8. Januar 2025

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Griechenland wegen illegaler Zurückweisung

Übernommen von Presse­mitteilungen | PRO ASYL:

PRO ASYL begrüßt das heutige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall einer türkischen Asylsuchenden, die von Griechenland über die Landgrenze in die Türkei illegal zurückgewiesen wurde. Das Urteil zeigt unmissverständlich, dass der brutalen Pushback-Praxis Griechenlands ein Ende gesetzt werden muss. Hier steht auch die Europäische Union in der Pflicht, insbesondere die EU-Kommission. PRO ASYL fordert die EU-Kommission auf, nun Sanktionen gegen Griechenland in die Wege zu leiten und sich klar und deutlich von sämtlichen Plänen zu distanzieren, die Zurückweisungen an den Außengrenzen Vorschub leisten.

„Das heutige Urteil ist ein Paukenschlag! Es ist zwar seit Jahren bekannt, dass Griechenland Schutzsuchende systematisch mit brutaler Gewalt illegal zurückweist oder auf dem offenen Meer aussetzt. Konsequenzen gab es für Griechenland bisher jedoch nicht. Damit muss ab heute Schluss sein: Der EGMR hat Griechenland für seine Zurückweisungspraxis unmissverständlich verurteilt“, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

„Das Urteil sendet eine deutliche Botschaft an ganz Europa: Menschenrechte sind auch an der Grenze einzuhalten! Das muss von Athen über Warschau bis nach Brüssel gehört werden. Denn was wir erleben, ist eine Erosion der Menschenrechte an den Außengrenzen, illegale Pushbacks sind weit verbreitet. Auch deutsche Politiker und Politikerinnen sollten genau hinschauen und sich zu Herzen nehmen, was heute in Straßburg entschieden wurde“, erläutert Wiebke Judith.

PRO ASYL fordert: EU-Kommission muss Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten

In seinem heutigen Urteil (A.R.E. gegen Griechenland, 15783/21) hat der Gerichtshof Griechenland wegen der Zurückweisung einer türkischen Asylsuchenden verurteilt, die 2019 über den Grenzfluss Evros/Meriç nach Griechenland geflohen war. Das Gericht hat außerdem festgestellt, dass griechische Behörden Schutzsuchende zum damaligen Zeitpunkt systematisch ohne individuelle Prüfung in die Türkei zurückgewiesen haben.

„Die Pushback-Politik Griechenlands bekommt seit Jahren Rückendeckung aus Brüssel. Die EU-Kommission muss jetzt ihrer Pflicht als Hüterin der Verträge nachkommen: Sie darf nicht mehr nur ihre ‚Besorgnis zum Ausdruck bringen‘, sondern muss ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten“, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Zudem fordert PRO ASYL, dass die europäische Finanzierung des griechischen Grenzregimes beendet werden muss. Entsprechende Gelder an Griechenland müssen eingefroren werden und dürfen erst wieder freigegeben werden, wenn die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten durch griechische Grenzschutzbehörden garantiert ist. Schließlich muss auch Frontex Konsequenzen ziehen und darf sich nicht weiterhin an illegalen Zurückweisungen beteiligen. Sämtliche Frontex-Einheiten müssen aus Griechenland abgezogen werden. Auch die Bundesregierung muss das Bundespolizei-Personal umgehend aus Griechenland abziehen.

Fall: Griechische Sicherheitsbehörden schieben Frau über den Grenzfluss in die Türkei zurück

Bei der Klägerin in dem Verfahren A.R.E. gegen Griechenland (15783/21) handelt es sich um eine türkische Grundschullehrerin, die wegen angeblicher Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung in der Türkei verfolgt wurde. Sie floh 2019 über den Grenzfluss Evros/Meriç nach Griechenland und suchte dort Schutz. Ihr Asylgesuch wurde von den griechischen Behörden ignoriert. Sicherheitskräfte inhaftierten sie für einige Stunden, nahmen ihr sämtliche persönliche Gegenstände ab und schoben sie schließlich mit einem Boot über den Grenzfluss Evros/Meriç zurück in die Türkei, wo sie ins Gefängnis kam.

Der Griechische Flüchtlingsrat (GCR), der die Klägerin auch vor dem EGMR vertritt, hat in ihrem Namen in Griechenland Strafanzeige gestellt, die jedoch mit der pauschalen Begründung abgewiesen wurde, dass „die griechische Polizei keine Pushback-Praktiken anwendet“.

Gerichtshof verurteilt Verstöße gegen Menschenrechtskonvention

Der EGMR hat nun in seinem Urteil mehrere Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt: Die Zurückweisung ohne individuelle Prüfung stellt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) dar. Die Inhaftierung von A.R.E. verstößt gegen Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) , weil es sich um eine informelle Inhaftierung ohne Rechtsgrundlage handelte. Zusätzlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass das griechische Rechtssystem A.R.E. keinen wirksamen Rechtsbehelf ermöglicht hat (Verstoß gegen Art. 13 EMRK – Recht auf wirksame Beschwerde).

In einem zweiten Urteil (G.R.J. gegen Griechenland (15067/21) hat der Gerichtshof heute die Beschwerde eines afghanischen Asylsuchenden abgewiesen, der 2018 als unbegleiteter Minderjähriger von griechischen Behörden auf dem offenen Meer in einem manövrierunfähigen Schlauchboot ausgesetzt worden war. Der Gerichtshof hat zwar anerkannt, dass Pushbacks auf den griechischen Inseln damals systematische Praxis griechischer Behörden waren. Allerdings hat er es nicht als erwiesen angesehen, dass der Beschwerdeführer G.R.J. Opfer eines Pushbacks wurde.

Beim EGMR sind viele Individualbeschwerden von Schutzsuchenden anhängig, die Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention wegen illegaler Zurückweisungen in Griechenland geltend machen. Das heutige Urteil A.R.E. gegen Griechenland (15783/21) stellt daher eine Grundsatzentscheidung dar, auch wenn es eine Einzelfallentscheidung ist.

Hintergrund: Griechenlands illegale Pushbacks sind seit vielen Jahren öffentlich bekannt   

Schutzsuchende ohne Prüfung des Einzelfalls zu entführen, zu misshandeln, sie gewalttätig in die Türkei zurückzuschieben oder sie auf dem offenen Meer auszusetzen ist seit Jahren systematische Praxis griechischer Behörden und wurde tausendfach von Nichtregierungsorganisationen und Journalist*innen dokumentiert. Allein für den Zeitraum zwischen März 2020 und März 2023 hat die Rechercheagentur Forensic Architecture mehr als 2.000 verifizierte Vorfälle dokumentiert, bei denen 55.445 Schutzsuchende in manövrierunfähigen Schlauchbooten oder Rettungsinseln auf dem offenen Meer ausgesetzt wurden. Die New York Times hat im Mai 2023 sogar Videoaufnahmen eines solchen ‚Driftbacks‘ auf der Insel Lesbos veröffentlicht.

Auch das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) hat in seinem letzten Bericht erneut bestätigt, dass solche Drift- und Pushbacks systematisch stattfinden. Und der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migrant*innen stellte bereits 2022 fest, dass „in Griechenland Zurückweisungen an Land- und Seegrenzen de facto zur allgemeinen Politik geworden [sind]“. Nichtsdestotrotz leugnet die griechische Regierung bisher beharrlich, dass solche illegalen Zurückweisungen stattfinden.

EU-Kommission beschränkt sich bisher auf „Besorgnis“

Recherchen von NDR und WDR haben Anfang 2024 aufgedeckt, dass auch Frontex-Einheiten weiterhin an Drift- und Pushbacks in Griechenland beteiligt sind. Die Vorwürfe wurden vom Grundrechtsbeauftragten von Frontex in einem internen Untersuchungsbericht bestätigt. Die EU-Kommission hat bisher immer nur ihre „Besorgnis“ zum Ausdruck gebracht und Griechenland ermahnt, die Vorwürfe aufzuklären. Sanktionen gegen Griechenland wegen der massiven Rechtsverletzungen im Rahmen von Pushbacks wurden jedoch bisher nicht verhängt.

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Quelle: Presse­mitteilungen | PRO ASYL

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