Kein Lohn mehr am 1. Krankheitstag?
Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:
Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist heute eine Selbstverständlichkeit. Doch dieses Recht war hart erkämpft und markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung. 1957 entstand das Arbeiterkrankheitsgesetz, 1970 trat die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in Deutschland in Kraft und sichert Beschäftigten die Fortzahlung ihres Lohns für sechs Wochen. Dieses Gesetz ist ein Zeichen dafür, dass die Arbeiterklasse schon immer neben ihrem Lebensunterhalt auch für bessere Lebensbedingungen und ihre Gesundheit gekämpft hat.
Berfe Budak
Und schon immer war das Kapital bereit, diese Errungenschaft anzugreifen. So bringt Allianz-Chef Oliver Bäte erneut die Idee von Lohnkürzungen im Krankheitsfall ins Spiel. Bäte schlägt vor, dass Beschäftigte im Falle einer Krankheit einen Teil ihres Gehalts zurückzahlen sollten, um die steigenden Kosten für Unternehmen durch krankheitsbedingte Ausfälle zu kompensieren. Diese aktuelle Debatte zeigt, dass der Kampf um die Rechte der Arbeiter nie endet und immer wieder neu geführt werden muss.
Ein Rückblick auf die frühen Anfänge
Im 19. Jahrhundert, während der Industrialisierung, begannen Arbeiterinnen und Arbeiter, ihre Rechte einzufordern. Es gab weder Versicherungen noch gesetzliche Regelungen für den Krankheitsfall. Wer krank wurde, verlor sein Einkommen und rutschte schnell in die Armut. Besonders betroffen waren Frauen, die in den Fabriken unter härtesten Bedingungen arbeiteten und für ihre Familien sorgen mussten. Gegen diese Missstände organisierten die Arbeiterinnen und Arbeiter Streiks und gründeten Gewerkschaften. Sie forderten nicht nur bessere Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne, sondern auch finanziellen Schutz bei Krankheit. Ein Beispiel ist der Streik der Berliner Textilarbeiterinnen im Jahr 1896, der große Aufmerksamkeit erregte und die Diskussion über soziale Absicherung anstieß.
Ein Kampf gegen Spaltung
Doch bereits 1861 setzten Arbeitgeber gezielt auf Spaltung: Angestellte in leitenden Positionen erhielten sechs Wochen Krankengeld, während die breite Masse der Arbeiter leer ausging. Die Forderung nach einer allgemeinen gesetzlichen Regelung für alle blieb jahrzehntelang unerfüllt. Erst 1900, mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), gab es einen ersten Schritt: Arbeiter sollten im Krankheitsfall weiterhin Lohn erhalten – zumindest theoretisch. Doch die Realität sah anders aus. Die Regelung war vage und hing stark von individuellen Arbeitsverträgen ab. Vor allem aber wurde sie durch Zusatzvereinbarungen und Auslegungen so eingeschränkt, dass sie vor allem den besser gestellten Angestellten zugutekam.
Die Spaltung zwischen den sogenannten Hand- und Kopfarbeitern wurde hier besonders deutlich. Während Kopfarbeiter – oft in Büros und Führungspositionen – von klaren Regelungen profitierten, blieben die Arbeiter, in der Produktion, in belastenden körperlichen Tätigkeiten, weitgehend außen vor. Diese Ungleichbehandlung war kein Zufall, sondern ein bewusstes Instrument, um die Arbeiterklasse zu spalten und ihre Solidarität zu schwächen. Die Spaltung zwischen Hand- und Kopfarbeit war nicht nur ein soziales, sondern auch ein politisches Werkzeug, um die Machtverhältnisse zu sichern und die Arbeiterklasse zu kontrollieren.
114 Tage Werftarbeiter Streik für Lohnfortzahlung
Ausgangspunkt für das spätere Bundesgesetz war ein fast vier Monate andauernder Streik der Werftarbeiter in Schleswig-Holstein in den Jahren 1956/57 für eine tarifvertragliche Regelung der Lohnfortzahlung. Dieser Streik, an dem sich rund 34.000 Metallarbeiter beteiligten, gilt als einer der heftigsten Arbeitskämpfe der deutschen Nachkriegsgeschichte und setzte auch die damalige Regierung unter Druck. So erreichten die Werftarbeiter zwar nicht die vollständige Lohnfortzahlung, konnten jedoch eine Zahlung von 90 Prozent des Nettolohns durchsetzen (Arbeiterkrankengeldgesetz 1957).
Schließlich wurde dann 1961 erreicht, dass dieser Satz auf 100 Prozent erhöht wurde. Die Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern in der Produktion blieb jedoch bestehen. Arbeiter erhielten in den ersten drei Krankheitstagen keinen Lohn – sie wurden quasi für ihre Krankheit bestraft. Man nennt dies die sogenannten „Karenztage“. Genau diese Art der Bestrafung ist das, was u.a. der Allianz-Chef Oliver Bäte wieder durchsetzen möchte.
Der Durchbruch: Das Entgeltfortzahlungsgesetz- für alle
Erst mit dem am 1. Januar 1970 in Kraft getretenen Gesetz zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde diese Ungleichheit beseitigt. Das Gesetz sicherte nun allen Beschäftigten in Krankheit die Fortzahlung ihres Lohns für sechs Wochen. Das war ein Ergebnis von monatelangen Streiks und politischer Auseinandersetzungen. Arbeiterinnen und Arbeiter machten in der Geschichte deutlich, dass soziale Sicherheit eine Frage der Gerechtigkeit ist.
Happy End?
Die Arbeitgeber und ihre Vertreter versuchten immer wieder, die Lohnfortzahlung abzuschaffen,um Kosten zu sparen. Das Einführen von Karenztagen ist eine Forderung der Kapitalverbände, die seit den 1990er-Jahren immer wieder in Spiel gebracht wird.
So kündigte Anfang 1996 die Kohl-Regierung auf Druck der Arbeitgeberverbände in der letzten Phase der schwarz-gelben Koalitionsregierung das 50-Punkte-Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze an, das unter anderem eine Kürzung des Krankengeldes auf 80 % vorsah. Das Gesetz wurde am 13. September 1996 beschlossen und trat am 1. Oktober 1996 in Kraft. Und erneut nutzten Arbeitgeber diese Situation, um Angestellte und Arbeiter zu spalten. So senkte die Firma Bahlsen das Krankengeld für die Arbeitenden in Produktion auf 80 %, während Angestellte mit einem Gehalt von über 6.000 Mark weiterhin 100 % ihres Lohns im Krankheitsfall erhielten. Daraufhin traten die Bahlsen-Arbeiter in einen unbefristeten Streik und waren ein Vorbild für viele Arbeiter in anderen Branchen, die sich das zum Beispiel machten. In zahlreichen Tarifverträgen erreichten viele Beschäftigte so wieder die 100-prozentige Lohnfortzahlung. Unter dem Druck von Gewerkschaften wurde dieses Gesetz erst von der Schröder-Regierung 1998 rückgängig gemacht, sodass wir seitdem einen Anspruch auf volle Lohnfortzahlung bei Krankheit erreicht haben.
Ein hart erkämpftes Recht, das wir schützen müssen
Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist mehr als nur ein rechtlicher Anspruch. Sie ist ein Symbol für den Erfolg der Arbeiterbewegung und den unermüdlichen Einsatz der Arbeiterinnen und Arbeiter für soziale Gerechtigkeit. Diese historische Errungenschaft erinnert uns daran, dass Rechte, die heute selbstverständlich erscheinen, hart erkämpft wurden und stets verteidigt werden müssen. Ansonsten nehmen sie uns Manager, wie Oliver Bäte, wieder weg.
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben