30 Jahre Festung Europa – Abgrenzung statt Gemeinschaft
Übernommen von der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer – Bund der Antifaschisten (FIR):
Es ist immer wieder erschreckend festzustellen, wie grundlegend sich die politische Wirklichkeit auch in den europäischen Staaten in den vergangenen Jahren gewandelt hat.
Vor 30 Jahren gab es noch Anlass zum Optimismus, wenn man die Entwicklung der Europäischen Union im Sinne der Menschen betrachtete. Am 26. März 1995 trat ein Vertrag in Kraft, mit dem sieben Staaten der Europäischen Union vereinbarten, dass die zwischenstaatlichen Grenzkontrollen entfallen sollten. Das „Schengener Abkommen“ sollte den Bürgern der jeweiligen Mitgliedsstaaten ermöglichen, zwischen den Staaten ohne weitere Kontrollen zu reisen. In den folgenden Jahren wurde der Geltungsbereich des Abkommens erweitert, so dass heute dem „Schengen Raum“ alle EU-Mitgliedstaaten und die Nicht-EU-Mitglieder Island, Norwegen sowie die Schweiz angehören. Endlich sollte es nicht nur den freien Kapital- und Warenverkehr in der EU geben, sondern auch eine Freizügigkeit für EU-Bürger.
Für Nicht-EU-Bürger galt, dass für die Einreise nur noch ein „Schengen-Visum“ nötig ist. Drittstaatsangehörige können damit innerhalb von 90 Tagen zwischen den verschiedenen Schengen-Ländern reisen.
So positiv diese Regelungen waren, die letzten drei Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Freizügigkeit im europäischen Raum zunehmend wieder eingeschränkt wird. Großbritannien ist mit dem Brexit bewusst aus dieser Vereinbarung ausgestiegen. Mehrere Vertragsstaaten, darunter Dänemark und Deutschland, haben – teilweise unter Druck rechtspopulistischer Parteien und durch Medien aufgeheizte Stimmungen – das System der Grenzkontrollen wieder eingeführt.
Doch schon das Vertragskonstrukt selber war ambivalent. Mit dem polizeilichen Schengen-Informations-System (SIS) wurde der Exekutive faktisch unbeschränkte Polizeigewalt im Schengen-Raum zugestanden. Französische Menschenrechtsorganisationen kritisierten, dass ein Mehr an Sicherheit auf Kosten der Freiheiten der Bürger gehe. Seit 9/11 und der damit eskalierten Terrorismus-Hysterie wurden solche Kritikpunkte beiseite gewischt. Heute führt das System dazu, dass Antifaschisten, die z.B. in Ungarn gegen Nazi-Aufmärsche protestierten, auf der Basis der erhobenen Daten Repressalien ausgesetzt sind.
Dass trotz Schengen die innereuropäische Freizügigkeit nicht gewährleistet ist, zeigte schon der damalige französische Präsident Sarkozy, als er rumänische Roma-Familien aus Frankreich abschieben ließ. Als 2015 tausende Menschen auf der Flucht tatsächlich die Grenzen des Schengen Raums überschritten, wurden an der österreichisch-bayerischen Grenze die Kontrollen wieder aufgenommen – und zwar bis heute. Ein Verzicht sei „aus migrations- und sicherheitspolitischen Gründen derzeit noch nicht vertretbar“. Ähnlich reagierten andere Staaten. Dänemark hat bereits wieder Grenzposten an Übergängen aufgebaut. Und die Pläne für außereuropäische Internierungslager für Asylsuchende, wie sie die italienische Meloni-Regierung mit Albanien vereinbart hat, und die EU mit Tunesien und Libyen, machen deutlich, was von dem Versprechen der Freizügigkeit für Menschen zu halten ist.
Hauptkritikpunkt ist jedoch, dass mit der Aufhebung der innereuropäischen Grenzkontrollen der Ausbau der „Festung Europa“ voranschritt. Regelungen mit Nachbarstaaten, wie sie beispielsweise Portugal und Spanien mit den Maghreb-Staaten hatten, mussten zugunsten eines Visazwangs geändert werden. Vor über 20 Jahren wurden die FRONTEX-Strukturen aufgebaut. Die Bilanz ihrer Einsätze ist mit hunderten Todesopfern verbunden – die meisten von ihnen ertrunken im Mittelmeer. Diese Institut des Schengen-Abkommens sieht ihre Hauptaufgabe darin, Menschen, die aus nachvollziehbaren Gründen auf der Flucht sind, daran zu hindern, Europa zu erreichen. Die „Seeaußengrenzen-Verordnung“ von 2014 verhinderte natürlich keine Fluchtbewegung, führte aber zu vielen hundert Toten. Und das neu gewählte Europäische Parlament hat gerade erst beschlossen, dass solche Verordnungen verschärft werden sollen.
Gegenwärtig führt die Regelungen der „Schengen Visa“ zu Restriktionen für Menschen aus Russland, Weißrussland und anderen früheren Sowjetrepubliken. Basierend auf den Sanktionsbeschlüssen der EU im Zusammenhang mit dem Ukraine Krieg verweigerten in den vergangenen Jahren die baltischen Staaten und Polen viele tausend Schengen-Visa, so dass langjährig gewachsene zwischenmenschliche Kontakte über die Grenzen hinweg abgeschnitten wurden. Und wer die Grenze zwischen der Republik Polen und Weißrussland betrachtet, hat den Eindruck, dass der „Eiserne Vorhang“ wieder errichtet wurde – nur diesmal einige hundert Kilometer weiter östlich.
Es überrascht daher nicht, dass große Medien in Europa diesen 30 Jahrestag weitgehend aus ihrer Berichterstattung verdrängt haben. Die FIR ist besorgt, dass der Idee einer europäischen Freizügigkeit für Menschen durch diese Restriktionen im Zuge der Abschottung des Schengen-Raums politischer Schaden zugefügt wird. Das geht zu Lasten aller Menschen, der Einwohner der EU und der Nicht-EU-Bürger.