Ukraine: Chronik der westlichen Einmischung
Übernommen von: Schweizerische Friedensbewegung
Die Intervention des Westens im Umsturz von 2014 wird oft heruntergespielt. Sie passt nicht ins NATO-Narrativ von diesem Krieg. Ein Beitrag von Helmut Scheben auf Inforsperber.
Am 7. Februar 2014 wird auf Youtube ein Telefongespräch veröffentlicht, welches US-Staatsekretärin Victoria Nuland mit Geoffrey Pyatt führte, dem US-Botschafter in Kiew. Thema waren Pläne für einen Regierungswechsel in der Ukraine. Dieser war offensichtlich zu diesem Zeitpunkt beschlossene Sache. Nuland erörterte mit Pyatt bereits die Kandidaten für die neue Regierung.
Pyatt meint, der ehemalige Boxer und spätere Politiker Vitali Klitschko wolle zwar Vize-Premier werden, sei aber offensichtlich nicht der richtige Mann. Nuland müsse ihm dies in einem Telefonat klarmachen. So wie sie bereits «Yats» (gemeint ist Arsenij Jazenjuk) telefonisch mitgeteilt habe, er sei der richtige Mann.
Wörtlich sagt Pyatt:
«Ich denke, es läuft. Die Klitschko-Sache ist offensichtlich das komplizierte Teilchen hier. Besonders die Ankündigung, er wolle stellvertretender Premierminister werden. Du hast einige meiner Notizen über die Probleme in dieser Beziehung gesehen, also versuchen wir, schnell herauszufinden, wo er in dieser Sache steht. Aber ich denke, Dein Argument, das Du ihm gegenüber vorbringen musst. Ich denke, das nächste Telefonat, das Du führen solltest, ist genau das, das Du Yats [Jazenjuk, Red.] gegenüber vorgebracht hast. Und ich bin froh, dass Du ihn sozusagen auf den Punkt gebracht hast, wo er in dieses Szenario passt.»
Original auf Englisch siehe Fussnote 1
Nuland bestätigt, Klitschko solle nicht in die Regierung, das sei keine gute Idee. Hingegen sei Jazenjuk geeignet für den Job des Regierungschefs:
«Ich denke, dass Yats derjenige ist, der über die wirtschaftliche Erfahrung und die Erfahrung im Regieren verfügt.»
Original auf Englisch siehe Fussnote 2
Jen Psaki, Sprecherin des US-Aussenministeriums, behauptete nach Bekanntwerden des Telefonats, die USA mischten sich nicht in die internen Angelegenheiten der Ukraine ein, Diplomaten redeten eben über dies und jenes: «Es sollte nicht überraschen, dass US-Beamte über Probleme in der ganzen Welt sprechen.» Auf die Frage, ob der Telefonmitschnitt authentisch sei, antwortete sie: «Ich habe nicht gesagt, dass dieser nicht authentisch ist.»
«Der Westen hat diesen Putsch gewollt»
Drei Wochen nach dem Bekanntwerden dieses Telefongesprächs wurde Jazenjuk der neue Ministerpräsident der Ukraine. Kurz vorher hatte der demokratisch gewählte Präsident Viktor Janukowitsch angesichts der Bedrohung durch einen Lynchmob das Land verlassen, nachdem bei gewaltsamen Protesten auf dem Kiewer Maidan um die hundert Menschen erschossen worden waren.
Der damalige Premierminister Nikolai Asarow berichtete zwei Jahre später in einem Interview mit Telepolis ausführlich, was sich auf dem Maidan zugetragen hatte und zeigt sich überzeugt: «Ohne Hilfe der USA hätte es 2014 keinen Staatsstreich gegeben».
Der damalige Präsident Janukowitsch sagte ein Jahr später: «Der Westen hat diesen Putsch gewollt, nun muss er auch die Folgen tragen.» Er forderte die neue Regierung in Kiew auf, mit den prorussischen Aufständischen im Osten der Ukraine das Gespräch zu suchen und der abtrünnigen Region eine weitgehende Selbstverwaltung zu gewähren. Gemäss dem völkerrechtlich verbindlichen Friedensabkommen Minsk II vom Februar 2015 hätte Kiew dieses Recht auf Selbstverwaltung in die Verfassung schreiben müssen, hat dies aber nie getan.
Offensichtlich war es gar nie die Absicht von Deutschland und Frankreich, für das Umsetzen des Abkommens zu sorgen. Minsk II sollte vielmehr vor allem Moskau davon abhalten, den ganzen Donbass sofort gewaltsam einzunehmen, und gleichzeitig der Ukraine Zeit verschaffen, um aufzurüsten. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel erklärte am 7. Dezember 2022 gegenüber der ZEIT offen:
«Das Minsker Abkommen 2014 war ein Versuch gewesen, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit hat auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht. Die Ukraine von 2014/15 ist nicht die Ukraine von heute. Wie man am Kampf um Debalzewe (Eisenbahnerstadt im Donbass, Oblast Donezk, d. Red.) Anfang 2015 gesehen hat, hätte Putin sie damals leicht überrennen können. Und ich bezweifle sehr, dass die Nato-Staaten damals so viel hätten tun können wie heute, um der Ukraine zu helfen.»
Ursprung der Krise war, dass Janukowitsch – unter anderem wohl auf Druck von Moskau – das längst vereinbarte Assoziierungs-Abkommen mit der EU nicht ratifizieren wollte. Er hatte sich damit mächtige Feinde in Brüssel, Berlin und Washington gemacht. Das Abkommen beinhaltete die Bildung einer Freihandelszone und die Übernahme aller Handels- und Wirtschafts-Standards der EU.
Vorgesehen war unter anderem, dass die Ukraine alle Zölle und Massnahmen zum Schutz der einheimischen Wirtschaft weitgehend eliminieren würde. Die Details waren in einer 1500 Seiten langen Liste für nahezu jedes Produkt festgelegt.
Wichtig war eine gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Terrorabwehr und eine militärischer Zusammenarbeit mit der EU, die der Vertrag vorsah. Russland befürchtete einen NATO-Beitritt und dass einer seiner wichtigsten Flotten-Stützpunkte, der Schwarzmeerhafen Sewastopol auf der Krim, NATO-Gebiet werden könnte. Der Versuch, die Ukraine in den westlichen Machtblock zu integrieren, musste zu einem schweren Konflikt mit Russland führen.
Ein gespaltenes Land
Russische und westliche Diplomaten und Russland-Experten hatten über Jahre hinweg immer wieder gewarnt, dass ein solcher Schritt das Land zerreissen würde. Denn die Ukraine war aufgrund ihrer Historie gespalten in einen prorussischen Osten und den prowestlichen Teil der ehemaligen Habsburger-Herrschaft.
Das Resultat der Präsidenten-Stichwahl im Jahr 2010 zeigt diese Spaltung. Im Osten und Südosten erzielte der eher Russland-freundliche Janukowitsch Mehrheiten – auf der Krim über 70 Prozent –, während die Herausforderin Timoschenko in der West- und Zentralukraine die Mehrheit der Wählenden hinter sich hatte.
«Im Zuge der Unruhen und aufgrund seiner Flucht abgesetzt»
Das ukrainische Parlament erklärte Janukowitsch am 22. Februar 2014 «im Zuge der Unruhen in Kiew aufgrund seiner Flucht für abgesetzt.» In dieser sprachlichen Verpackung wird der Sachverhalt heute auf Wikipedia dargestellt. Wollte man die Formulierung «im Zuge der Unruhen» ausdeutschen, so müsste es heissen: Das Parlament beschloss die Absetzung im Eilverfahren unter dem Druck der Strasse, wo bewaffnete rechtsextreme Gruppen die Kontrolle übernommen hatten und unbotmässige Parlamentarier verprügelten und am Betreten der Werchowna Rada hinderten.
In westlichen Medien sah man alles im grünen Bereich. Der zweifelhafte Regime Change wurde im Handumdrehen quasi als Normalbetrieb hingenommen. Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel bezeichnete Janukowitsch ohne viel Aufhebens als «geschassten Präsidenten». Die führenden deutschen TV-Sender wählten einträchtig die kreative Formulierung, Janukowitsch sei «vom Volk aus dem Amt gejagt worden.» Ein Sachverhalt, der in dieser Form wohl in keiner Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates zu finden ist, aber das Wording der NATO und ihrer Think Tanks wiedergibt.
Die Russen fühlten sich über den Tisch gezogen, hatte man sie doch kurz vorher noch um Vermittlung gebeten. Präsident Putin sagte im Jahr 2017 in einem längeren Interview mit dem amerikanischen Filmer Oliver Stone:
«Die drei Aussenminister der europäischen Länder fungierten als Bürgen für eine Vereinbarung zwischen der Opposition und Janukowitsch. Alle waren damit einverstanden, der Präsident stimmte sogar der Abhaltung vorgezogener Wahlen zu. Zu diesem Zeitpunkt sagte man uns auf Veranlassung der USA: Wir ersuchen Präsident Janukowitsch, auf den Einsatz der Streitkräfte zu verzichten. Dafür versprachen sie ihrerseits, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Opposition von öffentlichen Plätzen und Verwaltungsgebäuden fernzuhalten. Wir antworteten: In Ordnung, das ist ein guter Vorschlag, wir werden unser Bestes tun. Und wie Sie wissen, hat Präsident Janukowitsch nicht auf die Streitkräfte zurückgegriffen. Aber schon am nächsten Tag fand der Staatsstreich statt, mitten in der Nacht. Es gab kein Telefonat, man rief uns nicht an – wir mussten einfach zusehen, wie sie [die USA, Red.] die Verursacher des Staatsstreiches aktiv unterstützten (…) Wie können wir solchen Partnern trauen?»
Oliver Stone, The Putin Interviews, 2017
Die erste «orange Revolution»
Nach eigenen Angaben haben die USA während Jahrzehnten mit Milliarden Dollar in die Innenpolitik der Ukraine eingegriffen. Sie unterstützten 2004 die erste «orange Revolution», die Viktor Juschtschenko als Präsident und die Ölmagnatin Julia Timoschenko als Regierungschefin an die Macht brachte. Offiziell fördert Washington dabei stets «die Zivilgesellschaft und die Demokratisierung».
Was ab 2005 folgte, war das Gegenteil: eine von Machtkämpfen und Intrigen zerrissene Oligarchenherrschaft, welche die Ukraine nach Einschätzung von Transparency International zum korruptesten Land Europas machte. Juschtschenkos Ehefrau war US-Amerikanerin und hatte im State Department und im Finanzdepartment der USA gearbeitet. Ian Traynor, Auslandkorrespondent des The Guardian, schrieb damals, Washington habe Juschtschenkos Wahlkampagne «finanziert und organisiert». Seine Recherche sollte zeigen, dass die politische Einflussnahme von Institutionen wie die US-Entwicklungsagentur USAID und ihrer anverwandten NGOs von ex-Jugoslawien über Georgien bis zur Ukraine stets nach einem ähnlichen Schema erfolgte.
Von dieser Entwicklung fühlte sich Russland bedroht und stellte während drei Jahrzehnten unmissverständlich klar, dass es NATO-Stützpunkte in der Ukraine nicht hinnehmen werde.
Die zweite «orange Revolution»
2014 kam dann die zweite «orange Revolution». Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko führte Demonstrationen an und hielt aufwieglerische Reden. In dieser heissen Phase besuchte der US-Senator John McCain am 15. Dezember 2013 Klitschko und das Protestlager auf dem Maidan. McCain sprach zu den Demonstranten und ermunterte sie, die Regierung zu stürzen. Die US-Botschaft mit Botschafter Geoffrey Pyatt unterstützte die Demonstranten, um die demokratisch gewählte Regierung ins Wanken zu bringen. Pyatt war auch in direktem Kontakt mit Klitschko.
Der Verdacht, dass Washington hinter den Kulissen die Fäden gezogen hatte, war nicht von der Hand zu weisen. «Es war ein vom Westen gesponserter Putsch, es gibt kaum Zweifel daran», sagte der frühere CIA-Offizier Ray McGovern.
Die deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT titelte im Mai 2015 «Haben die Amis den Maidan gekauft?» Dass Geld aus Washington «direkt» zu den Demonstranten auf dem Maidan floss, sei nicht nachweisbar, hiess es im Artikel. Auch wurde betont, die Russen seien die eigentlichen Übeltäter: Sie unterhielten «ein gewaltiges Netzwerk im Dienst der russischen Sache», um die Politik im Westen zu untergraben. Quellen dafür nannte DIE ZEIT keine. Josef Joffe, ehemalige Chefredaktor und Herausgeber der ZEIT und eiserner Atlantiker und NATO-Verteidiger, dürfte mit dieser Darstellung zufrieden gewesen sein.
Zum genannten Titel stellte DIE ZEIT ein Foto von ukrainischen und amerikanischen Soldaten bei einer gemeinsamen Übung in der Nähe von Lwiw/Lemberg. Die Ukraine hatte seit ihrer Unabhängigkeit in den neunziger Jahren mit keinem Land eine so enge militärische Zusammenarbeit wie mit den USA. Eine NATO-Mitgliedschaft wurde von beiden Seiten angestrebt. Russland hingegen hatte drei Jahrzehnte lang unmissverständlich erklärt, dass es NATO-Stützpunkte in der Ukraine nicht hinnehmen werde.
Putin sagte am 12. Juni 2015 in einem Interview mit dem Corriere della Sera:
«Ich glaube, dass diese Krise willentlich geschaffen wurde … Falls Amerika und Europa zu jenen, die diese verfassungswidrigen Handlungen begangen haben, gesagt hätten: ‹Wenn ihr auf eine solche Weise an die Macht kommt, werden wir euch unter keinen Umständen unterstützen. Ihr müsst Wahlen abhalten und sie gewinnen›, dann hätte sich die Lage völlig anders entwickelt.»
Seit 2014 herrschte Krieg in der Ukraine
Ab 2014 tickte eine Zeitbombe. Denn Waffenstillstandsabkommen gab es nur auf dem Papier. In Wahrheit verging im Osten der Ukraine kein Tag ohne Kämpfe zwischen Separatisten und ukrainischen Einheiten, darunter das rechtsextreme Asow-Regiment. Alles sei aber halb so schlimm, befand DIE ZEIT noch 2015 im oben genannten Artikel. Der Ukraine stünden schliesslich nur «300 amerikanische Militärberater» zur Seite.
Militärberater, das klingt fast so harmlos wie Lebensberater. Man muss aber wissen, dass die USA – ein Land mit rund tausend Militärstützpunkten weltweit – ihre Special Forces, die jeweils irgendwo «under cover» Krieg führen, in offizieller Sprachregelung grundsätzlich als «military advisers» bezeichnen. In El Salvador z.B. leiteten rund 30 «military advisers» der USA in den achtziger Jahren den Counterinsurgency-Krieg gegen die linke FMLN-Guerrilla. Grundsätzlich gilt, dass die USA von dem Moment an, in dem auch nur ein einziger ihrer sogenannten Militärberater in der Ukraine aktiv wäre, Kriegspartei sind. Nach Auffassung von Experten hatten aber bereits 2015 weit mehr als tausend US-Soldaten «boots on the ground».
Washington hat die Ukraine seit dem Umsturz 2014 in zunehmend schnellerem Takt aufgerüstet. Vor dem russischen Angriff war offiziell von drei bis vier Milliarden Dollar die Rede. Zwei Monate vor dem Putsch erklärte die damalige Staatssekretärin im US-Aussenministerium Victoria Nuland: «Wir haben mehr als fünf Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen Wohlstand, Sicherheit und Demokratie zu garantieren.»
Bis Mitte November 2022 haben die USA mit 68 Milliarden Doller bereits das Dreizehnfache ausgegeben und den Kongress im Frühsommer erneut um weitere 37,7 Milliarden für Waffen und Finanzhilfe für die Ukraine ersucht.
Fast acht Jahre Krieg im Donbass
Am 14. April 2014 begann die sogenannte Anti-Terror-Operation. Kurz nach dem Sturz des russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch durch die EU-freundliche Maidan-Bewegung hatten sich Teile der traditionell Russland nahestehenden Regionen Donezk und Luhansk von Kiew losgesagt. Das ukrainische Militär sollte den Aufstand der prorussischen Separatisten schnell und entschieden niederschlagen. Doch diese bekamen Unterstützung aus Russland – Soldaten, Waffen, Militärtechnik.
Seither beschoss die ukrainische Seite die Separatistengebiete – auch Wohngebiete und zivile Einrichtungen – unaufhörlich mit Waffen, die aus den USA und Europa kamen. Bis zum Einmarsch der Russen im Februar 2022 kam es zu über 14’000 Toten – darunter wie fast in jedem Krieg auch Kinder und Frauen. Nach Angaben der Beobachtungsmission der OSZE kamen auf der separatistischen Seite mehr Zivilisten um als auf der Regierungsseite.
Über die Zerstörungen und Opfer im Donbass haben grosse Medien nur spärlich berichtet.
Eine rote Linie können nur die USA geltend machen
Strategie-Experten und sogar ehemalige Nato-Generäle und US-Botschafter haben vor einer Politik gewarnt, die mit schrankenloser Aufrüstung Öl ins Feuer giesst. Alternative Medien haben diese Stimmen in den letzten Monaten häufig zitiert, doch sie haben – wie der Journalist und Stern-Autor Arno Luik schrieb – «die Durchschlagskraft einer fallenden Daunenfeder. Denn kollektiv ist die Entsorgung der Nachdenklichkeit und gross die neue Lust auf schweres Militärgerät.»
Stephen F. Cohen, emeritierter Professor für Russische Studien an der Princeton und New York University, war einer der Russland-Kenner, die schon 2015 darauf hinwiesen, die Eskalation werde gefährlicher als es jemals in den Jahrzehnten des Kalten Krieges der Fall war, weil der Westen keine roten Linien des Feindes mehr anerkenne:
«Putin sagt: Ihr überschreitet unsere rote Linie. Washington kontert: Es gibt keine rote Linie. Nur wir haben rote Linien, ihr habt keine: Ihr könnt keine Militärstützpunkte in Kanada oder Mexiko haben. Wir aber können Stützpunkte an eueren Grenzen haben, soviel wir wollen.»
Rand Corporation: Mehr Nuklearwaffen in Europa und Asien in Stellung bringen
Die Rand Corporation im kalifornischen Santa Monica ist wohl die mächtigste Denkfabrik des US-Militärapparates. Laut Wikipedia erarbeitet sie «Strategien zur Destabilisierung Russlands und Überlegungen zum Krieg mit China». 2019 publizierte die Rand Corporation eine Studie mit dem Titel «Overextending and Unbalancing Russia». Dort werden alle Möglichkeiten aufgeführt, wie die USA Russland zum Kippen bringen können (unbalancing). Das geht von unbegrenzten Wirtschaftssanktionen über umfangreiche Waffenlieferungen («lethal aid») an die Ukraine bis hin zu den Möglichkeiten, «interne Proteste in Russland zu unterstützen», «das Vertrauen in das russische Wahlsystem zu erschüttern», «Russlands Bild in der Welt zu unterminieren» und vieles mehr. Auch die Möglichkeit, die russischen Gaslieferungen nach Europa zu reduzieren und durch vermehrten Export aus USA zu ersetzen, wird als strategisch wichtig angesehen.
Der grösste Teil der Studie ist militärischen Zielen gewidmet, darunter dem Ziel, die Ukraine «als grösste externe Verwundbarkeit Russlands zu nutzen.» Empfohlen werden Truppenaufstockung in Europa und vermehrt NATO-Manöver vor Russlands Grenzen. Empfohlen wird auch die Stationierung von zusätzlichen Raketensystemen und Nuklearwaffen in Asien und Europa. Allein dieser militärische Teil der Studie lässt sich nicht anders lesen als eine erschreckende und unverhohlene Ankündigung: Wir wissen, wie wir Russland zerstören können.
Es gibt keine halbwegs rationale Staatsführung auf dieser Welt, die ein solches Papier nicht als existentielle Bedrohung lesen würde. Die Strategie-Empfehlungen der Rand Corporation waren 2019 keine Kriegserklärung, aber ein Meilenstein auf dem Weg in den Krieg.
Russlands Vorschläge wurden pauschal abgelehnt
Noch im Dezember 2021 hatte Russland konkrete und ultimative Vorschläge an USA und NATO geschickt und für gegenseitige Sicherheitsgarantien und eine Entschärfung der Lage geworben. Das Ersuchen blieb ohne Antwort. Der in New York ansässige Nachrichtensender MSNBC titelte nach dem russischen Einmarsch: «Die Invasion der Ukraine wäre vermeidbar gewesen.» MSNBC zitiert George Beebe, den ehemaligen Direktor der CIA-Russland-Abteilung:
«Die Wahl, vor der wir in der Ukraine standen – und ich benutze absichtlich die Vergangenheitsform – war, ob Russland sein Veto zu einer NATO-Beteiligung der Ukraine am Verhandlungstisch oder auf dem Schlachtfeld ausüben würde. Und wir haben uns entschieden, dafür zu sorgen, dass das Veto auf dem Schlachtfeld ausgeübt wird, in der Hoffnung, dass Putin sich entweder zurückhält oder der Militäreinsatz scheitert.»
Gescheitert ist in erster Linie das Pokerspiel, das den russischen Angriffskrieg hervorgebracht hat. Ein neues Pokerspiel ist im Gang, das sogar eine nukleare Eskalation in Kauf nimmt: Erklärtes Ziel der USA und der NATO ist es, dank einem andauernden Krieg, der zum Sieg der Ukraine führt, Russland so zu schwächen, dass es nicht mehr in der Lage ist, ein Nachbarland anzugreifen.
Die NATO in der Ukraine
Red. Richard Miller, emeritierter Professor für Ethik und öffentliches Leben an der Cornell University und Autor des Buchs über die US-Aussenpolitik «Globalizing Justice: The Ethics of Poverty and Power», weist darauf hin, dass die USA schon Jahre vor 2014 in der Ukraine aktiv waren (wörtliche Wiedergabe):
Präsenz der NATO schon vor 2014
Die Bemühungen der USA, die ukrainische Politik zu beeinflussen, ändert nichts an Putins moralischer Verantwortung für das Blutbad, das er anrichtet. Aber das Wissen um die Geschichte kann zeigen, wie wir darauf reagieren sollten.
Im Jahr 2008 telegrafierte William Burns, der damalige US-Botschafter in Russland und heutige CIA-Direktor, aus Moskau: «Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) der schärfste aller roten Fäden … Ich habe noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für russische Interessen.»
Wie aus Burns› Telegramm hervorgeht, ist die Ukraine für Russland von besonderer geopolitischer Bedeutung. Sie ist nach Russland das zweitgrösste Land in Europa, beherrscht die Nordgrenze des Schwarzen Meeres und hat eine 1’227 Meilen lange Landgrenze zu Russland. Dennoch erklärte die NATO unter Führung der USA am Ende des NATO-Gipfels in Bukarest 2008, als die Erweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands praktisch abgeschlossen war, ihre Zustimmung zu deren Vollendung: «Wir sind heute übereingekommen, dass diese beiden Länder [die Ukraine und Georgien] Mitglieder der NATO werden.»
Im Jahr 2011 hiess es in einem NATO-Bericht: «Das Bündnis unterstützt die Ukraine … bei der Vorbereitung von Überprüfungen der Verteidigungspolitik und anderen Dokumenten, bei der Ausbildung des Personals, … bei der Modernisierung der Streitkräfte und der Verbesserung ihrer Interoperabilität und ihrer Fähigkeit zur Teilnahme an internationalen Missionen› – eine internationale Zusammenarbeit, die bereits eine gemeinsame Marineübung mit den USA im Schwarzen Meer umfasste.»
Nach 2014 verstärkte die Nato ihre Präsenz in der Ukraine
Die Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 wurden von Vertretern der Ukraine, Russlands und der separatistischen Regionen unterzeichnet. Sie zielten auf eine mit der Souveränität der Ukraine vereinbarte Autonomie der östlichen Regionen und die ukrainische Neutralität ab, mit internationalen Garantien, einschliesslich des ‹Abzugs aller ausländischen bewaffneten Formationen … [und] militärischer Ausrüstung aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine› und der ständigen Überwachung der ukrainisch-russischen Grenze.
Die Antwort der NATO war eine ganz andere: eine umfassende Ausweitung der gemeinsamen militärischen Aktivitäten in der Ukraine, darunter die Operation Fearless Guardian im Jahr 2015, bei der die 173. Luftlandedivision sechs Monate lang drei ukrainische Brigaden ausbildete.
Auf dem Brüsseler NATO-Gipfel im Juni 2021 hiess es:
«Wir bekräftigen den auf dem Bukarester Gipfel 2008 gefassten Beschluss, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird …. Wir begrüssen die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine im Hinblick auf die Sicherheit in der Schwarzmeerregion. Der im letzten Jahr verliehene Status eines Partners mit verbesserten Möglichkeiten gibt unserer bereits ehrgeizigen Zusammenarbeit weiteren Auftrieb … mit der Option auf weitere gemeinsame Übungen …. Die militärische chebZusammenarbeit und die Initiativen zum Aufbau von Kapazitäten zwischen den Bündnispartnern und der Ukraine, einschliesslich der Litauisch-Polnisch-Ukrainischen Brigade, verstärken diese Bemühungen weiter. Wir schätzen die bedeutenden Beiträge der Ukraine zu den Operationen der Verbündeten, der NATO-Reaktionskräfte und den NATO-Übungen sehr.»
Am 24. Februar 2022 kündigte er seine schreckliche Invasion an und prangerte ‹die Osterweiterung der NATO an, die ihre militärische Infrastruktur immer näher an die russische Grenze heranrückt›.
Diese Vorgeschichte liefert Belege für eine mögliche entscheidende Motivation von Putins Aggression: Der wichtige Anstoss war der Wunsch, sich gegen die Ausweitung des aktiven militärischen Engagements der NATO über Burns› ‹rote Linie› hinweg zu wehren.
(Ende der wörtlichen Wiedergabe)
FUSSNOTEN
1) «I think we’re in play. The Klitschko piece is obviously the complicated electron here. Especially the announcement of him as deputy prime minister and you’ve seen some of my notes on the troubles in the marriage right now so we’re trying to get a read really fast on where he is on this stuff. But I think your argument to him, which you’ll need to make. I think that’s the next phone call you want to set up, is exactly the one you made to Yats. And I’m glad you sort of put him on the spot on where he fits in this scenario.»
2) «I think Yats is the guy who’s got the economic experience, the governing experience.»
Quelle: Schweizerische Friedensbewegung