Polizei mordet, Staat lenkt ab
Ein Beamter der Dortmunder Polizei hat am 8. August einen unbegleiteten 16-jährigen Geflüchteten aus dem Senegal erschossen – mit fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole. Das Opfer, Mouhamed Lamine Dramé, sprach weder Deutsch noch Englisch. Dramé war in der katholischen Jugendeinrichtung St. Antonius in der Dortmunder Nordstadt untergebracht. Ein Betreuer hatte die Polizei alarmiert, weil sich Dramé mit einem Messer auf dem angrenzenden Kirchengelände aufhielt und er Suizidgefährdung nicht ausschließen konnte.
Die Nordstadt mit ihrem hohen Migrantenanteil steht bei der Dortmunder Polizei unter Generalverdacht. Die örtliche DKP weist schon seit vielen Jahren auf die Problemlage vor Ort hin. Schon seit vielen Jahren wolle der Oberbürgermeister in der Nordstadt „aufräumen“. Polizei, Staatsanwaltschaft und Ordnungsamt sähen die Menschen vor Ort als Gegner. „Das Arsenal der Kampfmittel reicht von einem massiven Polizeiaufgebot im Alltag bis zu aggressiven Durchsuchungen und Absperrungen ganzer Straßenzüge mit großem Aufgebot von Einsatzkräften. Beobachter berichten von ‚Racial profiling‘, also anlasslosen Personenkontrollen nur aufgrund der vermeintlichen Herkunft. Bewohner der Nordstadt nennen das Einschüchterung, Diskriminierung und Schüren von Hysterie“, schrieb die DKP Dortmund in ihrer Zeitung „Heisse Eisen“ zur Kommunalwahl 2020.
Eine völlig andere Sichtweise präsentiert der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange: „Die Polizei steht seit Jahren mit vielen gesellschaftlichen Gruppen, die sich in der Nordstadt engagieren, im intensiven und sehr vertrauensvollen Kontakt.“ In einer Pressemitteilung vom 11. August wirbt er „für das Vertrauen der Menschen in seine Polizei“ und „bittet um Geduld und Besonnenheit in der Phase der Faktenaufarbeitung“.
Die Aufarbeitung der Fakten steht unter ungünstigen Vorzeichen. Die Bodycams der elf Beamten waren ausgeschaltet. Im Falle der Erschießung Dramés ermittelt jetzt die Polizei Recklinghausen – die ihrerseits im Fokus von Ermittlungen der Dortmunder Polizei steht wegen des Todes eines 39-Jährigen aus Oer-Erkenschwick nach einem Polizeieinsatz am 7. August. Viele Beobachter verweisen auf den Korpsgeist in der Polizei. Wenn man als Kollege gegen Kollegen ermittle, gehe man immer mit einem gewissen Verständnis an einen solchen Fall ran, sagte beispielsweise der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Universität Frankfurt am Main dem WDR. Wie auch andere kritische Polizisten plädiert er für eine unabhängige Behörde, die solche Ermittlungen führt.
Doch selbst eine ernsthafte Einzelfallprüfung ersetzt nicht die notwendige Analyse des existierenden Polizeisystems. Deeskalierende Einsatztaktiken sind nur eine Randnotiz in der Ausbildung von Polizisten. Seit Jahren bekommen Polizisten durch entsprechende Polizeigesetze ständig wachsende Befugnisse und immer gefährlichere Waffen. Die Unkultur der Straflosigkeit für gewalttätige Polizisten ermuntert geradezu zu Gewaltexzessen. Dazu kommt die Phalanx aus rechten Politikern, Journalisten und Polizeigewerkschaften, die seit Jahren propagieren, Polizisten hielten sich an die Gesetze, wer unabhängig überprüfen wolle, ob dem tatsächlich so sei, falle der Polizei in den Rücken und sei „Extremist“.
Laut dem Datenportal Statista haben Polizisten in Deutschland zwischen 1990 und 2019 301 Menschen erschossen. Das sind durchschnittlich zehn pro Jahr. Seit 2016 liegt die Anzahl der pro Jahr von Polizisten Erschossenen Jahr für Jahr über diesem Durchschnittswert.
Wer psychisch krank ist, obdachlos oder als Ausländer oder Migrant gesehen wird, wird überdurchschnittlich häufig Opfer von Polizeigewalt. Wer das nicht ist, sollte sich nicht in falscher Sicherheit wiegen: Auch bei den erwarteten Protesten im Herbst gegen die steigenden Lebenshaltungskosten wird die Polizei ihren Klassenauftrag erfüllen.
Quelle: Unsere Zeit