30. März 2025
TürkeiYeni Hayat

Was passiert in der Türkei?

Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:

Die Verhaftung und Amtsenthebung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu sowie von mehr als 100 Stadtverwaltern durch die Erdoğan-Regierung war der Tropfen, der das Fass in der Türkei zum Überlaufen brachte. Die Operation, die darauf abzielte, İmamoğlus Präsidentschaftskandidatur zu verhindern, wurde als vollständige Abschaffung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in einem seit Jahren autoritär regierten Land betrachtet. Dies führte seit dem 19. März zu landesweiten Protestaktionen mit Millionen von Teilnehmern. In der Türkei, wo Erdoğan alle Mittel einsetzt, um seine Macht zu sichern, gingen vor allem in den Großstädten Menschen auf die Straßen, um ihre demokratischen Rechte zu verteidigen.

Doch warum hat die Regierung eines Landes, das seit 23 Jahren von Erdoğan regiert wird – davon die letzten acht Jahre unter dem Ein-Mann-System des „Präsidialsystems“ – ihre Repression auf eine neue Stufe gehoben? Und welche Dynamiken stehen hinter der Entstehung einer starken Volksbewegung für Demokratie?

İmamoğlu: Symbolfigur des Widerstands

Ekrem İmamoğlu ist seit zwei Amtszeiten Bürgermeister der 16-Millionen-Metropole Istanbul. Zunächst wurde ihm nachträglich das Universitätsdiplom aberkannt (wesentliche Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur). Einen Tag später wurde er wegen angeblicher Unterstützung des Terrorismus und Korruption festgenommen, in einem inszenierten Prozess verurteilt, ins Gefängnis geschickt und am selben Tag vom Innenministerium seines Amtes enthoben.

Während all dies geschah, gingen Millionen von Menschen in jeder Stadt des Landes seit vier Tagen auf die Straßen, um gegen die Regierung zu protestieren. Studierende, unterstützt von Akademikern, starteten Boykottaktionen. Trotz eines von der Regierung in den drei größten Städten verhängten Verbots von Demonstrationen, Märschen und politischen Versammlungen wuchsen die Proteste täglich weiter an.

Angst vor Machtverlust führt zur Panik in der Regierung

Dass İmamoğlu, Bürgermeister der oppositionellen CHP und möglicher Präsidentschaftskandidat gegen Erdoğan, unter völliger Missachtung grundlegender Rechtsnormen und mit offensichtlich konstruierten Vorwürfen ins Gefängnis geschickt wurde, zeigt, dass Erdoğan eine neue Phase autoritärer Machtsicherung eingeleitet hat. Diese Phase besteht darin, selbst kleinste demokratische Rechte der Opposition zu unterdrücken, elementare Rechtsprinzipien auszusetzen und nach dem Motto „Wahr ist, was ich sage“ eine rücksichtslose Willkürherrschaft durchzusetzen.

Vor allem in den letzten zwölf Monaten zeigte Erdoğan eine derartige Maßlosigkeit, dass selbst viele seiner eigenen Anhänger bedenken äußerten: „So geht es nicht mehr weiter.“ Denn die 23-jährige Erdoğan-Herrschaft begann erstmals ernsthaft ins Wanken zu geraten – sowohl durch den seit zwei Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Zusammenbruch als auch durch das Erstarken der politischen Opposition und die unübersehbare Wut der Bevölkerung nach mehr als zwei Jahrzehnten. İmamoğlu entwickelte sich zu einer politischen Symbolfigur für all jene, die Erdoğan besiegen wollen.

AKP erlitt bei Wahlen erstmals eine Niederlage

Zum ersten Mal in 23 Jahren erlitt die regierende AKP bei den Kommunalwahlen des vergangenen Jahres eine Niederlage: Während sie 16,3 Millionen Stimmen erhielt, gewann die oppositionelle CHP mit 17,3 Millionen Stimmen die Bürgermeisterämter in 14 der größten Städte des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Zum ersten Mal in einer Wahl übertraf die CHP die AKP und wurde zur stärksten Partei.

In den kurdischen Provinzen verlor Erdoğan gegen die DEM-Partei, in den Metropolen und im Westen gegen die CHP. Daraufhin setzte seine Regierung seit März 2024 elf Bürgermeister – hauptsächlich in kurdischen Regionen – ab, ließ sie inhaftieren und ersetzte sie durch Zwangsverwalter. Doch die bisher stärkste und drastischste Maßnahme war der „zivile Putsch“ in Istanbul, der darauf abzielte, den potenziellen Rivalen İmamoğlu auszuschalten.

Obwohl İmamoğlu im Mittelpunkt zu stehen scheint, zielte Erdoğan mit diesem Schlag in Wirklichkeit darauf ab, die gesamte Opposition und die Bevölkerung einzuschüchtern und zu demonstrieren, dass „die gesamte Macht weiterhin in meinen Händen liegt“. Doch ob diese Rechnung aufgeht, ist fraglich. Denn diesmal hat nicht nur die politische Opposition, sondern auch das Volk selbst – Menschen aus allen Altersgruppen und gesellschaftlichen Schichten – den Kampf aufgenommen und fordert: „Es reicht! Wir wollen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit!“

Explodierende Wut in der Bevölkerung

Die Türkei erlebt seit zwei Jahren eine schwere Wirtschaftskrise und gehört mittlerweile zu den Ländern mit der höchsten Inflation weltweit. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen haben sich dramatisch verschlechtert, die Kaufkraft der Bevölkerung ist drastisch gesunken, und die Angst vor der Zukunft wächst besonders unter jungen Menschen.

Nicht nur die breite Bevölkerung leidet: Sogar Unternehmer, die keine engen Beziehungen zur Regierung pflegen, beginnen, sich über die Wirtschaftspolitik Erdoğans zu beklagen. So sehr, dass kürzlich gegen die Führung des größten Arbeitgeberverbands des Landes (TÜSİAD) eine Klage eingereicht wurde, weil sie sich kritisch über die Regierung äußerte.

Am Tag, als die „Operation İmamoğlu“ begann, wurde auch die gesamte Führung der Türkischen Anwaltskammer (TBB) ihres Amtes enthoben. Dutzende Journalisten, darunter bekannte Nachrichtensprecher, wurden inhaftiert oder mit Prozessen überzogen. Streiks und Demonstrationen von Arbeiterinnen und Arbeitern für höhere Löhne und Gewerkschaftsrechte wurden verboten, und in Gaziantep wurde der Vorsitzende der Textilgewerkschaft BİRTEKSEN seit Mitte Februar bis zum 24. März in Haft gehalten. Bauern, die sich gegen illegale Privilegien für Bergbau- und Kraftwerksunternehmen wehrten, wurden mehrfach brutal zusammengeschlagen und mit Klagen überzogen.

Der wirtschaftliche Zusammenbruch untergräbt die Macht

Einer der Hauptgründe, warum die Erdoğan-Regierung nicht mehr die gleiche Unterstützung genießt wie in früheren Jahren, ist die schwere Wirtschaftskrise der letzten zwei Jahre. Der anhaltende Wertverlust der Lira gegenüber dem Dollar und dem Euro, die unkontrollierbare Inflation, das wachsende Haushaltsdefizit, Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Auslandskrediten, steigende Arbeitslosigkeit und wachsende Einkommensungleichheit haben große Teile der Bevölkerung in eine existenzielle Krise gestürzt.

Die Kombination aus willkürlicher, autoritärer Herrschaft und wirtschaftlicher Not hat die aufgestaute Wut der Bevölkerung in eine neue Phase geführt. Die „Operation İmamoğlu“ war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Angstbarriere wurde durchbrochen, und es entstand eine Volksbewegung, die der Regierung offen die Stirn bietet.

Die Kommunalwahl im März 2024, bei der die Opposition erstmals zur stärksten Kraft wurde, war ein erstes Zeichen dieses Wandels. Doch als klar wurde, dass ein Wahlsieg allein nicht ausreicht, begann die Bevölkerung, ihre Rechte auch auf der Straße einzufordern.

Während Erdoğan die Opposition nicht mehr allein an der Wahlurne besiegen kann und deshalb das Rechtssystem außer Kraft setzt, zeigen die Menschen in der Türkei, dass sie nicht mehr nur passiv zuschauen werden. Die kommenden Tage werden zeigen, ob die Erdoğan-Regierung mit weiterer Härte reagiert oder ob die Kraft der Demokratiebewegung letztendlich stärker ist.

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben