22. Januar 2025
UZ - Unsere Zeit

Laufendes Band des Todes

Übernommen von Unsere Zeit:

Zu bestimmten Jahrestagen erfolgt die Feststellung mit dem Gestus von Betroffenheit: Die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz wurden einzig zur Vernichtung der Juden errichtet und betrieben – mea culpa.

Die Historikerin Susanne Willems hat jetzt ein Buch veröffentlicht, das diesen systematischen Massenmord und alle anderen deutschen Verbrechen in Auschwitz nicht bagatellisiert, wohl aber anders interpretiert als die meisten Vertreter ihrer Zunft. „Die Entwicklung des Lagers Auschwitz von einem Ort der Internierung, Folter und Vernichtung polnischer politischer Gefangener zu einem Ort der Versklavung und Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener, der Sinti und Roma und einer Million Juden war bei der Errichtung des Konzentrationslagers im Mai 1940 nicht geplant“, lautet einer ihrer Schlüsselsätze. „Die SS orientierte ihre Entscheidungen über die Funktion und den Ausbau dieses Lager in den folgenden Jahren nicht nur an den eigenen politischen und ökonomischen Optionen, sondern auch an den Interessen ihrer mächtigen Partner: zuerst der I. G. Farbenindustrie AG, dann der Wehrmacht und schließlich des Rüstungsministeriums.“

Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Feststellung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals, dass in Auschwitz „dauernd etwa zweihunderttausend Menschen“ mit der Maßgabe gefangen gehalten wurden, sie „durch in höchstem Maße entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten“. Und als diese Menschen ausgezehrt waren, wurden sie „als nutzlos umgebracht“. Ihren Platz nahmen dann Menschen ein, die aus allen von Nazideutschland okkupierten Staaten nach Auschwitz verbracht wurden. „Es war ein genau ausgearbeitetes System, ein schreckliches laufendes Band des Todes. Die einen wurden umgebracht, um durch andere ersetzt zu werden“, hieß es zutreffend in Nürnberg. Willems dazu: „Mindestens 1,1 Millionen Menschen sind im deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ermordet worden. Mindestens.“

Die Historikerin beschreibt sachlich die Genesis des Lagers. Sie setzt ganz auf die Überzeugungskraft nachprüfbarer Fakten. Ideologisch aufgeladene Begriffe wie Faschismus, Holocaust oder Schoah kommen bei ihr nicht vor. Denn nicht der Antisemitismus ließ die drei Lager in Auschwitz zu dem werden, was sie waren, sondern die Wirtschaftsunternehmen, die sich in ihrem Umfeld ansiedelten und Arbeitssklaven von dort bezogen. Ein Ingenieur von Siemens kritisierte Ende 1942 die „negative Denkrichtung“, dass das industrielle Zwangsarbeitsregime angeblich nur eine temporäre Erscheinung der Kriegswirtschaft sei. Seine rhetorische Frage reichte in die Zukunft, also über das Ende des Krieges hinaus – wie ja auch das Werk der I. G. Farben in Auschwitz-Monowitz für die Nachkriegsproduktion konzipiert worden war. „Was muss ich tun“, wird der Mann in den Unterlagen der Tagung der Siemens Zentral-Werksverwaltung am 7./8. Dezember 1942 zitiert, „wenn ich mit einem nur ganz kleinen Stamm von deutschen Ingenieuren, Facharbeitern und Kaufleuten und im Übrigen nur mit sprachunkundigen Ungelernten eine möglichst große Fertigung in einem fremden Land – beispielsweise China – aufziehen müsste?“

Die Auschwitzer Arbeitssklaven hießen also im Siemens-Firmensprech „sprachunkundige Ungelernte“.

Im Sommer 1941 hatte die SS-Führung bei ihren Erörterungen der „Lösung der Judenfrage“ den Vorschlag gemacht, „ein Barackenlager für mehrere hunderttausend Juden, die in den Lagerwerkstätten und bei Bedarf auch außerhalb des Lagers arbeiten sollten“, in Auschwitz-Birkenau zu errichten. Am 20. Januar 1942 waren auf der sogenannten Wannseekonferenz die programmatischen Festlegungen zur europaweiten Judenverfolgung getroffen worden. Die im Frühjahr einsetzenden Massendeportationen zielten aber eben nicht auf die sofortige Ermordung der Juden. „Gefragt war ihre Arbeitskraft“, denn, so Willems weiter, „die von der SS erwarteten sowjetischen Kriegsgefangenen“ blieben aus. „Sie waren Monat für Monat bereits in den Lagern der Wehrmacht zu hunderttausenden umgekommen.“ Der Ausbau des Lagers Birkenau ab Mitte August 1942 erfolgte daher mit der Absicht, „über die zehntausend im Februar 1941 der I. G. Farben und die sechstausend im März 1942 für Produktionen von Rüstungsfirmen im Lagerbereich zugesagten KZ-Arbeiter hinaus kurzfristig fünfzigtausend Arbeitssklaven zur Verfügung zu stellen“, so Willems. „Auschwitz-Birkenau sollte als Drehscheibe im europaweiten Sklavenarbeitsmarkt fungieren. Das setzte die Ausweitung der Massendeportationen der europäischen Juden und die Vernichtung der nicht arbeitsfähigen Deportierten voraus.“

Willems lenkt die Sicht auf den politökonomischen Ursprung der Verbrechen des deutschen Staates, denn dieser ist in den letzten Jahren offenkundig aus dem Blick geraten. Die „Einzeltäter“ wurden in Nürnberg gehenkt, der Galgen, an dem Rudolf Höß – der Auschwitzer Lagerkommandant – endete, kann noch immer in der Gedenkstätte Oświęcim besichtigt werden. Das Verfahren gegen 23 leitende Angestellte der I. G. Farbenindustrie AG vor einem US-amerikanischen Militärgericht hingegen schloss mit 13 Haftstrafen und 10 Freisprüchen „aufgrund fehlender Beweise“. Der seinerzeit größte Chemie- und Pharmakonzern Europas – unter anderem Produzent des Giftgases „Zyklon B“ – wurde in 12 eigenständige Unternehmen zerlegt: BASF, Bayer, Hoechst … So geht Kapitalismus!

Susanne Willems
Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers
edition ost, 256 Seiten, 38,00 Euro
Susanne Willems
Auschwitz. Terror – Sklavenarbeit – Völkermord
edition ost, 288 Seiten, 22,00 Euro
Erhältlich im UZ-Shop

Quelle: Unsere Zeit