Selenskyj fordert von der NATO atomaren „Präventivschlag“ gegen Russland
„Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, äußerte Joe Biden in seiner Warschauer Rede in Richtung Putin gemünzt Ende März bekanntlich. Gestern forderte nun der ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einem Videoauftritt im australischen Sydney allen Ernstes von der „Internationalen Gemeinschaft“ und NATO nicht weniger als atomare „Präventivschläge“ gegen Russland. Jeder auch nur halbwegs bei Verstand Gebliebene kann diesbezüglich wohl nur zumindest einmal in seinem Leben den Präsidenten der Vereinigten Staaten zitierend – deren „Krieg gegen den Terror“ in den letzten beiden Dekaden selbst 3 Millionen Menschen das Leben kostete – sagen: „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ Und zwar sowohl Richtung Kiew wie an die Adressen der Hauptstädte des Westens.
Nun dreht auch Moskau mit seiner steten Atomdrohungen seit geraumer Zeit nochmals an der Eskalationsschraube im Kriegsklima. Allerdings kennt die geltenden Militärdoktrin Russlands im Unterschied zu jener der NATO weder eine „Präemption“ – also bei ersten gefährdenden Anzeichen der Gegenseite nuklear zuzuschlagen –, noch einen „präventiven“ Atomwaffen-Erstschlag, geschweige denn einen atomaren „Präventivkrieg“, sprich: „vorsorglich“ und „anlasslosen“ Entwaffnungs- und/oder Enthauptungsschlag. Aber die Militärdoktrin Moskaus beinhaltet und erlaubt den Einsatz von Atomwaffen bei einem existenzbedrohenden Angriff auf das russische Staatsgebiet. Und dieser Punkt wird seitens der russischen Führung von Putin über Medwedew bis Peskow angesichts des Kriegsverlaufs, der Frontverschiebungen und des offenen westlichen Kriegsziels Russland zu besiegen sowie als geopolitischen Akteur von der Weltbühne zu holen gegen ein unbedachtes Eingreifen des Westens hinweg über „rote Linien“ der Sicherheits- und Militärpolitik Moskaus bewusst zu machen versucht.
Anders hingegen die Militärdoktrinen Washingtons und die NATO. Und auch das diesen Juni beschlossenen neue Strategische Konzept der NATO enthält nicht nur weiterhin die nukleare Erstschlags-Doktrin, sondern bezeichnet Russland erstmals ausdrücklich als Feindstaat für den transatlantischen Militärpakt. Und die Erstschlags-Optionen wurden in Washington historisch auch immer wieder ernsthaft in Erwägung gezogen, durchgespielt sowie laut und vernehmlich geäußert.
Bereits im November 1945, ein bloßes Vierteljahr nach der nuklearen Verheerung Hiroshimas und Nagasakis, erstellten Think Tanks für‘s Pentagon eine Liste mit 20 sowjetischen Industriestädten und Verwaltungszentren für einen „präventiven begrenzten Atomschlag“, wie es hieß. Als Abwurfziele finden sich in den Dokumenten dabei unter anderem Moskau, Leningrad, Omsk, Swerdlowsk, Tiflis und weitere Großstädte. Allerdings gelangten die US-Strategen und Militärs alsbald zur Erkenntnis, dass es mit Atombombenabwürfen nicht getan wäre und es zudem einer militärischen Großoffensive bedürfte, um die Sowjetunion auszuradieren. 1947 wurden dann auch genauen Ziele einer solch begleitenden Militäroffensive, samt dafür benötigte Jagdfliegerstaffeln und Militär-Divisionen in ein Memorandum gegossen. Bekannt geworden sind diese Geheimdokumente der US-Generalität später unter anderem unter dem ebenso zynischen wie vielsagenden Namen „Broiler“ („Grillen“).
In den herrschenden politischen und militärischen Kreisen sowie Fraktionen der USA tobten dazu freilich heftige innere Auseinandersetzungen, die im Korea-Krieg 1950/51 dann offen ausbrachen. General McArthur forderte bekanntlich immer vehementer den Einsatz von Atombomben auf Ziele in Nordkorea (insgesamt auf sage- und schreibe 49 nordkoreanische Städte) und eine Ausweitung des Kriegs und der nuklearen Kriegsführung auf China. Die Kontroverse zwischen Präsident Truman und MacArthur um die Form und den Eskalationsgrad der US-amerikanischen Kriegsführung eskalierte darob selbst und führte im April 1951 zur Absetzung des Oberkommandierenden im Pazifik von seinem Posten. In den Vereinigten Staaten war und blieb MacArthur, der auch politische Karriereträume hegte, gleichzeitig ungemein populär und erhielt zahlreiche Ehrungen. Obschon sich aufgrund der veränderten internationalen Kräfteverhältnisse zu 1945, Truman seinerzeit durchsetze (wiewohl es einige Wochen sogar möglich schien und als unausgemacht galt, ob MacArthur nicht die Regierungsgewalt übernehmen könnte), wurde gleichzeitig die „Theorie des lokalen Atomkriegs“ fester Bestandteil der US- und NATO-Kernwaffenstrategie und ist es bis heute geblieben.
Freilich, mit dem Nach- und Gleichrüsten der Sowjetunion sowie der Indienstnahme von Interkontinentalraketen kühlten sich die allzu forschen US-Kriegspläne etwas ab. Denn selbst maßgeblichen Kräften der herrschenden Kreise in der Vereinigten Staaten wurde klar: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. Außer: man untergräbt durch ein allzu nahes Heranrücken an die Grenze des Kontrahenten die Flugzeit stationierter Raketen auf eine solche Minimalzeit, dass man damit eine Gegenwehr, die sogenannte Zweitschlagskapazität, (weitgehend) ausschaltet. Eine solche existenzielle Verkürzung der Vorwarn- und Flugzeit untergräbt damit die Balance das „Gleichgewicht des Schreckens“ und eröffnet damit die Möglichkeit gezielter „Enthauptungsschläge“, oder schärfer: geplanter Atomkriege.Letzteres gilt ebenso, wenn sich eine Seite in der Lage wähnt, die Gegenschlagswaffen des Kontrahenten mit einem präzisen Erstschlag außer Kraft setzen zu können, oder glaubt, ihre eigene Abwehr so dicht und präzise organisiert zu haben, dass man die Atomraketen des Gegners alle oder mindestens weitgehend abfangen kann.
Allerdings überträfen die von Militärstrategen zwischenzeitlich ersonnenen Infernos heute die Operation „Broiler“ nochmals um Dimensionen. Bereits der unter John F. Kennedy geltende „Single Integrated Operation Plan“ sah den Abschuss von 3.500 (nochmals viel „moderneren“) Atomwaffen gegen sage und schreibe 1.077 Ziele in der Sowjetunion auf einen Schlag vor. Unter Ronald Reagan galt dann der gleichzeitige Einsatz von mindestens 1.000 Atomraketen mit einer unvergleichlich viel präzisieren, punktgenauen Treffsicherheit und einer Sprengkraft eines jeweils zigfachen der Hiroshimabombe auf Ziele in der UdSSR als das strategische Minimum der US-Militärdoktrin resp. eines etwaigen „Enthauptungsschlags“. Das heutige Atomwaffenarsenal hat vielfach um nochmals beinahe ein halbes Jahrhundert an Zerstörungswucht gewonnen.
Während angesichts dessen selbst hochrangige NATO-Militärs und westliche Think Tanks ersten Ranges vor jeder weiteren Eskalation des Ukraine-Konflikts bis an den Rand eines atomaren Infernos warnen, scheint Wolodymyr Selenskyj einen neuen großen heißen Krieg mit anschließendem Weltenbrand billigend in Kauf zu nehmen – ja, vielfach geradezu heraufzubeschwören. Nur am Rande erwähnt sei, dass er sich damit nathlos in die Tradition der ukrainischen Lieblinge des Westens einreiht. Schon die manisch russophobe „Gasprinzessin“ Julia Timoschenko äußerte vor Jahren bekanntlich: „Ich würde all meine Beziehungen geltend machen, und die ganze Welt erheben lassen, damit von Russland nur ausgebrannter Boden übrig bleibt.“ In dieselbe Kerbe, diesesmal allerdings als konkreter Aufruf an die NATO, schlug in Sydney nun auch der neue Statthalter Kiews: „Wichtig ist aber – ich wende mich wie vor dem 24. Februar deshalb an die Weltgemeinschaft –, dass es Präventivschläge sind, damit sie [‚die Russen‘] wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden.“ Der berüchtigte ehemalige US-Viersternegeneral und CIA-Direktor David Petraeus hat am Wochenende seinerseits schon mit ganz dicken Knüppel gegen Moskau geschwungen. Selenskyjs Sprecher Serhij Nykyforow ist heute denn auch den ganzen Tag bemüht, zu ‚beschwichtigen‘ und die Armageddon-Phantasien seines Chefs irgendwie zu relativieren. Selenksyjs (allerdings im Original leicht zu vergleichende) Forderungen seien falsch verstanden worden, er habe angeblich vielmehr „nur“ die Meinung vertreten, man hätte Russland gleichsam schon im Februar präventiv nuklear in Schutt und Asche legen sollen. Hat man noch Worte zum Gralshüter der „westlichen Werte“ im Osten?
Quelle: KOMintern