23. April 2025
SchweizSFB

Rechtfertigung des Unentschuldbaren

Übernommen von Schweizerische Friedensbewegung:

Als Besatzungsmacht hat Israel nicht das Recht, sich in Gaza auf «Selbstverteidigung» zu berufen. Die Palästinenser:innen jedoch schon. Gemäss Völkerrecht ist der Widerstand der Palästinenser:innen unter fremder Besatzung legitim, letztlich sogar der Widerstand mit Gewalt.

Von Craig Mokhiber

Eine der vielen beunruhigenden Enthüllungen, die seit Beginn der aktuellen Phase des Völkermords in Palästina vor über einem Jahr ans Licht gekommen sind, ist das Ausmass, in dem US-amerikanische und andere westliche Politiker:innen bereit sind, sich pflichtbewusst an das Narrativ zu halten, das ihnen von Israel und dessen westlichen Lobbys vorgegeben wird, egal ob es nun wahr ist oder nicht. Ein typisches Beispiel hierfür ist das oft wiederholte Argument der «Selbstverteidigung». Nach jedem weiteren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Israel während des aktuellen Völkermords begangen hat, ist der häufigste Refrain westlicher Regierungsvertreter:innen (und der westlichen Konzernmedien), dass «Israel das Recht hat, sich zu verteidigen». – Nein, das hat es nicht. Aus Sicht des Völkerrechts ist dies tatsächlich eine doppelte Lüge. Erstens hat Israel in Gaza (oder im Westjordanland und Ostjerusalem) kein solches Recht. Und zweitens sind diese Handlungen, die gerechtfertigt werden sollen, selbst dann rechtswidrig, wenn es sich um Selbstverteidigung handeln würde.

Die Pflichten der Besatzungsmacht
Die UN-Charta, ein für alle Mitgliedsstaaten verbindlicher Vertrag, kodifiziert die wichtigsten Rechte und Pflichten von Staaten. Dazu gehören die Pflicht, die Selbstbestimmung der Völker (einschliesslich der Palästinenser:innen) zu respektieren, die Pflicht, die Menschenrechte zu achten, und die Pflicht, auf die Anwendung von Gewalt gegen andere Staaten zu verzichten (sofern sie nicht vom Sicherheitsrat autorisiert ist). Israel hat in den 76 Jahren seines Bestehens wiederholt gegen alle diese Prinzipien verstossen. Eine vorübergehende Ausnahme vom Gewaltverbot ist in Artikel 51 der UN-Charta zur Selbstverteidigung gegen Angriffe von aussen festgeschrieben. Wichtig ist jedoch, dass ein solches Recht nicht besteht, wenn die Bedrohung aus einem vom Staat kontrollierten Gebiet kommt. Dieser Grundsatz wurde vom Internationalen Gerichtshof in seinem Gutachten von 2004 zur israelischen Apartheidmauer bestätigt. Und der Gerichtshof stellte damals und erneut in seinem Gutachten von 2024 zur Besatzung fest, dass Israel die Besatzungsmacht im gesamten besetzten palästinensischen Gebiet ist. Daher kann Israel als Besatzungsmacht nicht Selbstverteidigung als Rechtfertigung für militärische Angriffe in Gaza, im Westjordanland, in Ostjerusalem oder auf den Golanhöhen geltend machen. Natürlich kann Israel von seinem eigenen Territorium aus rechtmässig Angriffe abwehren, um seine Zivilbevölkerung zu schützen, aber es kann nicht Selbstverteidigung geltend machen, um Krieg gegen die von ihm besetzten Gebiete zu führen. Tatsächlich besteht seine Hauptpflicht darin, die besetzte Bevölkerung zu schützen. Dabei kann eine Besatzungsmacht wesentliche Strafverfolgungsfunktionen übernehmen (im Gegensatz zu militärischen Operationen). Doch angesichts der Tatsache, dass der Internationale Gerichtshof inzwischen befand, dass die israelische Besetzung der Gebiete selbst vollkommen unrechtmässig sei, wären selbst diese Massnahmen wahrscheinlich unrechtmässig, es sei denn, sie wären zum Schutz der besetzten Bevölkerung und innerhalb eines kurzen Zeitraums nach dem Abzug unbedingt erforderlich.

Verstösse gegen das Völkerrecht
In seiner jüngsten Stellungnahme hat der Internationale Gerichtshof erklärt, dass Israels Anwesenheit in den Gebieten das Prinzip der Selbstbestimmung, die Regel der Nichtaneignung von Gebieten durch Gewalt und die Menschenrechte des palästinensischen Volkes verletzt und dass es seine Anwesenheit schnell beenden und das palästinensische Volk für die erlittenen Verluste entschädigen muss. Rechtlich gesehen ist jeder israelische Stiefel auf dem Boden, jede israelische Rakete, jeder Jet oder jede Drohne im palästinensischen Luftraum und sogar ein einziges nicht genehmigtes israelisches Fahrzeug auf einer palästinensischen Strasse ein Verstoss gegen das Völkerrecht. Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Israels einziges rechtmässige Mittel gegen die Bedrohungen, die seiner Meinung nach von den besetzten Gebieten ausgehen, besteht darin, seine Besetzung zu beenden, die Siedlungen aufzulösen, die Gebiete zu verlassen, die Belagerung aufzuheben und die Kontrolle vollständig an das besetzte palästinensische Volk abzugeben. Hier ist das Völkerrecht eine einfache Widerspiegelung des gesunden Menschenverstands und der universellen Moral. Ein Krimineller kann nicht das Haus einer Person übernehmen, einziehen, seinen Inhalt plündern, die Bewohner:innen einsperren und brutal behandeln und dann Selbstverteidigung geltend machen, um die Hausbesitzer:innen zu ermorden, wenn sie sich wehren. Israel hat zwar ein Recht auf Selbstverteidigung gegen Angriffe anderer Staaten, kann dieses Recht jedoch nicht geltend machen, wenn der Angriff eine Reaktion auf israelische Aggression ist. Israel kann keinen Nachbarstaat (z. B. Libanon, Syrien, Irak, Iran, Jemen) angreifen und dann Selbstverteidigung geltend machen, wenn dieser Staat zurückschlägt. Eine solche Behauptung zu akzeptieren, hiesse, das Völkerrecht auf den Kopf zu stellen. Daher sind die meisten Behauptungen westlicher Politiker:innen und Medien, dass Israel ein «Recht auf Selbstverteidigung» hat, nachweislich falsch, was das Völkerrecht betrifft.

Die Verbrechen Israels
Die zweite Lüge, die in diesen wiederholten Behauptungen enthalten ist, ist, dass die Selbstverteidigung Israels die unzähligen Verbrechen rechtfertigt. Das Völkerrecht erlaubt es nicht, dass man mit Selbstverteidigung Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord rechtfertigt. Ebenso wenig überwindet es auf magische Weise die Gebote des humanitären Völkerrechts wie Vorsicht, Unterscheidung und Verhältnismässigkeit oder den Schutzstatus von Spitälern und anderen lebenswichtigen zivilen Einrichtungen. Darüber hinaus macht die Anwesenheit von Menschen, die mit bewaffneten Widerstandsgruppen in Verbindung stehen, ein ziviles Gebäude nicht automatisch zu einem legitimen militärischen Ziel. Wäre dies der Fall, würde die allgemeine Anwesenheit israelischer Soldat:innen in israelischen Spitälern diese Krankenhäuser ebenso zu legitimen Zielen machen. Spitäler anzugreifen ist kein Akt der Selbstverteidigung. Es ist Mord und in systematischen und gross angelegten Fällen ein Verbrechen der Ausrottung. Ein Anspruch auf Selbstverteidigung rechtfertigt keine Kollektivstrafen, die Belagerung der Zivilbevölkerung, aussergerichtliche Hinrichtungen, Folter, die Blockierung humanitärer Hilfe, das gezielte Angreifen von Kindern, die Ermordung von Hilfskräften, medizinischem Personal, Journalist:innen und UNBeamten – alles Verbrechen, die Israel während der gegenwärtigen Phase seines Völkermords in Palästina begangen hat. Und all dies wird von den Verteidiger:innen Israels im Westen schamlos mit Behauptungen der Selbstverteidigung begleitet. Daher ist jede Reaktion eines Politikers oder einer mitschuldigen Stimme der Massenmedien auf ein israelisches Verbrechen, die mit «Israel hat das Recht, sich zu verteidigen» beginnt, zugleich eine Rechtfertigung des Unentschuldbaren und eine dreiste Lüge – und sollte als solche bezeichnet werden. Ausserdem wird man diese Personen nie sagen hören, dass Palästina das Recht hat, sich zu verteidigen, obwohl es das nach internationalem Recht absolut hat. Verwurzelt in der UN-Charta und im internationalen humanitären und Menschenrechtsrecht und bestätigt durch eine Reihe von UN-Resolutionen haben palästinensische Widerstandsgruppen ein legales Recht auf bewaffneten Widerstand, um das palästinensische Volk von ausländischer Besatzung, Kolonialherrschaft und Apartheid zu befreien. Und die Welt stimmt zu. Die UN-Generalversammlung hat «das unveräusserliche Recht des palästinensischen Volkes und aller Völker unter fremder Besatzung und Kolonialherrschaft auf Selbstbestimmung, nationale Unabhängigkeit, territoriale Integrität, nationale Einheit und Souveränität ohne ausländische Einmischung» anerkannt und bekräftigt «die Legitimität des Kampfes der Völker für Unabhängigkeit, territoriale Integrität, nationale Einheit und Befreiung von Kolonialherrschaft, Apartheid und ausländischer Besatzung mit allen verfügbaren Mitteln, einschliesslich des bewaffneten Kampfes».
Natürlich muss jeder Widerstandskampf die Regeln des humanitären Völkerrechts respektieren, einschliesslich des Prinzips, Zivilist:innen zu verschonen. Aber Palästinas Recht auf bewaffneten Widerstand gegen Israel nach internationalem Recht ist mittlerweile unanzweifelbar. Einfach ausgedrückt: Das palästinensische Volk hat ein anerkanntes Recht, sich gegen Israels Besatzung, Apartheid und Völkermord zu wehren, auch durch bewaffneten Kampf. Und da der zugrunde liegende Widerstand rechtmässig ist, sind Bündnisse, Hilfe und Unterstützung für die Palästinenser:innen zu diesem Zweck ebenfalls rechtmässig. Umgekehrt ist die Unterstützung Israels bei diesen Bemühungen durch westliche Staaten rechtswidrig, da Israels Besatzung, Apartheid und Völkermord rechtswidrig sind. Tatsächlich hat der Internationale Gerichtshof festgestellt, dass alle Staaten verpflichtet sind, jegliche derartige Unterstützung Israels einzustellen und auf die Beendigung der israelischen Besatzung hinzuarbeiten.

Apartheid und Rassentrennung
Und noch ein Punkt zum Begriff der Selbstverteidigung. Die Geschichte begann nicht erst am 7. Oktober 2023. In den 1930er und 40er Jahren reisten zionistische Kolonist:innen aus Europa, um Palästinenser:innen in ihren Häusern in Palästina anzugreifen. Keine palästinensische Miliz reiste nach Europa, um die Kolonist:innen in ihren Häusern in England, Frankreich und Russland anzugreifen. (Natürlich hatten Juden, die vor europäischer Verfolgung flohen, jedes Recht, in Palästina und anderswo Asyl zu suchen. Aber die Zionist:innen hatten kein Recht, das Land zu kolonisieren und die einheimische Bevölkerung zu enteignen.) Seitdem hat Israel mehr als 76 Jahre lang die einheimische palästinensische Bevölkerung angegriffen, brutal behandelt, vertrieben, enteignet und ermordet und versucht, sie auszulöschen. Es hat Hunderte palästinensische Städte und Dörfer ethnisch gesäubert, palästinensische Häuser, Geschäfte, Bauernhöfe und Obstgärten gestohlen und die palästinensische zivile Infrastruktur zerstört. Jede palästinensische Gemeinschaft hat täglich Angriffe auf ihre Würde, Verhaftungen, Schläge, Folter, Plünderungen und Morde durch Israel erlebt. Überlebende waren gezwungen, unter einem Regime der Apartheid und Rassentrennung zu leben und in ihrem eigenen Land wurden ihnen ihre bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte systematisch verweigert. Jeder friedliche palästinensische Versuch, die Unterdrückung zu beenden und das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung durch diplomatische Initiativen, gerichtliche Schritte, friedliche Proteste oder organisierte Boykotte und Desinvestitionen wiederzuerlangen, stiess auf Repression oder Ablehnung, nicht nur von Israel, sondern auch von seinen westlichen Unterstützer:innen. In diesem Zusammenhang gebieten grundlegende Moral und einfache Logik wie das Völkerrecht, dass das Recht auf Selbstverteidigung dem palästinensischen Volk zusteht.

Craig Mokhiber ist Spezialist für Völker- und Menschenrecht und arbeitete für die UNO.

Quelle: Mondoweiss

Quelle: Schweizerische Friedensbewegung