22. Dezember 2024

Syrien: Vor einem zweiten Afghanistan?

Übernommen von KOMintern:

Seit Mitte letzter Woche zieht die großangelegte Offensive dschihadistischer Terrormilizen ihre Eroberungs- und Blutspur durch Syrien. Aleppo, mit seinen etwa 2 Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt Syriens, wurde bereits eingenommen. Auch Hama, mit nahezu einer Million die drittgrößte Stadt des Landes, ist bereits in den Händen der „Gotteskrieger“. Und aktuell zieht sich die Schlinge um Homs, der viertgrößten Stadt, zu. Und während die al-Nusra Nachfolge-Allianz HTS schon auf Damaskus vorblickt, rückt die pro-türkische Terrormiliz SNA parallel gegen kurdisch geführte Stellungen vor. Sie erklärte bereits vor Tagen die Stadt Manbidsch (kurdisch Minbic) zum nächsten Ziel und führt auch schon Angriffe auf den selbstverwalteten Kanton. Hunderttausende kurdische, jesidische, arabische und christliche Bewohner:innen der Kampfgebiete sind bereits auf der Flucht. Begleitend erreichen uns täglich Berichte von Gräueltaten, Verschleppungen und Hinrichtungen.

Mit dem Vormarsch der Dschihadisten steht Syrien vor dem Abgrund und die Autonome Administration Nord- und Ostsyriens (AANES, besser bekannt unter Rojava) in akuter Gefahr in Blut ertränkt zu werden.

Allerdings lässt sich die Großoffensive der Gotteskrieger wie imperialistischen Fußtruppen nur im Rahmen der Geopolitik und des „Plan(s) der NATO“ und ihrer regionalen Verbündeten „zur Umgestaltung des Nahen Ostens“ verstehen, wie gerade auch eine ausführlichere Analyse in Yeni Özgür Politika nachdrücklich unterstrich. Deren Kern wiederum liegt in einer Neustrukturierung der strategischen Realitäten im Nahen Osten sowie einer Fronterweiterung gegen Russland und Schwächung des Irans im Rahmen der neuen globalen Blockkonfrontation. Dazu gesellen sich noch, partiell durchaus nicht ganz reibungslos mit der Globalstrategie der westlichen Großmächte verquickte, Ambitionen und Eigeninteressen der Regionalmächte oder auch kaum im Blick liegender Akteure.

Entsprechend liegt für Selahattin Erdem in Yeni Özgür Politika denn auch „der Verdacht nahe, dass [der] Plan [zum dschihadistischen Großangriff in Syrien] während des Besuchs des neuen NATO-Generalsekretärs Rutte in der Türkei und seines Treffens mit Erdoğan am 25. November abschließend diskutiert wurde.“ Ob der zwei Tage darauf gestartet Angriff nun direkt von Ankara vorbereitet, angeordnet oder „nur“ grünes Licht, mindestens seiner Duldung, gegeben wurde, lässt sich aktuell noch nicht mit nötiger Bestimmtheit sagen. Dass der aus der von der Türkei besetzten syrischen Provinz Idlib startende Feldzug Tausender Gotteskrieger nicht ohne grünem Licht aus „dem Palast“ in Ankara möglich war, ist hingegen ebenso evident, wie der Umstand der Ausrüstung der Dschihadisten von Thermalnachtsichtsystemen bis zu Kamikaze-Drohnen sowie deren Fütterung mit Geheimdienstinformation ein weiteres Mal unterstreicht: „Diese Angriffe wurden in Abstimmung mit internationalen Kräften durchgeführt“ – um es mit Hesen Koçer aus der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien auszudrücken. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch das symbolträchtige Foto näher, in welchem ein Dschihadist der HTS nach Einnahme der Stadt die türkische Flagge auf der Zitadelle von Aleppo hisst.

Ja, die unter den notorisch verschlossenen Augen der Weltöffentlichkeit verlaufene Reorganisation der vormaligen Al-Nusra-Front, des syrischen Ablegers der Al-Qaida, als HTS (Haiat Tahrir Al-Scham) sowie ihre militärische Ausbildung fand seit Jahren unter dem Schutzschirm und mit Segen sowie tatkräftiger Unterstützung Ankaras und einiger Golfmonarchien statt. Dass die für einen Taliban-ähnlichen Scharia-Staat in ganz Syrien kämpfende Gotteskrieger-Allianz den Vereinten Nationen, der EU oder auch den USA explizit als Terrororganisation gilt, scheint der medialen Berichterstattung geradezu in Vergessenheit geraten zu sein.  Dementgegen werden die dschihadistischen Milizen samt ihrer zahlreichen nichtsyrischen Kämpfer – ob aus dem Kaukasus oder ob Uiguren – vielmehr als „syrische Opposition“ oder „Rebellen“ verharmlost bzw. dahin umetikettiert.

Die von Ankara finanzierte und gesteuerte Dschihadisten-Allianz SNA wiederum, ist realiter nichts anderes als eine unter dem Kommando Erdoğans „Palast“ stehende pro-türkische Söldnertruppe und Terror-Miliz. Dementsprechend bildet ihre Hauptagenda auch die Schwächung bzw. Vernichtung des Rojava-Projekts und Gräuel gegen und Verschleppungen von Kurd:innen. Als nächstes Eroberungsziel erklärte die SNA wie eingangs erwähnt nun Manbidsch. Devlet Bahçeli, Vorsitzender der faschistischen MHP und Koalitionspartner Recep Tayyip Erdoğans, nimmt sich hinsichtlich des türkischen Strippenziehens mittlerweile auch kein Blatt mehr vor dem Mund. „Nicht nur sei Aleppo »bis auf die Knochen türkisch« [„und muslimisch“], sondern auch die Einnahme der Region Scheba nur der erste Schritt gewesen. »Manbidsch ist als nächstes dran«, erklärte er seinerseits am Mittwoch auf einer Fraktionssitzung der Partei“ – so der Journalist Tim Krüger.

Zugleich tummeln sich im globalpolitischen Amalgam Syrien nicht nur unterschiedlichste, sondern vielleicht auch nicht auf Anhieb vermutete Akteure. So halten sich nicht nur hartnäckig Berichte, dass ähnlich wie in den Sahel-Staaten Mali und Niger, auch rund um Aleppo ukrainische Fremdenlegionäre aktiv waren, die seit Sommer nach Idlib gesickert sind. Die ukrainischen Zeitung Kyiv Post berichtete letzten Sonntag zudem, dass die Dschihadistengruppen der HTS-Allianz „eine Einsatzausbildung von Spezialeinheiten der Khimik-Gruppe des Hauptnachrichtendienstes [sprich: Militärnachrichtendienstes] der Ukraine (HUR) erhalten (haben)“ – „einschließlich des Einsatzes von Drohnen“, um durch einen mit modernsten Waffen bestückten Vormarsch der Gotteskrieger in Syrien, Russland zu schwächen.

Geradezu offensichtlich ist demgegenüber freilich die Verstrickung Israels, das Syrien seit Monaten verstärkt angreift und dessen Luftwaffe den Dschihadisten vielfach den Weg geebnet hat und aktuell die libanesisch-syrischen Verbindungswege nach Homs ins Visier nimmt. Die Zusammenarbeit mit den dschihadistischen Gruppen Syriens sind allerdings noch enger und reichen von langjährigen Verbindungen bis zu Waffenlieferungen – wie vor annähernd sechs Jahren auch der seinerzeitige Generalstabschef der Israelischen Streitkräfte (IDF), Gadi Eizenkot, öffentlich einräumte. Vorrangiges Ziel Tel Avivs ist es, die Kampffront gegen die sogenannte „Achse des Widerstands“ auszuweiten und durch die zynische Verwandlung des Landes in einen syrischen „Failed State“ die Verbindung zwischen dem Iran und der Hisbollah im Libanon zu zerstören. Als Begleittöne dieser Ziele machen über diese strategische Neuordnung des Nahen Ostens hinaus auch handfeste Filetierungs- und Annexionsambitionen die Runde.

Ähnlich, wenn auch aus anderen Motivlagen, liegt die Lage der Dinge auch in Türkei. Ankara geht es vor allem darum, sich – in Erdoğans eigenen Worten geredet: „wie hoch der Preis auch sein mag“ – dem verhassten, kurdisch geführten, multiethnischen wie multikonfessionellen und antipatriarchalen Selbstverwaltungs-Projekt an seiner Südgrenze zu entledigen. Sprich: Die Autonome Administration Nord- und Ostsyriens (AANES) mit Stumpf und Stiel zu vernichten, eine demographische Neuordnung der Region zu etablieren und im Rahmen der Möglichkeiten seine neo-osmanischen oder groß-türkischen Ambitionen, einschließlich Aleppos, zu realisieren. Ob als entsouveränisierter Korridor unter groß-türkischer Patronanz, als türkisches Protektorat oder in vollständiger Besetzung und Annexion – die konkrete Gestalt und Ausformung enthält eine gewisse Bandbreite.

Entsprechend, so betont Yeni Özgür Politika zu Recht, „zielen die Angriffe der SNA von Anfang an darauf ab, die kurdische Präsenz und Aktivität in Şehba, Minbic, Tabqa und Raqqa zu vernichten. Sobald die Truppen Aleppo erreicht hatten, wurden die Angriffe der SNA in diese Richtung umgeleitet werden.“ Die vom „Palast“ befehligte Lenkung des Hauptstoßes gegen die kurdische Selbstverwaltung soll, etwaig auch unter Einsatz türkischer Armee, das Rojava-Projekt und seine Errungenschaften ausradieren.

Dass darüber Genannte hinaus, wie Yeni Özgür Politika gerade unterstrich, auch die USA selbst, sowie Großbritannien und Saudi-Arabien Beziehungen zur HTS unterhalten dürften und mindestens die beiden Letzteren die Terrorallianz auch aktiv unterstützen, wird aus dem altbekannten Konzert der Großmächte und der Regionalmachtklaviatur Riads nicht weiter überraschen. In diesen Kontext reiht sich aber ebenso das Schulterzucken über den „Kollateralschaden“ des Wiedererstarkens der Mörderbanden des IS ein.

Kurz nach der Jahreswende von 2014 auf 2015 haben der heldenhafte Kampf der YPG und YPJ zusammen mit ihren kommunistischen Verbündeten aus der Türkei und internationalistischen Freiwilligen die schwarze Fahne der dschihadistischen Dunkelheit hinweggefegt. Heute, genau 10 Jahre später, steht die Sache an einem vergleichbaren Punkt und Lage von Neuem vorm Abgrund.

Quelle: KOMintern

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