21. Dezember 2024

Hungern, Frieren, Fresse halten

Nur ein Gärtner weiß im Voraus, was ihm blüht? Politiker, Geheimdienstchefs, Wissenschaftler und Journalisten bürgerlicher Medien sind „besorgt“: Sollten im Herbst weite Teile der Bevölkerung hungern und frieren, weil sie angesichts explodierender Preise für Lebensmittel und Energie nicht mehr über die Runden kommen, könnten Betroffene ihren Unmut auf die Straße tragen. Diese verirrten Schäflein würden dann leichte Beute für Nazis und Verschwörungsschwurbler.

44 Prozent der Deutschen können sich nämlich vorstellen, gegen steigende Energiepreise auf die Straße zu gehen, stellte eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA Mitte Juli fest. „Wenn die Preissteigerungen viele Menschen hart treffen und wir zusätzlich im Herbst noch eine starke Corona-Welle erleben, dann ist das Potenzial für Mobilisierung und Radikalisierung da“, äußerte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kurz darauf im „Spiegel“. „Dann werden Populisten und Extremisten ihre Chance wittern, ähnlich wie in den Hochphasen der Corona-Proteste.“ Die Sicherheitsbehörden beobachteten die Lage genau. „Demokratiefeinde warten nur darauf, Krisen zu missbrauchen, um Untergangsfantasien, Angst und Verunsicherung zu verbreiten.“ Ihre Kollegin Annalena Baer­bock (Die Grünen) legte noch eine Schippe drauf: Wenn das Gas versiege, „dann sind wir mit Volksaufständen beschäftigt“.

Die Inlandsgeheimdienste sekundieren nach Kräften. „Extremisten träumen von einem deutschen Wutwinter“, behauptet Jörg Müller, Chef des Brandenburger „Verfassungsschutzes“. „Sie hoffen, dass Energiekrise und Preissteigerungen die Menschen besonders hart treffen, um die Stimmung aufzugreifen und Werbung für ihre staatsfeindlichen Bestrebungen zu machen.“ Müllers Thüringer Amtskollege Stephan Kramer sagte im Interview mit „ZDFheute“, nach der Pandemie und den Weltgeschehnissen der letzten Monate herrsche eine „hochemotionalisierte, aggressive, zukunftspessimistische Stimmung“ in der Bevölkerung, „deren Vertrauen in den Staat, seine Institutionen und politisch Handelnden zumindest in einigen Teilen von massiven Zweifeln behaftet ist“.

Äußerungen wie diese stehen bei bürgerlichen Medien seit Wochen hoch im Kurs. Berichte mit Überschriften à la „Wie Rechtsextremisten ihre Anhänger für einen deutschen Wutwinter mobilisieren“ („Der Spiegel“ 30/2022) oder „Die Stunde der rechten Strippenzieher“ („Redaktionsnetzwerk Deutschland“, zum Beispiel im „Kölner Stadt-Anzeiger“ vom 1. August 2022) warnen laut vor Nazis, Reichsbürgern, Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern, die angesichts immer verzweifelterer Lebensumstände für immer mehr Menschen in Deutschland Hochkonjunktur erwarten dürften. Dabei bedienen sich diese Medien eben jenes verschwörungstheoretischen Geraunes, das sie selbst bei Rechtsextremen und Corona-Leugnern kritisieren. Völlig unbeachtet bleiben hingegen Fragen wie die, ob nicht die Sanktionspolitik der Bundesregierung gegenüber Russland für deutlich reduzierte Gaslieferungen verantwortlich ist. Oder die, ob man Energiekonzerne wie RWE, die gerade Rekordgewinne einfahren, nicht besser verstaatlichen sollte, um allen Menschen bezahlbare Energie zur Verfügung zu stellen. Selbst die naheliegende Frage, ob die Bundesregierung nicht sozialpolitische Maßnahmen ergreifen könnte, um Arbeitslosen, Studenten, Rentnern, Niedriglohnempfängern und Familien unter die Arme zu greifen, wird bestenfalls im Nebensatz touchiert.

Dieses Framing der erwarteten Proteste offenbart nicht nur ein selbst für die engen Grenzen bürgerlicher Demokratie erschreckend verkürztes Demokratieverständnis. Wenn Proteste (!) als „staatswohlgefährdend“ oder „den Staat delegitimierend“ geframet werden, wenn „Vertrauen in den Staat“ zur Staatsbürgerpflicht wird, ist der reaktionäre Staatsumbau schon weit fortgeschritten.

Die wichtigste Aufgabe für die letzten fortschrittlichen Kräfte in diesem Land ist jetzt, all denen, die von der Umverteilung von unten nach oben betroffen sind, entgegen der Kakofonie der bürgerlichen Propaganda die Zusammenhänge zwischen ihrer Lage und der Politik der Bundesregierung begreiflich zu machen. Gelingt uns das nicht, gelingt es uns nicht, uns an die Spitze dieser Proteste zu stellen und die Faschisten draußen zu halten, wird sich das Vorab-Framing als selbsterfüllende Prophezeiung erweisen.

Die Grünen haben aus ihren Farbbeutel-auf-Parteitagen-Zeiten gelernt. Sie kennen ihre Klientel und wissen: Das Spiel-nicht-mit-den-Schmuddelkindern-Narrativ ist mächtig genug, ihre Wähler von Demonstrationen fernzuhalten. Auch bei vielen Wählern der Linkspartei dürfte es wirken. Genau dafür hat die herrschende Klasse Baerbock zur Gärtnerin gemacht.

Quelle: Unsere Zeit

UZ - Unsere Zeit