mich alles nicht interessiert und heute ahne ich, was du da wolltest oder was ihr wolltet als Kommunisten. Das ist so, was ich heute öfter höre. Es gibt so viele Leute, die sich einfach in der DDR wohlgefühlt haben. Die wären nie abgehauen, und haben aber auch nichts für den Staat gemacht. Die waren einfach solidarische Mitbürger und ziemlich unpolitisch und die sagen heute teilweise von sich, eigentlich bin ich ne rote Socke, weil ich jetzt erst verstehe, wie wir damals gelebt haben.

Wir hatten auch eine Veranstaltung in der Bibliothek in Magdeburg, im Sommer. Der Abend nannte sich „Gelebte Bücher“. Da sind Personen unterschiedlicher Herkunft, Lebenserfahrung und Alter zusammengekommen und das Publikum konnte uns befragen, immer so eine halbe Stunde. Und die Organisatorin hat gesagt, bei mir waren die meisten. Weil sie heute wissen wollen, wie Menschen damals in der DDR gedacht, gelebt haben und es vielleicht mit ihrem eigenen Leben vergleichen und dabei viel begreifen.

UZ: Wie blickst du heute auf „Irene Binz“?

Ellen Schernikau: Ich sehe die Zeit, die ich Ronald da geschildert habe, als eine der größten Herausforderungen in meinem Leben und ich bin froh, dass mir Ronald – ja ich hätte jetzt beinahe gesagt, so gelungen ist (lacht). Wir haben ja nur DDR-Fernsehen gesehen und haben uns Bücher schicken lassen und er seine Kinderzeitschriften. Wenn du Kind bist, glaubst du ja alles, was die Eltern sagen. Ich bin aber froh, dass er trotzdem bei der Sache geblieben ist, als er selber anfing zu denken. Das finde ich so toll, das ist ja dann gar nicht mehr alleine mein Verdienst, sondern dann kommt die Schule dazu. Da kam der Vater, als er 12 war, und wollte ihm diese Wikinger-Jugendzeitschrift aufschwatzen von der NPD. Das sind ja Einflüsse, die von außen kommen. Aber ich bin froh darüber, dass Ronald wirklich begriffen hat, was die sozialistische Idee ist, und sich nicht hat davon abbringen lassen. Da waren genügend negative Einflüsse.

Der hat sich nicht verbiegen lassen. Und ich glaube, es war auch seine Intention, mein Leben aufzuschreiben. Ich hab mich auch nicht verbiegen lassen und hab immer dazu gestanden.

Ich war zum Beispiel in diesem Aufnahmeheim nicht bereit, einen Flüchtlingsausweis zu beantragen. Das wäre krank gewesen. Davon hätte ich einige Vorteile gehabt, wäre schneller zu einer Wohnung gekommen, hätte Geld gekriegt – aber da hätte ich mich verraten. Ich denke, das hat Ronald eben erkannt, und hat dadurch ein Selbstbewusstsein entwickelt, wodurch er selber standhaft war und sich auch nicht hat verbiegen lassen.

Das ist eigentlich das Fazit aus dieser Zeit zwischen 66 und 80. Ich glaube, das hat ihn gereizt und ich habe hinterher gesagt: Gut, dass du das so aufgeschrieben hast.

UZ: Was macht die DDR zu deinem Land?

Ellen Schernikau: Die Sicherheit. Du brauchtest überhaupt keine Sorge zu haben, die Arbeit zu verlieren oder die Wohnung oder irgendwie auf der Straße zu landen. Du wurdest mitgenommen.

Und dieses Miteinander. Da sagen ja heute Leute, das wäre aus der Not geboren, weil in der DDR Mangelwirtschaft war. Also erstens lasse ich mir das Wort Mangelwirtschaft nicht gefallen. Wir haben nicht gehungert, wir haben nicht gefroren. Wir haben zwar nicht die Auswahl gehabt in jeder Beziehung, ob das Obst oder Kleidung war, und man musste zusehen, dass man die Sachen kriegte, aber es hat niemand gelitten. Mangel ist ja, wenn du etwas nicht hast und dann krank wirst. Wir hatten keinen Mangel, wir hatten eine eingeschränkte Wirtschaft, die nicht immer gut funktioniert hat, das ist leider klar, aber keine Mangelwirtschaft.

Natürlich, es gab viele Wirtschaftsflüchtlinge, die gar nicht mal aus politischen Gründen weg sind. Die Politischen, das waren die, die eben reisen wollten, und die Wirtschaftsflüchtlinge wollten mehr Klamotten und mehr Sachen haben. Aber wir anderen haben zusammengehalten, weil es einfach normal war für uns, einander zu helfen.

Die ganze Brigade, so wie sich die Gruppe in der Fabrik nannte, hat dem einen Kollegen geholfen, sein Haus aufzubauen, und im nächsten Jahr war die ganze Truppe bei einem anderen, weil er sich eine Datsche gebaut hat, oder eben auch ein Einfamilienhaus, das gab es ja auch.

Wir wurden auch von klein auf angehalten, alten Menschen zu helfen. Wenn ich heute in die Straßenbahn einsteige, denkst du, da steht ein Schulkind auf? Da muss ich dann irgendwann sagen: Kannst du mir mal Platz machen, ich kann nicht mehr stehen, ich bin schon alt. Und so was ist uns schon in der Schule beigebracht worden.

Wir sind auch durchs Haus gegangen und haben Flaschen gesammelt und Zeitungspapier und haben das zur Sammelstelle gebracht. Oder wir haben als Kinder alten Frauen angeboten, mal einzukaufen, und dann haben wir das ganz stolz beim Pionier-Nachmittag berichtet.

Dieses Wir-Gefühl, das ist uns vermittelt worden. Wir hatten ein Weltgefühl. Wir haben als Kinder Postkarten geschickt, damit Angela Davis aus dem Gefängnis kommen soll. Keine Ahnung, ob die Karten jemals angekommen sind. Aber wir waren eben gedanklich dabei. Da ist eine im Gefängnis, nur weil sie fortschrittliche Gedanken hat. Darüber wurde in der Schule gesprochen.

Dieses Weltgefühl, das fehlt, das ist doch heute nur „Ich“.

UZ: Ronald und du, ihr habt immer gesagt: Was man liebt, das kritisiert man. Was bedeutet dieser Satz?

Ellen Schernikau: Also ich bin mal gefragt worden, mit wem ich mich treffen würde, wenn es ginge, dass man sich mit Toten trifft. Ich würde gerne Margot Honecker treffen und ihr diesen Satz sagen. Wenn man Kritik übt, dann ist man nicht gleich ein Klassenfeind – so wurde das in der DDR manchmal aufgefasst. Nein, ich will kritisieren, weil mir etwas daran liegt, damit sich was verändert, das ist doch eine konstruktive Haltung. Ja, meckern, das will ich auch nicht, das muss schon Hand und Fuß haben, wenn ich etwas kritisiere. Darüber würde ich gerne mit Margot Honecker sprechen. Denn die Kinder haben sich ja oft nicht getraut, irgendwie etwas zu fragen.

In den 70er Jahren hat mir mein Neffe, der war damals 14, hier in Magdeburg erzählt, sie haben einen neuen Staatsbürgerkundelehrer bekommen. Der kommt herein am ersten Tag und stellt sich vor und sagt: Damit ich euch besser kennenlerne, nehmt mal ‚nen Zettel raus und schreibt mal auf, was euch am Sozialismus gefällt. Und dann haben die geschrieben und geschrieben, abgegeben. Am nächsten Tag hatten alle eine 5, das war in der DDR die schlechteste Note. Alle Kinder, empört: Ja, aber wir haben doch das geschrieben, was wir gelernt haben! Ja, sagt der Lehrer, ich wollte aber wissen, was Du damit anfangen kannst, wie Du Dein Leben in einer sozialistischen Gesellschaft siehst, was Du denkst, und nicht nachplappern. Solche Lehrer, die hätten wir gebraucht. Die gab es leider nur vereinzelt. Es wurde nach dem Mund geredet und das ist nicht in Ordnung. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Leute so zu Opportunisten machen, zu Antikommunisten.

Ich wollte mal aus der SED austreten, weil dieses Geschwafel von meinen Genossen auf meiner Station so widerwärtig war. Die Genossen haben privat anders gesprochen als im Parteilehrjahr. Da bin ich zu meinem Parteisekretär gegangen in dem großen Krankenhaus in Magdeburg, das jetzt die Uniklinik ist, und habe gesagt: Ich möchte austreten. In so einem Verein will ich nicht sein, wo die Leute anders reden, je nach Situation. Und dann hat der sich das schildern lassen, ich hatte auch noch mehr Beispiele. Man macht sich das ja nicht leicht mit so einem Vorhaben. Der hat sich das angehört, hat mich angeguckt und hat gesagt: Ellen, so Leute wie dich brauchen wir, du bleibst schön drin. Wir wollen klare Worte sagen, wir wollen nicht schmeicheln, wir erwarten nicht, dass jeder Sozialist wird.

5111 02 - „Darüber würde ich gerne mit Margot Honecker sprechen“ - DDR, Ellen Schernikau, Ronald M. Schernikau, SED - Kultur
(Foto: Martina Lennartz)

UZ: Du meintest mal, dass du eigentlich vorgehabt hattest, deine Geschichte selbst zu verfassen. Hast du je darüber nachgedacht, deine Lebensgeschichte fortzuschreiben?

Ellen Schernikau: Ich wollte es tatsächlich „Irene Binz Teil 2“ nennen. Ich schreibe sowieso selbst gerne und ich habe nach Ronalds Tod – ich war ja damals fast auf den Tag genau im Vorruhestand und war also zu Hause und musste zum Glück nicht vor der Klasse stehen und irgendwelche klugen Sachen sagen – da habe ich angefangen zu schreiben. Und habe einfach alles aufgeschrieben zu Ronald. Erstmal. Also, das war eine Art Eigentherapie, damit ich bloß nichts vergesse. Das war einfach gut für mich und dann wurde das Feld meines Schreibens immer größer. Dann habe ich mir über dies und das Gedanken gemacht. Ich weiß noch, dass ich zur Gretchenfrage sechs oder acht Seiten geschrieben habe. Die Gretchenfrage ist „Faust“: „Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Religion?“ Unsere Familien sind beidseitig, Vater und Mutter, solange wir denken können, Atheisten, aber Berührung mit der Religion, das bleibt ja nicht aus. Und irgendwann hab ich aufgeschrieben, was ich erlebt habe. Also das war ein Prozess. Ich hab dann gemerkt, das geht an die Substanz, ich kann das nicht. Mich so reinzuversetzen, da war ich bei dem Thema Tod und Ronald, das hätte ja dazu gehört. Auf jeden Fall. Da kann ich heute natürlich aus dem Abstand heraus ganz anders drüber sprechen. Als ich gemerkt habe, ich selber kann das nicht, da hab ich einen Freund von Ronald, den Michael Sollorz, gefragt, mit dem ich auch befreundet bin. Dann hat er sogar einen Antrag bewilligt bekommen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, hat 1.000 Euro gekriegt. Das fanden wir alles ganz toll und dann irgendwann – es ging nicht, ich konnte es auch nicht erzählen.

Also lange Rede, kurzer Sinn, ich hätte natürlich genug Material und ich traue mir auch zu, dass ich das einigermaßen gut schreiben könnte, aber die Kräfte reichen nicht. Wenn ich ins Detail gehe, dann bin ich für mich allein.

UZ: Wenn du so auf dein Leben schaust, gibt es Dinge, die du im Rückblick bereust?

Ellen Schernikau: Also ich bereue nichts. Ich hab viele Fehler gemacht, ich hätte die ein oder andere Situation besser einschätzen können, aber Reue, das ist mir zu religiös. Das klingt nach Absolution, als wenn mir das vergeben werden kann, das ist alles Religion für mich. Ich stehe dazu.

Ich bedauere, dass ich Ronalds Vater nicht noch mehr Fragen gestellt habe, während unseres Briefwechsels zwischen 61 und 66. Ich hätte die eine oder andere Frage noch stellen müssen, aber der Mann hat es tatsächlich geschafft, dass ich das nicht getan hab.

Es war so beruhigend, er hat mir Fotos geschickt, noch ein paar Wochen bevor die Fluchthelferorganisation uns geholt hat, hat er eins geschickt vom Wohnzimmer in seinem Haus. Ich wusste, dass er ein Haus gebaut hat, und ich soll mir doch schon mal einen Lieblingsplatz aussuchen. Da bin ich nicht auf die Idee gekommen, zu fragen: Meinst du das ehrlich? Das war für mich wahr. Und alle Zweifel waren weg.

Also, ich hatte Zweifel, ich wusste natürlich, fünf Jahre verändern Menschen, und dass wir beide nicht wie Mönch und Nonne leben, das war uns beiden klar. Dafür sind wir viel zu lebenslustig, aber dass da was Ernstes entstanden ist mit Kind und zweitem Kind, da war er zu feige, mir das zu schreiben. Und die wohnten schon zusammen, das muss man sich mal vorstellen, und ich soll mir schon meinen Lieblingsplatz aussuchen? Der ist doch krank.

Ich denke heute, der wollte uns retten. Ich wusste ja nicht, dass er sich zum Nazi entwickelt hatte, und ich denke, er wollte uns einfach retten vom Sozialismus.

Ich kann nur bedauern, dass ich darauf reingefallen bin, aber ich bereue es nicht, denn das würde ja bedeuten, ich möchte Vergebung. Das will ich nicht. Ich steh dazu. Ich habe diesen Schritt gemacht, der war falsch, das habe ich aber nicht gewusst.

Man meint es ja immer gut. Ich wollte dem Sohn den Vater geben. Das war die Nummer eins. Nummer zwei war, ich habe den Mann geliebt und wollte noch mehr Kinder. Diese Motive sind ja nachvollziehbar. Und trotzdem, es ist nicht alles gut, was gut gemeint ist. Aber ich hab es gut gemeint, dem Ronald gegenüber, mir gegenüber und ich kann es einfach nur bedauern, dass ich nicht klüger war.

Quelle: Unsere Zeit

UZ - Unsere Zeit