Gewerkschafter unter Hausarrest
Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:
İzzet İldeş ist Lehrer in Istanbul und Mitglied des Zentralvorstands der Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen – der größten öffentlichen Gewerkschaft im Bildungsbereich in der Türkei. Seit vielen Jahren engagiert er sich für ein gerechtes, wissenschaftliches und demokratisches Bildungssystem sowie für die Rechte von Lehrerinnen und Lehrern. Eğitim-Sen versteht ihre Arbeit nicht nur als gewerkschaftliches Engagement, sondern als Teil eines umfassenderen Kampfes für soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Frieden. Aktuell befindet sich İzzet İldeş in der Türkei unter Hausarrest – dennoch setzt er sich weiterhin für seine Überzeugungen ein.
Mahir Şahin
Am Dienstag, den 25. März, haben wir als Eğitim Sen beschlossen, das akademische Personal für einen Tag zur Niederlegung der Arbeit aufzurufen. Damit wollten wir den Forderungen des akademischen Personals an den Universitäten und den Protesten der Studierenden gegen die Perspektivlosigkeit Ausdruck verleihen. Gleichzeitig wollten wir betonen, dass es an den Universitäten kein sicheres Arbeits- und Lernumfeld mehr gibt. Dieses gewerkschaftliche Recht, das uns von der Verfassung garantiert wird, wurde von den Staatsanwaltschaften in Ankara und Istanbul schnell kriminalisiert. Noch am selben Tag wurde eine Untersuchung eingeleitet und das Gericht verurteilte alle 7 Vorstandsmitglieder der Eğitim-Sen ohne jegliche rechtliche Grundlage zu 15 Tagen Hausarrest unter gerichtlicher Aufsicht.
Warum aber Hausarrest?
Hausarrest ist eine politische Bestrafungsmethode, die derzeit von der türkischen Regierung direkt über die Justiz angewandt wird. Indem sie eine Aktion unserer Gewerkschaft, die im Rahmen der Verfassung durchgeführt wird, ins Visier nimmt, versucht die Regierung, die Opposition einzuschüchtern und zu unterdrücken. Wir, die wir der Forderung der Studierenden nach einer Zukunft eine Stimme geben, sollen offensichtlich zum Schweigen gebracht werden. Die Entscheidung über den Hausarrest ist weder juristisch noch logisch zu erklären, sondern wird als rein politisches Mittel der Bestrafung eingesetzt.
Alle Vorstandsmitglieder der Eğitim-Sen stehen nun unter Hausarrest, was will die Regierung damit erreichen?
Es hat eigentlich eine ganz klare Botschaft: Kritisiert diese Regierung niemals und äußert vor allem keine Kritik in organisierter Form. Die Regierung hat es nicht nur auf Einzelpersonen abgesehen, sondern auch auf organisierte, widerständige und demokratische Kräfte. Sie wissen, dass Eğitim-Sen eine Gewerkschaft ist, die ihre Stimme nicht nur für die Beschäftigten im Bildungswesen, sondern auch für Frauen, Jugendliche, Studierende, Wissenschaftler und alle Unterdrückten erhebt. Indem sie uns zum Schweigen bringen, wollen sie die ganze Gesellschaft zum Schweigen bringen.
Wie ist es um eure Moral bestellt?
Unsere Moral ist hoch, aber es ist natürlich nicht einfach. Diese Praxis, die unseren Aktionsradius einschränkt und uns von der Außenwelt abschneidet, wirkt wie ein psychologischer Druck. Aber trotz dieses Drucks halten wir an unserer Einheit und Solidarität fest. Die Unterstützung aller Mitglieder unserer Gewerkschaft und befreundeter Organisationen hält uns aufrecht. Wir sind nicht im Gefängnis, sondern zu Hause, aber das ist keine Freiheit, sondern eine unsichtbare Isolation.
Wie macht Eğitim-Sen Gewerkschaftsarbeit unter so schwierigen Bedingungen?
Durch Solidarität und Widerstand. Wir sind physisch aufgehalten, aber unsere Ideen, Gedanken und Solidaritätsnetzwerke können nicht aufgehalten werden. Als Vorstandsmitglieder kommunizieren wir weiterhin über digitale Plattformen und koordinieren uns mit den Provinz- und Ortsverbänden unserer Gewerkschaft. Gleichzeitig geben wir weiterhin öffentliche Erklärungen ab, veröffentlichen Pressemitteilungen und mobilisieren internationale Solidaritätsnetzwerke.
Einige der Demonstranten fordern einen Generalstreik und allgemeinen Widerstand in vielen Städten. Was hältst du davon?
Diese Aufrufe sind legitim und angebracht. Denn nicht nur Studierende, sondern auch Beschäftigte im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, Arbeiter, Frauen und Jugendliche sind heute gezwungen, unter Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu leben. Daher ist Widerstand auf allen Ebenen sowohl legitim als auch unvermeidlich. Als Eğitim-Sen treten wir immer für einen friedlichen und demokratischen Kampf ein. Diese Aufrufe sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Aufbruchs und des Willens zum gemeinsamen Widerstand.
Erlebt ihr Solidarität?
Ja, wir spüren eine sehr starke Solidarität sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Wir erhalten Solidaritätsbekundungen von Bildungsgewerkschaften in Europa, internationalen Lehrerverbänden, demokratischen Massenorganisationen in der Türkei, Anwaltskammern und politischen Parteien. Es ist sehr wertvoll zu sehen, dass wir angesichts dieses Drucks nicht allein sind. Solidarität erhält und stärkt.
Wie sieht dein Alltag unter Hausarrest aus?
Intensiv, aber begrenzt. Wir sind in ständiger Kommunikation, schreiben Berichte, bereiten Erklärungen vor, geben Interviews, stärken Solidaritätsnetzwerke. Gleichzeitig versuchen wir, uns durch intensives Lesen geistig wach zu halten. Aber natürlich ist es nicht einfach, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein; es ist schwierig, nicht Seite an Seite mit unseren Lieben, der Jugend und Genossen zu sein. Wir produzieren weiter, um gegen diese Unterdrückung nicht zu schweigen.
Möchtest du unseren Lesern noch etwas sagen?
Die Türkei steht heute vor einer sehr schweren Prüfung in Bezug auf Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Dennoch sind wir voller Hoffnung. Denn wir wissen, dass organisierte Menschen unbesiegbar sind. Solidarität ist grenzenlos. Jeder, der heute hier mit uns solidarisch ist, steht nicht nur auf unserer Seite, sondern auch auf der Seite der Demokratie, der Freiheit und der Arbeit. Ich rufe alle auf, ihre Stimme zu erheben und gemeinsam gegen diese Finsternis zu kämpfen.
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben