18. Dezember 2024

Wankende Weltordnung – Kämpfende Klassen

Übernommen von Unsere Zeit:

„Kath hat heute morgen schon den Tee in ihrer Blumentasse aufgesetzt. ‚Die Stromrechnung, wissen Sie. Ich setze den Kessel nur morgens auf. Der Rest kommt in die Thermoskanne. Jeder Penny zählt.‘“ Schon im zweiten Absatz ist man mitten im Klassenkampf. Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit, steigt ohne Umschweife in die Lebensrealität der Krankenpflegerinnen in Britannien ein. 2023 streikten mehr als eine halbe Million für einen Lohn, von dem sie die Heizkosten zahlen oder sich den Bus zur Arbeit leisten können.

Schnell zieht Mertens Leserin und Leser in die Welt der Meuterei. Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht die Inflation der Lebensmittelpreise und Energiekosten. Er geht sparsam mit verschleiernden Prozentzahlen um: Monopolkonzerne machten die Preise und Spekulanten trieben sie in die Höhe. Mertens führt das auf die totale Durchsetzung der neoliberalen Ideologie zurück. Er zitiert Margret Thatcher aus dem Jahr 1981: „Was mich an der gesamten politischen Entwicklung der letzten dreißig Jahre irritiert hat, ist, dass sie sich immer in Richtung einer kollektivistischen Gesellschaft bewegte.“ Die hohe Inflation zu Beginn der 1980er Jahre wurde genutzt, um eine Wende herbeizuführen. Als erstes wurden die kampfstarken britischen Gewerkschaften zerschlagen. Die Regierung löste eine Rezession aus, die zur Verarmung breiter Schichten der britischen Bevölkerung führte und an der sich eine kleine Minderheit extrem bereichern konnte.

Die gerufenen Geister setzten eine Spirale in Gang. Die Profite sprudelten, Armut verbreitete sich, die Staaten bluteten aus und ihre Schulden explodierten. Bis im Jahr 2008 die Finanzkrise das Konstrukt fast zum Zusammenbruch brachte. „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? (…) Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert“, schrieben schon Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei. Deutschland zwang Europa unter dem Stichwort „Austerität“ ein Kahlschlagprogramm auf. Daran bereicherte sich das deutsche Monopolkapital, sorgte aber auch für den Aufstieg der Vermögensverwalter wie BlackRock.

Das dritte Kapitel leitet Mertens mit einem Gespräch mit Liam ein, der bei der BASF in Ludwigshafen beschäftigt ist. Im März 2023 wurde die Anlage, in der Liam gearbeitet hat, von der Werksleitung stillgelegt. Die Produktion ist aufgrund der hohen Gaspreise nicht mehr rentabel. Der Autor hält fest: „Diese unerwartete europäische Gaswende ist ein Geschenk des Himmels für die USA.“ Ökonomisch und ökologisch ist sie eine Katastrophe nicht nur für Deutschland.

Er kommt zurück auf die Energiefrage, die die Lebensbedingungen der Menschen in Europa nach unten zieht. Sie ist eng verwoben mit Zukunftsfragen. Die für die Entwicklungen modernster Technik notwendigen Rohstoffe kommen zum großen Teil aus der Dritten Welt. Der Zugriff auf sie ist zentral. „Im Wettlauf der technologischen Entwicklung liegt nicht mehr automatisch derjenige an der Spitze, der am schnellsten ist. Auch derjenige kann gewinnen, der seine Gegner am schlauesten zu Fall bringt. So wird der Welthandel also zunehmend politisiert.“

Beginnend mit dem Aufstand der Sklaven in Haiti 1791 zeichnet Mertens den Kampf gegen den Kolonialismus nach. Mit der Erringung der politischen Unabhängigkeit folgt für viele Länder eine jahrzehntelange wirtschaftliche Abhängigkeit und fortgesetzte Ausplünderung. Erst jetzt entstehe die Möglichkeit, den komplexen ökonomischen Fesseln aus Unterentwicklung, Verschuldung, Kontrolle des Welthandels und Dollarhegemonie zu entkommen. Am Beispiel Indiens entwickelt Mertens die Widersprüchlichkeit dieses Prozesses: „Kaum irgendwo auf der Welt liegen exorbitanter Reichtum und nackte Armut so dicht beieinander – die soziale Kluft ist enorm. Einer von fünf Menschen in Indien ist arm. Und die regierende BJP tut alles, um auch religiöse Spaltungen zu schüren.“ Dagegen entwickele sich eine Meuterei der Volksbewegungen, also „unter Deck“, während über Deck die Südhalbkugel gegen die westliche Hegemonie meutere. Ein interessantes Bild, aber bei der Widersprüchlichkeit der BRICS-Staaten nicht zu verallgemeinern. Proteste gegen die indische Regierung müssen einfach anders bewertet werden als gegen die chinesische oder brasilianische Regierung.

Im fünften Kapitel beschäftigt sich Mertens mit dem Krieg in der Ukraine. Er beschreibt den Versuch, Russland nach dem Sieg über die So­wjet­union in Abhängigkeit zu führen und dessen Abwehrbemühungen seit den 2000er Jahren. Er geht auf die NATO-Osterweiterung, den Maidan-Putsch und den Bürgerkrieg ein. Einen langen Abschnitt widmet er dem Ausverkauf der Ukraine an das Monopolkapital. Wie der Autor dann allerdings zur Bewertung kommt, Russland sei allein schuld an diesem Krieg und habe die „unabhängige Ukraine“ überfallen, erschließt sich aus dem Geschriebenen nicht.

Mertens schafft es, in seinem Buch die weltweiten Entwicklungen mit den Angriffen auf die Arbeitenden in den Zentren zu verbinden. Man darf von ihm keine gänzlich neue Analyse erwarten. Teilweise verharrt er zu sehr an der Oberfläche. Dennoch hilft seine Darstellung der „doppelten Meuterei“, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Theorie die Massen erreichen kann. Unter diesem Gesichtspunkt eine klare Empfehlung.

Peter Mertens
„Meuterei: Wie unsere Welt­ordnung ins Wanken gerät“
Brumaire-Verlag, 285 Seiten, 19 Euro
Erhältlich im UZ-Shop

Quelle: Unsere Zeit

UZ - Unsere Zeit