6. Januar 2025

Dschihadisten in Syrien und Machtspielchen in der Region

Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:

Yusuf Karadaş

Die Angriffe auf Aleppo von dschihadistischen Gruppen, die der Al-Qaida-nahen HTS (Hayat Tahrir al-Scham) und der von Erdoğan unterstützten FSA/SMO (Freie Syrische Armee/Syrische Nationale Armee) angeschlossen sind, haben sich auf Hama sowie die kurdische Siedlungsregion Şehba ausgeweitet. Die USA, Israel und die Erdoğan-Regierung behaupten, nicht in diese Angriffe involviert zu sein.

Syrien war während der Kriege in Gaza und im Libanon vergleichsweise „ruhig“ geblieben, doch die Eroberung Aleppos durch die von der HTS angeführten Kräfte würde Syrien wieder zum Zentrum des Kampfes um die Vorherrschaft im Nahen Osten machen.

Daher lässt sich bereits jetzt sagen, dass kein Akteur, der am Machtkampf in der Region in irgendeiner Form beteiligt ist – von den USA und Russland über die Türkei, Israel, den Iran bis hin zu den arabischen Regimen am Golf – diese Entwicklungen untätig beobachten wird.

Zweifellos bewerten alle Akteure vor Ort die Entwicklungen aus ihrer eigenen Perspektive. Infolgedessen kursieren zahlreiche widersprüchliche Erklärungen, Einschätzungen und Verschwörungstheorien, die es schwierig machen, die Realität zu erkennen und korrekte Schlussfolgerungen zu ziehen.

Aus diesem Grund ist es wichtig, auf einige Geschehnisse und Fakten hinzuweisen, die als Wegweiser dienen und helfen können, die Entwicklungen besser zu verstehen.

Erstens: Es besteht kein Zweifel, dass der jüngste Angriff der HTS und der FSA/SMO durch Israels Schlag gegen die Kräfte der vom Iran geführten „Achse des Widerstands“ in Gaza und Libanon angestachelt wurde. Dieser Angriff ein eine Folge der Politik, die Region durch zionistische Aggressionen neu zu gestalten.

Zweitens: Die Tatsache, dass die HTS, die diesen Angriff anführt, hochgerüstet und gut ausgebildet ist, bestätigt Berichte, wonach ukrainische Geheimdienste und Offiziere in der Vergangenheit mit HTS Kontakt hatten und Unterstützung angeboten haben. Besonders auffällig ist die Unterstützung für HTS im Bereich der Produktion und Nutzung von Drohnen. Somit deutet dieser Angriff darauf hin, dass eine neue Front eröffnet wird, die – gestützt durch die USA und die NATO – darauf abzielt, Russland in Syrien zu schwächen.

Drittens: Obwohl HTS mit der Unterstützung von FSA/SMO-Gruppen agiert, bestreitet die Erdoğan-Regierung jede Verbindung zu diesen Angriffen. Dennoch lassen die Äußerungen des Sprechers des türkischen Außenministeriums, Öncü Keçeli, die wahre Haltung der türkischen Regierung erkennen. Laut Keçeli sind nicht die al-Qaida-nahen HTS-Kräfte, die eigentliche „Terrorbedrohung“, sondern die kurdischen Kräfte, die gerade versuchen, ihre eigenen Lebensräume zu schützen. Diese Darstellung zeigt, dass die Erdoğan-Regierung entgegen ihren Behauptungen, die Angriffe von HTS und der FSA/SMO nutzt, um Assad zu Zugeständnissen zu zwingen sowie neue Operationen gegen die Kurden vorzubereiten, die sie seit langem anstrebt.

Viertens: Ein weiteres Indiz für die Rolle der Erdoğan-Regierung ist das Vorgehen von Abdurrahman Mustafa, dem Präsidenten der von der Türkei kontrollierten „Syrischen Übergangsregierung“. Mustafa betrachtet die Lage in Aleppo als Gelegenheit, sich als „internationaler Ansprechpartner“ zu positionieren, und spricht von der „Befreiung“ des kurdischen Siedlungsgebiets Tel Rifaat.

Fünftens: Dass die Angriffe von HTS angeführt werden, die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuft wird, ermöglicht es den USA, Israel und der Türkei, sowohl ihre Verbindungen zu diesen Angriffen abzustreiten und gleichzeitig diese Aggressionen für ihre regionalen Interessen zu nutzen. Mit anderen Worten: HTS erweist sich für imperialistische Mächte und reaktionäre Kräfte in der Region als ein noch nützlicheres Werkzeug als andere Stellvertretermilizen.

Sechstens: Die Übergabe Aleppos (der nach Damaskus zweitwichtigsten Stadt Syriens) an die Dschihadisten ohne ernsthaften Widerstand zeigt die Schwäche der syrischen Armee unter Bedingungen, in denen sie keine Unterstützung durch Russland, Iran und die Hisbollah erhält.

Siebtens: Seit Beginn des Syrienkriegs waren die kurdischen Kräfte (PYD-SDF) aufgrund ihrer Positionierung Ziel von Angriffen dschihadistischer Gruppen. Auch bei den jüngsten Angriffen stehen sie im Fokus. Die Versuche von HTS, die kurdische SDF aus den kurdischen Vierteln Eşrefiye und Şeyh Maksud in Aleppo zu verdrängen, sowie die Angriffe der FSA/SMO auf die Linien bei Tel Rifaat und Manbidsch verdeutlichen sowohl die Bedrohung, die diese Gruppen für die Kurden darstellen, als auch die Verbindung dieser Bedrohung mit den regionalen Zielen der Türkei. Aussagen der SDF in Rojava und der KCK unterstreichen die Verbindung der Angriffe zur Türkei. Gleichzeitig dürfte es wenig überraschend sein, dass die USA, die im Osten des Euphrats mit den Kurden (SDF) zusammenarbeiten, im Westen des Euphrats den Angriffen auf die Kurden weiterhin gleichgültig gegenüberstehen.

Achtens: Die Forderung der syrischen Regierung nach Unterstützung durch die SDF angesichts der Angriffe und Besetzungen der Dschihadisten könnte unvorhergesehene Folgen haben, die den Zielen der Angreifer entgegenstehen. Dies könnte die Grundlage für eine neue Zusammenarbeit zwischen der SDF und der syrischen Regierung schaffen. Der Syrienkrieg hatte zuvor schon unvorhergesehene Entwicklungen hervorgebracht, wie die autonome Verwaltung in Rojava bis hin zum gestiegenen Einfluss des Iran.

Neuntens: Trotz ihrer Ausstattung und ihres organisierten Auftretens kann nicht ausgeschlossen werden, dass die von HTS geführten Dschihadistengruppen, wie in der Vergangenheit, Konflikte untereinander über die Verwaltung Aleppos oder die Verteilung von Ressourcen austragen werden.

Zehntens: Diese Entwicklungen zeigen, dass sich die Kriege in der Ukraine, Gaza und Libanon mit den regionalen Ambitionen der Erdoğan-Regierung in Aleppo überschneiden. Auch wenn HTS aktuell im Vordergrund steht, lassen sich die Ereignisse nicht unabhängig vom Macht- und Teilungskampf zwischen imperialistischen und reaktionären regionalen Akteuren verstehen.

Elftens: Dass demokratisch gewählte Volksvertreter in den kurdischen Gebieten vom türkischen Innenministerium abgesetzt oder ihrer Ämter enthoben und durch vom Staat eingesetzte Verwalter ersetzt werden, war auch eine Vorbereitung der Erdoğan-Regierung auf diese und weitere Angriffe auf die Kurden in der Region.

Der Einsatz von zehntausenden Dschihadisten unter der Führung von HTS im Rahmen der Politik zur Neugestaltung der Region verdeutlicht die weiterhin bestehende und akute Bedrohung, die durch imperialistische Mächte und regionale reaktionäre Kräfte – darunter die Erdoğan-Regierung – geschaffen wurde. Dies ist nicht nur ein Problem für Syrien, sondern für die gesamte Region, einschließlich der Türkei. Ohne eine gemeinsame demokratische, friedliche und säkulare Widerstandsbewegung der Völker der Region gegen die Imperialisten, ihre Kollaborateure und Monster wie HTS, scheint eine Veränderung dieser Bedrohung und der dunklen Situation leider nicht möglich.

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben

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