Panzer statt Pkw
Übernommen von Unsere Zeit:
Die deutsche Rüstungsindustrie entwickelt sich zum neuen Hoffnungsträger bei der Suche nach Ersatzarbeitsplätzen für Opfer von Massenentlassungen in der deutschen Kfz-Branche. Während deutsche Autohersteller und ihre Zulieferer zur Zeit stets weitere Kündigungen vieler Tausend Angestellter bekanntgeben, sind Konzerne wie Rheinmetall, Diehl Defence oder Hensoldt auf der Suche nach einer großen Zahl neuer Mitarbeiter. Ursache ist der gewaltige Rüstungsboom, der die Produktion befeuert und die Umsätze in die Höhe treibt. Die Düsseldorfer Waffenschmiede Rheinmetall etwa geht davon aus, ihren Umsatz, der im Vorkriegsjahr 2021 noch bei 5,66 Milliarden Euro lag, bis 2026 auf 13 bis 14 Milliarden Euro steigern zu können. Dazu werden Tausende neue Arbeitskräfte benötigt. Zwar könne die Rüstungsindustrie unmöglich alle Entlassungen in der Kfz-Branche auffangen, die allein in Baden-Württemberg in diesem Jahr wohl auf 40.000 steigen dürften, heißt es; doch könne man wohl wenigstens „einen Teil“ durch neue Rüstungsarbeitsplätze kompensieren. Dazu tragen neben der Aufrüstung der Bundeswehr vor allem auch die Rüstungsexporte bei, die 2024 ein Rekordvolumen erreichten.
Rüstungsexporte auf Rekordniveau
Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr so umfangreiche Rüstungsexporte genehmigt wie nie zuvor. Das hat am gestrigen Mittwoch – nach noch unvollständigen Vorabmeldungen im Dezember – das Bundeswirtschaftsministerium bestätigt. Wie das von Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) geführte Haus in seiner Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (BSW) mitteilt, erlaubte der Bundessicherheitsrat 2024 die Ausfuhr von Kriegsgerät aller Art im Wert von 13,3 Milliarden Euro, knapp 10 Prozent mehr als im bisherigen Rekordjahr 2023 (12,1 Milliarden Euro). Der mit deutlichem Abstand größte Anteil – Rüstungsgüter im Wert von rund 8,2 Milliarden Euro – wurde an die Ukraine geliefert. Es folgten Singapur (1,2 Milliarden Euro), das die NATO-Staaten aufrüsten, weil sie hoffen, es werde sich in einem möglichen Krieg gegen China auf die Seite des Westens schlagen; Algerien (558,7 Millionen Euro); die Vereinigten Staaten (319,9 Millionen Euro) und die Türkei (230,8 Millionen Euro). Die Waffenlieferungen an die Türkei gewinnen wieder an Schwung und sind so umfangreich wie seit 2006 nicht mehr, obwohl das Land größere Teile seines Nachbarstaates Syrien besetzt hält und dort einen mörderischen Angriffskrieg gegen die kurdischsprachige Minderheit führt.
Profiteur des Ukraine-Kriegs
Der rasante Anstieg der Rüstungsexporte geht mit einem ebenso rasanten Wachstum einer ganzen Reihe deutscher Rüstungskonzerne einher. Das bekannteste Beispiel ist Rheinmetall. Der Konzern hat zum Teil direkt, zum Teil über einen sogenannten Ringtausch zahlreiche Waffensysteme an die Ukraine geliefert, darunter Kampfpanzer der Modelle Leopard 1 und Leopard 2, Schützenpanzer des Modells Marder, hunderte Trucks, zudem Aufklärungs- und Flugabwehrsysteme und ein Feldhospital. Eine große Rolle spielen Munitionslieferungen. Bei Rheinmetall hieß es bereits im März 2024, während man vor dem Ukraine-Krieg lediglich 70.000 Schuss pro Jahr habe verkaufen können, werde man bis Ende des Jahres ein Volumen von 700.000 erreichen, wobei fast die gesamte Produktion an die ukrainischen Streitkräfte geliefert werde. Die Düsseldorfer Waffenschmiede gab Ende 2024 an, sie sei „inzwischen der wichtigste rüstungsindustrielle Partner“ der Ukraine. Zudem ist sie Hauptprofiteur des sogenannten Sondervermögens – des schuldenfinanzierten Programms mit einem Wert von 100 Milliarden Euro, aus dem zur Zeit die Aufrüstung der Bundeswehr maßgeblich finanziert wird. Von den 100 Milliarden Euro könne Rheinmetall eine Summe zwischen 30 und 40 Milliarden beanspruchen, teilte der Konzern bereits im vergangenen Jahr mit.
Wachstumsrekorde
Vom Ukraine-Krieg profitiert nicht nur Rheinmetall, wenngleich die Wachstumszahlen des Konzerns beeindrucken. Im Vorkriegsjahr 2021 hatte die Firma noch einen Umsatzanstieg um 4,7 Prozent auf knapp 5,66 Milliarden Euro gefeiert, wobei das Wachstum damals vor allem auf steigenden Umsätzen der zivilen Konzernsparte (Kfz) beruhte. Im vergangenen Jahr erreichte der Konzernumsatz bei leichtem Schrumpfen der zivilen Sparte bereits innerhalb der ersten neun Monate ein Volumen von 6,3 Milliarden Euro, etwa 36 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum; der Auftragsbestand von mittlerweile 52 Milliarden Euro ließ es ohne weiteres machbar erscheinen, den Jahresumsatz bis zum Jahr 2026 auf 13 bis 14 Milliarden Euro zu steigern und langfristig gar die Schwelle von 20 Milliarden Euro zu überschreiten. Der Rheinmetall-Aktienkurs, der sich vor dem Ukraine-Krieg unterhalb von 100 Euro bewegt hatte, liegt zur Zeit bei mehr als 700 Euro. Auch andere Unternehmen boomen, etwa die Militärsparte der Diehl Group, Diehl Defence, die für die ukrainischen Streitkräfte das Flugabwehrsystem IRIS-T produziert. Sie konnte ihren Jahresumsatz von 660 Millionen Euro im Jahr 2021 über 810 Millionen Euro 2022 auf 1,14 Milliarden Euro 2023 steigern; für 2024 wird ein weiteres Wachstum vorausgesagt.
Rasant steigender Personalbedarf
Mit der Ausweitung der Produktion geht ein Zuwachs an Angestellten der Rüstungsfirmen einher. So arbeiteten von den mehr als 1.100 Personen, die die Diehl Group im Jahr 2023 neu beschäftigte, gut die Hälfte bei Diehl Defence – dies vor allem dank der Tatsache, dass die Produktion der IRIS-T-Flugkörper damals gegenüber dem Vorjahr verdreifacht wurde. Im Jahr 2024 war eine weitere Verdoppelung geplant. Neueinstellungen nimmt seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs faktisch die gesamte Branche vor. So berichtete Mitte vergangenen Jahres die Renk Group aus Augsburg, die unter anderem Getriebe und weitere Bauteile für Panzer, Fregatten und anderes Kriegsgerät herstellt, sie werde die Zahl ihrer Angestellten – inklusive derjenigen an den Auslandsstandorten – von rund 3.800 auf rund 4.200 erhöhen. Bei Rheinmetall hieß es damals, man wolle im Jahresverlauf 3.500 neue Mitarbeiter beschäftigen; binnen der nächsten drei Jahre sei sogar ein Zuwachs von 6.000 neuen Stellen zu erwarten. Bei dem rasanten Personalzuwachs handelt es sich nicht um ein spezifisch deutsches Phänomen, sondern um eines, das auch andere NATO-Staaten mit größeren Waffenschmieden verzeichnen. Im Juni 2024 berichtete „Financial Times“ von Neueinstellungen im Umfang von 10 oder mehr Prozent der bisherigen Mitarbeiterzahl bei Rüstungskonzernen von Leonardo (Italien) über Thales (Frankreich) bis zu US-Waffenschmieden.
Auffangbecken für Kfz-Arbeiter
In Deutschland gerät die Rüstungsindustrie dabei in wachsendem Maß als Auffangbecken für entlassenes Personal der kriselnden Kfz-Branche in den Blick. Bereits Mitte 2024 wurde berichtet, Rheinmetall arbeite mit einer Auffanggesellschaft des Kfz-Zulieferers Continental zusammen, in die Letzterer Arbeitskräfte verschiebe, für die er krisenbedingt aktuell keinerlei Beschäftigung habe; der „stark wachsende Personalbedarf von Rheinmetall“ solle zumindest zum Teil aus dieser Auffanggesellschaft gedeckt werden. Ähnliches haben nun Politiker in Baden-Württemberg im Visier, einem Bundesland, das traditionell eine starke Kfz-Branche inklusive Zulieferer aufweist, aber auch über eine starke Rüstungsindustrie verfügt – mit Unternehmen wie Diehl Defence (Überlingen), Hensoldt (Ulm) oder ZF (Friedrichshafen). In der Branche seien 14.500 Personen direkt beschäftigt; rechne man Zulieferer hinzu, komme man auf 42.000, heißt es. Zwar könne die Rüstungsindustrie unmöglich die 40.000 Arbeitsplatzverluste auffangen, mit denen dieses Jahr in Baden-Württembergs Kfz-Branche gerechnet werde. Doch hofften viele, „dass das Wachstum dieser Branche“ wenigstens „einen Teil“ der drohenden Beschäftigungseinbrüche kompensieren könne. Panzer entwickelten sich zur Zeit zum „Wachstumsmotor“.
Die Bedeutung der Rüstungsbranche
Mit dem Wachstum der Rüstungsbranche geht auch ein Wachstum ihrer Bedeutung einher. Der Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) gibt an, seine rund 230 Mitgliedsunternehmen beschäftigten gut 70.000 Angestellte. Eine jüngere Erhebung gehe bereits von rund 105.000 Angestellten aus, heißt es. Rechne man „den Bereich Sicherheit sowie die mittelbar Beschäftigten hinzu“, komme man auf „eine Größenordnung von rund 400.000 Mitarbeitern“. Das ist zwar weit gefasst. In welche Bereiche die Security- und Rüstungsbranche aber so langsam vorzudringen beginnt, zeigt ein Vergleich mit der bedeutenden deutschen Chemie- und Pharmaindustrie: Diese beschäftigt zur Zeit annähernd 450.000 Menschen, nicht viel mehr als die – wenngleich ausgedehnt definierte – Security- und Rüstungsbranche.
Quelle: Unsere Zeit