Dampf, Geschwindigkeit und Umbruch
Übernommen von Unsere Zeit:
Der Maler William Turner gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der englischen Romantik. Anlässlich seines 250. Geburtstags veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Ausschnitt aus einem längeren Kapitel über William Turner, der im Buch „Kunst und Revolution“ von Jenny Farrell und Thomas Metscher, das im Neuen Impulse Verlag erschienen ist.
In England entwickelte sich im 19. Jahrhundert infolge der weiter fortgeschrittenen kapitalistischen Entwicklung im Vergleich zum europäischen Kontinent ein neuer Realismus in der Malerei. Benjamin Robert Haydon (1786-1846) schuf die ersten großstädtischen Straßenbilder, während der Schotte David Wilkie (1785-1841) die Genremalerei des bürgerlichen Alltags auf eine neue Ebene brachte, oft mit gesellschaftskritischen Inhalten. Die Landschaftsmalerei, die an die realistische Kunst des 17. Jahrhunderts in Holland anknüpfte, wurde jedoch beispielhaft für die Entwicklung des bürgerlichen Realismus. Künstler wie John Crome (1768-1821), John Constable (1776-1837) und insbesondere William Turner (1775-1851) trugen dazu bei. Turners Schaffen richtete sich verstärkt auf das Erfassen mächtiger Naturkräfte in der Landschaft, die oft auf gesellschaftliche Transformationen hinweisen und soziale Themen aufgreifen. Seine Kunst vermittelt einen faszinierenden Einblick in seine sich rasch modernisierende Ära. Turners lebenslanges Interesse an Erfindungen, Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in seiner Zeit prägte viele seiner originellsten Werke und beeinflusste seine Maltechnik maßgeblich. Neben der Landschaft faszinierten ihn Maschinen und Industrie. Er ist der erste Maler, der die industrielle Revolution wahrnimmt und in die Landschaftsmalerei einbringt.
Hier soll Turners berühmtes Landschaftsgemälde mit einer rasenden Eisenbahn „Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway“ (1844, Regen, Dampf und Tempo – die Great-Western-Eisenbahn) etwas näher betrachtet werden. Die Dampfkraft gehörte zu den bestimmenden Merkmalen der industriellen Revolution in England.
Wie Engels 1845 in seiner Einleitung zu Die Lage der arbeitenden Klasse in England schrieb: „Die Geschichte der arbeitenden Klasse in England beginnt mit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle. Diese Erfindungen gaben bekanntlich den Anstoß zu einer industriellen Revolution, einer Revolution, die zugleich die ganze bürgerliche Gesellschaft umwandelte und deren weltgeschichtliche Bedeutung erst jetzt anfängt erkannt zu werden. England ist der klassische Boden dieser Umwälzung, die um so gewaltiger war, je geräuschloser sie vor sich ging, und England ist darum auch das klassische Land für die Entwicklung ihres hauptsächlichsten Resultates, des Proletariats.“
Die Eisenbahn veränderte tiefgreifend, wie über Entfernungen, Geschwindigkeit nebst Zeit gedacht wurde. Mit ihrem wachsenden Schienennetz brachte die Bahn Orte näher zusammen, ermöglichte Transporte sowie Reisen mit nie da gewesener Geschwindigkeit. Regionale Zeitzonen wurden durch die Greenwich Mean Time ersetzt. Diese einschneidenden Wandlungen hielt Turner in seinem bahnbrechenden Ölgemälde fest. Die Great Western Railway verband London mit der Hafenstadt Bristol und wurde von dem hervorragenden Ingenieur Isambard Kingdom Brunel entworfen. Das Gemälde zeigt bei strömenden Regen eine neue Lokomotivklasse, die „Firefly, die ab 1841 im Einsatz war und Geschwindigkeiten zwischen 80 und 100 Kilometer pro Stunde erreichte. Die Maidenhead-Brücke, eine technische Meisterleistung – gleichfalls von Brunel -, ist ebenso in der Szene verankert. Die Strecke war die schnellste, die Brückenbögen waren die breitesten und flachsten ihrer Zeit. Turner brachte als erster die rasende Fahrt einer Eisenbahn auf die Leinwand.
Wie ein Feuerschlund kommt die Bahn auf die Betrachter zugerast. Die starke Diagonale verstärkt die Geschwindigkeit nachdrücklich. Das wird weiter verstärkt durch den Kontrast der schwarzen massiven eisernen Masse des Zuges mit der Flüchtigkeit der regenschweren Atmosphäre sowie dem fragilen Sonnenlicht, das durch die Wolken bricht, wie auch mit der durch Tempo und Regen verschwommenen vorbeirauschenden Landschaft. Der einzig scharfe Fokus liegt auf dem Schornstein mit dem darauf reflektierten Licht. Der Kessel, der die Lok befeuert, ist offen wie ein Eisenwerk – ohne frontalen Verschluss. Hinter der feuerspeienden Lokomotive befinden sich die offenen Zugwaggons dieses Personenzugs 3. Klasse. Die meisten Fahrgäste tragen Hüte, Zylinder, Hauben als Wetterschutz. Der Titel des Gemäldes spielt zusätzlich auf ein Unglück an, als 1841 ein Zug aufgrund eines durch starken Regen ausgelösten Erdrutsches entgleiste, wobei acht Menschen starben; siebzehn Passagiere der dritten Klasse wurden verletzt. So gehören auch die Gefahren der modernen Technologie zum Subtext des Bildes. Zur Symbolik zählt möglicherweise ferner der Hase, dem Aberglauben zufolge Unglück folgt.
Turner vermittelt eine intensive Wechselwirkung zwischen Eisenbahn und Landschaft. Eine alte sowie die kürzlich erbaute neue Brücke umrahmen die Szene, alte wie neue Technologien stehen einander gegenüber. Die ältere Straßenbrücke von 1770 am linken Bildrand erinnert an die langsamere Fortbewegung in der Vergangenheit. Sie ist nun leer, die neue wird vom Zug befahren. Die Geschwindigkeit des Zuges wird durch die diagonale Annäherung, die Dampfwolken wie auch einen Hasen, das schnellste Säugetier Englands, bemüht, dem Zug zu entkommen, vermittelt. Auf der rechten Seite passiert der Zug einen Pferdepflug in entgegengesetzter Richtung. Auf der linken Brückenseite als Kontrast zur rasenden Bahn: tanzende Menschen. Sowohl der pflügende Bauer als auch die Tänzer sind in Dampf gehüllt, schwer auszumachen. Das kleine Ruderboot auf dem Wasser, das ebenfalls langsam in die Gegenrichtung schwimmt, kontrastiert ebenso mit der Bahn, intensiviert wie schon der Pferdepflug durch die Gegenbewegung den Eindruck der Rasanz, erhöht das Gefühl der Unaufhaltsamkeit. Zudem erinnern die Pferde und das Boot an Transportarten der Vergangenheit, an die „alte“ Landschaft. Die Bahn überholt alles, was an die alte Zeit erinnert. Die Diagonale der Bahn durchkreuzt das Gemälde exzentrisch – im direkten Mittelpunkt des Bildes ist Dampf. Die Bahn transportiert Menschen des dritten Standes auf ihrem stürmischen Weg. Diese wirbelnde Dynamik der Komposition vermittelt aufs eindrucksvollste das unaufhaltsame Tempo der Zeit.
Im Gegensatz zum Dampfschiff auf dem Meer durchzog die Eisenbahn auf eisernen Schienen eine von Menschen veränderte Landschaft: neue Verkehrswege, Viadukte und gerodetes Land. Die Eisenbahn als Symbol des Fortschritts und des Tempos der Zeit wird in diesem Gemälde zu einem eindrucksvollen Ausdruck der Modernität mit ihren Herausforderungen. Diese Bahn in voller Fahrt darzustellen, erforderte neue künstlerische Lösungen. Das heiße Metall der Räder und Schienen verwandelt den dichten Regen in Dampf, die imposante Höhe der Brücke erscheint plötzlich bedrohlich. Gleichzeitig bewegt sich das Bild der geballten Schwerindustrie rasant auf die Felder zu, die im Vordergrund des Bildes im Nebel verborgen sind. Lokführer, Heizer sowie Passagiere in diesem Zug sind Werktätige. Der Schriftsteller William Makepeace Thackeray kommentierte die formale Kühnheit des Bildes und geht dabei auf Turners neuartige Maltechniken ein: „Er hat ein Bild mit echtem Regen gemalt, hinter dem sich echter Sonnenschein verbirgt, und man erwartet jeden Augenblick einen Regenbogen. In der Zwischenzeit kommt ein Zug auf Sie zu, der sich tatsächlich mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Meilen pro Stunde bewegt, und der Leser sollte sich beeilen, ihn zu sehen, damit er nicht aus dem Bild herausschießt und durch die gegenüberliegende Wand in Charing Cross verschwindet. All diese Wunder werden mit Mitteln vollbracht, die nicht weniger wunderbar sind als die Effekte. Der Regen … besteht aus Tupfen schmutziger Kittmasse, die mit einer Kelle auf die Leinwand geklatscht werden; der Sonnenschein funkelt aus sehr dicken, schmierigen Klumpen von Chromgelb. Die Schatten werden durch kühle Töne von karminrotem See und ruhige Lasuren von Zinnober erzeugt. Obwohl das Feuer in der Dampflok so aussieht, als wäre es rot, bin ich nicht bereit zu sagen, dass es nicht mit Kobalt und Erbsengrün gemalt ist. Und was die Art betrifft, mit der das ,Tempo’ ausgeführt ist, ist es am besten, gar nichts verlauten zu lassen – es handelt sich ganz einfach um eine Dampfkutsche, die fünfzig Meilen pro Stunde fährt. Die Welt hat so etwas wie dieses Bild noch nie gesehen.“
Turners Malweise zeichnet sich durch das Unakademische aus. Er bediente sich verschiedener Techniken, darunter Pinsel und Spachtel, und verrieb die Farben mit den Händen. Diese unkonventionelle Herangehensweise trug entscheidend zur Schaffung der für ihn typischen atmosphärischen Wirkung bei. Insbesondere die Auflösung der Konturen, die vielfachen Farb- und Helligkeitsabstufungen sowie der Hell-Dunkel-Kontrast mit der Dominanz heller, leuchtender Farben prägten seine Werke.
Obwohl Turner Skizzen und Studien direkt vor Ort erstellte, malte er die endgültigen Bilder im Atelier. Auf beeindruckende Weise vermochte er es jedoch, seine intensiven, direkten sinnlichen Wahrnehmungen und sein sinnliches Erleben im Gemälde wiederzugeben, die stets im Einklang mit seinem Lebensgefühl standen.
1848 beschrieben Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei die unaufhörliche Revolutionierung der Produktivkräfte durch die Bourgeoisie und die einhergehende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“
Dieser Kraft gibt Turner in seinem Bild der Eisenbahn dynamischen Ausdruck. Er entwickelte eine künstlerische Sprache, die von den traditionellen scharfen Konturen, der klaren Trennung einzelner Bildmotive und der künstlichen Aufteilung des Bildfeldes abwich. Seine eigenwilligen Stilmittel ermöglichten es ihm, Phänomene darzustellen, die bis dahin nicht auf die Leinwand gebracht worden waren. Er präsentierte nicht mehr eine unveränderliche Natur, sondern zeigte, wie unsere Wahrnehmung das, was wir erleben, prägt. Turners Verständnis einer Welt, in der die starre Trennung von Objekten und Phänomenen nicht mehr angemessen erscheint, spiegelt eine innovative Perspektive wider, die über traditionelle Grenzen hinausgeht, wobei die Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und der Welt im Mittelpunkt steht. Für viele seiner anderen Bilder gibt es kaum Vergleiche in der Kunst seiner Zeit, überhaupt keine für seine Bilder von Dampf. In der künstlerischen Darstellung dieser Themen war er bahnbrechend.
Quelle: Unsere Zeit