Die “Brandmauer”: Gegen wen und wofür gekämpft werden muss!
Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:
Eren Gültekin
Die Abstimmung über den Entschließungsantrag zum Fünf-Punkte-Plan zur Migration der CDU/CSU, der mit den Stimmen der AfD und FDP sowie der Enthaltung des BSW beschlossen wurde, führt berechtigt zu grosser Empörung. Die Wut ist auch berechtigt, da zum ersten Mal mit den Stimmen der AfD – auch wenn nicht bindend – ein Antrag die Mehrheit im Bundestag erlangte. Medien, Politik und Zivilgesellschaft sind voller „gefallener“, „gebrochener“, „eingerissener“ oder „zu verteidigender“ Brandmauern.
Die Risse der Brandmauer
Was bedeutet eigentlich diese Brandmauer und ist sie erst seit Antragsmehrheit sozusagen „gebrochen“? Wir müssten ein kleines Revue der Ampelregierung passieren lassen, um diese Frage beantworten zu können.
Beginnen wir damit, dass es Bundeskanzler Scholz war, der Abschiebungen „im großen Stil“ forderte. Gesetze zur Erleichterung von Abschiebungen (z. B. verlängerte Abschiebehaft, reduzierte rechtliche Schutzmöglichkeiten) wurden eingeführt, um Abschiebungen zu beschleunigen. Mit dem Rückführungsverbesserungsgesetz wurde die Abschiebepraxis verschärft und der Generalverdacht gegenüber Geflüchteten zugespitzt.
Und war es nicht die Ampelregierung, die die GEAS-Reform unterstützte – mit all ihren Maßnahmen zur Verschärfung der Asylverfahren und zur Verstärkung der europäischen Grenzpolitik? Allen voran Innenministerin Nancy Faeser (SPD), die immer wieder auf die GEAS-Reform verwies, sie als den „Schlüssel zur Begrenzung der irregulären Migration“ bezeichnete und deren Umsetzung für Deutschland als „höchste Priorität“ definierte.
Nicht zuletzt wurde unter der Ampelregierung die Bezahlkarte eingeführt, um die wirtschaftliche Freiheit von Geflüchteten einzuschränken. All diese Maßnahmen wurden doch bereits vor der Abstimmung über den 5-Punkte-Plan der CDU/CSU umgesetzt – und zwar von der Ampelregierung selbst. Damit ebnete sie den Weg für den angeblichen Bruch der Brandmauer.
Konnte es denn noch eine Hemmschwelle für diesen Bruch geben, wenn bereits alle rassistischen Maßnahmen umgesetzt und ein solches Klima befeuert wurden? Egal, wie sehr sich SPD und Grüne als geflüchtetenfreundliche Parteien darstellen – in den Bundesländern, in denen sie in Koalition mit der CDU regieren, werden derzeit die meisten Abschiebungen durchgeführt (Schwarz-Grün: Baden-Württemberg, NRW, Schleswig-Holstein / Schwarz-Rot: Berlin, Hessen, Sachsen).
Anzumerken ist, dass die Grünen trotz der umstrittenen Wahl laut ihrer Vorsitzenden Franziska Brantner offen für eine Zusammenarbeit mit der CDU im Falle einer Regierungsbildung sind. Brandmauer hin oder her – wenn es um Regierungsbeteiligung geht, spielt all das offenbar keine Rolle.
Gefallen mit Hilfe von allen Parteien
„Wir sind es gewohnt, dass die AfD, eine rassistische Partei, deren Aufgabe es ist, das Klima zu vergiften und die Spaltung hierzulande voranzutreiben. Ebenso sind wir es gewohnt, von CDU-Politikern wie Merz in Talkshows abwertende Bemerkungen und Unwahrheiten zu hören, wie: „Die (Asylbewerber) sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, während die deutschen Bürger nebendran keine Termine bekommen.“ Und ein BSW, zwar darauf hinweist, dass der Rechtsruck und das Erstarken der AfD dem zu verschulden sind, dass aufgrund der bisherigen Politik die Lebensverhältnisse der allermeisten in diesem Land sich verschlechtert haben, dennoch damit argumentiert, eine „gute und schlechte“ Migrantenkarte zu spielen. Aber die folgende Äußerung: „Flüchtlinge, die bei uns permanent die Regeln brechen oder gar im Herkunftsland Urlaub machen, haben mit Recht keinen Schutzstatus mehr“, stammt vom ehemaligen Linken-Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow. Demjenigen, der durch den Gewinn des Direktmandats die Linke erneut in den Bundestag katapultieren soll. Demjenigen, der mitverantwortlich für Abschiebungen in Thüringen war, trotz Kritik aus seinen eigenen Reihen. All dies verdeutlicht, dass längst die Parteien von SPD, Grünen, FDP, BSW bis hin zur Linken sowohl mit ihren politischen Maßnahmen als auch ihrer Sprache die sie seit Jahren angenommen haben, die sogenannte Brandmauer längst zum Stürzen freigegeben hatten.
Wahlstrategien für das kleinere Übel auf Social Media
Bereits seit Wochen werden auf Social Media sogenannte Strategien gegen die AfD verbreitet oder durch inszenierte Szenarien Wahlempfehlungen ausgesprochen. Da all diese spekulativen Handlungen den Einzug der AfD in den Bundestag nicht verhindern können, läuft es am Ende darauf hinaus, dass die Empfehlungen zumeist dazu führen, die Mitverursacher des Problems – die ehemaligen Regierungsparteien – erneut zu wählen.
So heißt es in einem gemeinsamen Instagram-Post von „krautreporter.de“ mit „lea.schoenborn“: „Wem es wichtig ist, dass die AfD nicht die zweitstärkste Partei wird, der sollte die Grünen oder die SPD wählen, denn beide Parteien haben Chancen darauf, noch vor die AfD zu kommen.“
Doch diese Art von Empfehlung ist nicht nur eine Ohnmachtsreaktion, sondern entpolitisiert auch die politische Mitbestimmung. Natürlich sollte jeder sein Wahlrecht wahrnehmen, jedoch ist der Versuch, die AfD mit einer solchen Strategie zu schwächen, ohne sich inhaltlich mit ihr auseinanderzusetzen, nicht wirklich zielführend.
Mit einer solchen Strategie schafft man es vielleicht, den Einzug eines, zweier oder sogar dreier oder vier AfD-Kandidaten in den Bundestag zu verhindern. Doch dürfen wir die anderen Parteien nicht von ihrer Mitverantwortung freisprechen. Sind es nicht sie, die seit Monaten Menschen aufgrund ihrer Solidarität mit Palästina kriminalisieren, sich für mehr Befugnisse der Polizei einsetzen, jungen Menschen, die sich politisch engagieren, mit Berufsverboten wie in den 70ern drohen und die Aufarbeitung der Gerechtigkeit für Hanau weiterhin hinauszögern?
Bei diesen sogenannten Wahlstrategien gegen den Rechtsruck wird der Kontext bewusst ausgehöhlt, und den Mitverantwortlichen, die zugelassen haben, dass rückschrittliche Politik und stereotype Sprache zur Normalität wurden, wird bewusst die Verantwortung entzogen.
Am Ende des Tages sollte es doch neben dem Wählen darum gehen, endlich konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um das Problem an der Wurzel zu packen.
Rassistische Migrationspolitik und Agenda 2030
Was können wir von einer Regierung erwarten, die wahrscheinlich von der CDU geführt wird – unabhängig davon, ob sie mit der AfD, der SPD oder den Grünen koaliert, die sich bereits offen für eine Zusammenarbeit gezeigt haben? Mit Beginn des Wahlkampfes, aber auch schon vorher, wurden Andeutungen auf eine „Agenda 2030“ gemacht. Laut der CDU handelt es sich dabei um ein wirtschafts- und finanzpolitisches Konzept, das darauf abzielt, die deutsche Wirtschaft anzukurbeln und ein mittelfristiges Wachstum von mindestens zwei Prozent pro Jahr zu erreichen.
Im Kern jedoch ist es vor allem eine Agenda, die Unternehmen und Besserverdienende begünstigt. Die soziale Sicherheit wird geschwächt, Migration weiterhin als politisches Ablenkungsthema missbraucht und ökologische Fortschritte infrage gestellt. Im Grunde handelt es sich um eine Fortsetzung und Verschärfung neoliberaler Politik, die verheerende Folgen für die arbeitende Bevölkerung haben wird.
Eine Regierung der CDU mit der AfD wäre selbstverständlich die reaktionärste Variante, die die Lage für arbeitende Menschen, Migranten, Frauen und Jugendliche erheblich verschärfen würde. Doch auch eine Koalition mit der SPD, den Grünen oder beiden wäre ein besorgniserregendes Szenario – eines, das wir bereits ohne die CDU erlebt haben. Die rot-grüne Regierung unter Schröder in den 2000er Jahren diente mit ihrer „Agenda 2010“ als Vorbild für Merz und Co. Schon damals hatte diese Politik massive Auswirkungen auf das Sozialsystem und die Lebensrealität von Millionen Menschen in Deutschland – Folgen, die wir bis heute spüren. Mit einer „Agenda 2030“ würde sich diese Entwicklung in jeder möglichen Regierungskonstellation noch weiter zuspitzen. Diese Maßnahmen weisen darauf hin, dass ein Rechtsruck nicht nur aus einer moralisierenden Perspektive zu betrachten ist, sondern mit ökonomischen Zuspitzungen und anlaufenden Kriegen einhergeht, in denen die Interessen der Reichen und Unternehmen gegen den Rest der Gesellschaft ausgespielt werden. Mithilfe einer rassistischen Migrationspolitik wird dabei versucht, noch mehr Profit zu generieren, und eine „Agenda 2030“ soll diese Ziele noch weiter beschleunigen. Dafür nimmt man in Kauf, dass der Rest der Gesellschaft leidet.
Wer profitiert wirklich von den Protesten gegen Rechts?
Nun stehen aktuell landesweit überall Demonstrationen gegen die aktuelle Rechtsentwicklung an – nicht zum ersten Mal. Sei es vor wenigen Jahren mit „Wir sind mehr“, nachdem in Chemnitz Nazis Jagd auf Migranten gemacht hatten, oder zu Beginn des letzten Jahres mit der Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen, in denen bekannt wurde, dass Unternehmer und führende AfD-Politiker sich in Leipzig getroffen und Remigrationspläne geschmiedet hatten. Und wie zuvor fanden sich auch da Hunderttausende Menschen auf den Straßen wieder – zurecht auch jetzt.
Jedoch stellt sich die Frage: Wie nützlich sind diese einmaligen Reaktionen nach Ereignissen wie dem am 29. Januar im Bundestag? Ist die Rückführung des Rechtsrucks mit der Belagerung von CDU-Büros und Zentralen wirklich hoffnungsvoll? Oder hat das ständige Mobilisieren von Menschen von einem Parteitag zum anderen der AfD bisher etwas bewirken können? Natürlich spricht nichts gegen derartige Protestformen – sie sind als Reaktion notwendig. Doch steht man auf der Straße im Schulterschluss mit Regierungsparteien und hat die Vorstellung, dass man den Rechtsruck damit zurückdrängen, gar bekämpfen könne. In der Realität jedoch profitieren diese Parteien am Ende von dieser symbolischen Tat und gewinnen zudem neue Mitglieder – statt dass es die ehrlichen politischen oppositionellen Kräfte schaffen. Es wirkt wie eine Ohnmachtsaktion nach jedem Ereignis, die in die Hände der bürgerlichen Parteien spielt und falsch kanalisiert wird.
Die spürbaren Kämpfe führen, statt nur reagieren
Wofür die Rechtsentwicklung nützlich ist, haben wir doch in den vergangenen Jahrzehnten erlebt: das immer ungleicher verteilte Vermögen, die Prekarisierung mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen, die steigende Armut und Arbeitslosigkeit, die Verteuerung der Lebenserhaltungskosten nach jeder Krise. Während Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Krieg und Aufrüstung bereitgestellt und Unternehmen subventioniert werden, Milliarden an Dividenden ausgeschüttet werden, kürzt man im selben Atemzug Gelder für Bildung und Soziales in jedem neuen Bundeshaushalt. Sind dies nicht die realen Probleme der Bevölkerungsmehrheit? Und sind es nicht genau diese sogenannten gemäßigten Parteien, die sich aktuell gegen rechts und die AfD stellen und von einer „Brandmauer“ reden, die eben jene Probleme verursacht haben? Diese Parteien treiben immer wieder einen Keil zwischen die arbeitenden Menschen und haben damit unter anderem den Aufstieg der AfD sowie die Salonfähigkeit rechten Gedankenguts mit zu verantworten.
Neben all diesen politischen Maßnahmen, die die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht haben, zeigt sich auch aktuell in den Wahlprogrammen aller Parteien, die sich für eine Erhöhung des Mindestlohns aussprechen, dass dies vor allem der Ruhigstellung dient. Warum sonst ist das Wahlversprechen von SPD, Grünen, BSW bis hin zur Linken dasselbe – ein Mindestlohn von 15 Euro? Ein Mindestlohn, der zunächst für etwas Luft zum Atmen sorgt, aber schnell wieder zum Ausgangspunkt zurückführt, an dem die Lebenserhaltungskosten viel zu hoch sind. Genau dieser Ausgangspunkt stärkt immer wieder die AfD in ihrer Propaganda und wird sie weiter bestätigen lassen, auch wenn der Inhalt ihres Wahlprogramms das Gegenteil behauptet.
Doch es reicht nicht, nur über die grundlegenden Probleme der Menschen zu sprechen – es braucht konkrete Maßnahmen. Deshalb ist es unter anderem wichtig, sich an den aktuellen Tarifrunden im öffentlichen Dienst für Bund und Kommunen zu beteiligen. Denn nur spürbare Kämpfe können auch spürbare Veränderungen bewirken. Ebenso gilt es, sich gegen Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen zu stellen, die durch Unterfinanzierung und Privatisierung zu teuren Privilegien werden. Gleiches gilt für den Kampf um mehr bezahlbaren Wohnraum und alle weiteren konkreten Probleme, die wir hautnah in unserem Alltag erleben.
Nur wenn wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen und diese Probleme konkret angehen, machen wir rechte Propaganda überflüssig. Denn nur gute Lebensbedingungen für die Bevölkerung können etwas gegen reaktionäre und rückschrittliche Politik bewirken. Diese treten vor allem in Zeiten zutage, in denen das führende eine Prozent des Landes seine Märkte verteidigen und seine Stellung ausbauen möchte. Ein konkretes Beispiel dafür haben wir in der Ausrichtung der Ampelregierung gesehen: Sie wollte ihre „Führungsrolle“ im Namen der „deutschen Interessen“ in der Welt verteidigen und strebt deshalb an, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen – unter dem Vorwand, die Demokratie in der Ukraine zu verteidigen. Dafür muss die Bevölkerung ihren Gürtel enger schnallen, während die Interessen des einen Prozents weiterhin auf Kosten der breiten Masse verteidigt und ausgebaut werden.
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben