16. März 2025
SyrienYeni Hayat

„Wir warten hier auf unseren Tod“

Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:

Eine aus Syrien stammende Ärztin hat über Ihre Familie und die schrecklichen Geschehnisse in der Küstenregion Latakia, für unsere Zeitung geschrieben. Sie will aus Angst vor Verfolgung und Repressionen gegenüber Ihrer Familie, nicht das Ihr Name veröffentlicht wird.

„Wir werden ausgelöscht“ –Der stille Genozid an den Alawiten in Syrien Ich bin Ärztin.

Eine Tochter der syrischen Küstenregion. Eine Frau, die vor über einem Jahr alles hinter sich lassen musste – meine Heimat, meine Familie, meine Freunde – um nach Deutschland zu fliehen. Ich kam im Rahmen eines Programms für hochqualifizierte Fachkräfte.

Ich lernte die Sprache, bestand alle Prüfungen, und stehe nun kurz davor, als Ärztin in deutschen Kliniken Leben zu retten. Aber wie kann ich heilen, wenn mein eigenes Herz bricht? Wenn ich jeden Tag um das Überleben meiner Familie bange? Wenn ich weiß, dass meine Heimat in Blut versinkt? Der syrische Küstenstreifen, das Zuhause meiner Familie, war einst eine stille, stolze Region.

Dort lebten Lehrerinnen, Dichter, Ärztinnen und Ingenieure – Menschen, die an das Wort, an den Geist und an das Wissen glaubten. Heute sind diese Straßen von Tod und Zerstörung übersät. Die sogenannten „Übergangsbehörden“, die das Land nach Assads Sturz übernehmen sollten, führen eine systematische ethnische Säuberung durch. Sie haben die Alawiten zur Zielscheibe gemacht – nicht, weil sie etwas getan hätten, sondern weil sie sind, was sie sind. Meine Mutter sagte mir zuletzt am Telefon, ihre Stimme zitterte: „Wir warten hier auf unseren Tod.“ Ihr größter Wunsch sei es, durch eine Kugel zu sterben – schnell, schmerzlos – anstatt unter den Messern der neuen Machthaber geschächtet zu werden. Sie sitzt in ihrem Haus, umgeben von Leichen – Nachbarn, Freunde, Kinder.

Menschen, die sie kannte, deren Lachen einst ihre Straßen füllte.

Jetzt sind sie nur noch stumme Zeugen eines entmenschlichten Grauens. Die Angreifer plündern Häuser, rauben Gold und Bargeld. Sie vergewaltigen Frauen, entführen Mädchen, die später auf den Sklavenmärkten in Idlib verkauft werden – als wären sie Vieh. Ihre Taten werden mit einer barbarischen Ideologie gerechtfertigt, die ihnen das Versklaven und Töten „Ungläubiger“ erlaubt. Es ist das gleiche Grauen, das den Jesidinnen widerfuhr, und jetzt trifft es uns. Am schlimmsten aber ist das Schweigen.

Die sogenannte „Zivilverteidigung“, einst bekannt als die „Weißhelme“, unterstützt diese Verbrechen. Sie reinigen die Straßen, beseitigen Blut und Überreste, werfen die Leichen unserer Angehörigen ins Meer – beschwert mit Gewichten, damit sie nie mehr auftauchen. Es gibt Videos, die zeigen, wie unsere ermordeten Brüder und Schwestern entkleidet, in Uniformen gesteckt und mit Waffen bestückt werden – alles, damit die Fernsehteams von Al Jazeera und Al Arabiya die Lüge erzählen können, es handle sich um „gefallene Kämpfer“.

Mehr als 9.000 Tote, die wir zählen können. Die tatsächliche Zahl kennt niemand, denn viele Leichen werden nie gefunden. Die Straßen sind leer, abgeriegelt von Checkpoints, an denen selbst das Weinen der Mütter als Verrat gilt. Unsere einzigen „Verbrechen“? Dass wir Alawiten sind. Dass wir in einer Region geboren wurden, die Assad einst stützte – obwohl viele von uns, wie meine Familie, zu seinen lautesten Kritikern gehörten. Mein Onkel saß jahrelang im Gefängnis, weil er es wagte, Assad offen zu widersprechen. Jetzt ist er tot, hingerichtet von denen, die Freiheit versprachen. Was von der sogenannten „Revolution“ übrig bleibt, ist eine Diktatur der Angst. Die neue Regierung löscht alles aus, was nicht ihrer radikalen Ideologie entspricht. Sie zerstören unsere Heiligtümer, sie verfolgen sunnitische Geistliche, die Versöhnung predigen, sie verbrennen Kirchen.

Auch die Christen fürchten um ihr Leben. Viele haben ihre Kirchen geöffnet, um fliehenden Alawiten Schutz zu gewähren – und riskieren damit selbst den Tod. Die Alawiten galten stets als Brücke zwischen Glaubensrichtungen. Ich selbst bin Tochter einer christlichen Mutter und eines alawitischen Vaters. Diese Vielfalt, diese Offenheit – sie wird nun ausgelöscht. Es bleibt nur Blut.

Der Extremismus, der aus Idlib kommt, bringt Tod über alle: Alawiten, Christen, Ismailiten und selbst moderate Sunniten. Die Türkei liefert Waffen und Logistik, während sich Kämpfer aus Usbekistan, Tschetschenien und China versammeln, um ein „Kalifat“ zu errichten – auf den Trümmern unseres Lebens. Jetzt rufen wir um Hilfe. Unsere Gemeinden fordern internationalen Schutz, bevor es zu spät ist.

Denn wenn niemand hinsieht, wenn niemand eingreift, dann wird bald kein einziger Alawite mehr in unserer Heimat leben. Wir haben die Hoffnung auf Frieden noch nicht verloren – aber wir wissen: Die Zeit läuft ab.

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben