23. November 2024

Neuer G20-Prozess in Hamburg: Angriff auf Versammlungsfreiheit

Übernommen von Yeni Hayat – Neues Leben:

von Ayda Kamen

Am 18. Januar starteten am Hamburger Landgericht erneut Prozesse gegen sechs angeklagte Demonstrierende, darunter Mitglieder eines damaligen Bonner Jugendvorstands der

Gewerkschaft ver.di aus NRW und eine Vertrauensfrau der IG-Metall. Bis August 2024 sind 25 Prozesstage angesetzt worden. Viermal monatlich sollen die Angeklagten aus dem ganzen Bundesgebiet anreisen. Das Demonstrationsrecht ist bedroht.

Vorgeworfen werden ihnen keine individuell begangenen Straftaten, sondern die bloße Anwesenheit bei einer G20-kritischen Demonstration am 7. Juli 2017 in Hamburg, die in der Straße „Rondenbarg“ von einer Sondereinheit der Polizei eingekesselt und äußerst brutal aufgelöst wurde.

Worum geht es?

Mehr als 100.000 Menschen hatten damals gegen das Treffen von Trump, Erdogan, Putin und andere G20-Staatschefs demonstriert. Die Gewerkschaftsjugenden und viele andere Organisationen hatten 2017 mit „Jugend gegen G20“ und „BlockG20“ zu Blockaden der Zufahrtswege und zivilem Ungehorsam in Hamburg aufgerufen, nicht ohne Erfolg. Am „Rondenbarg“ war allerdings eine Demonstration noch vor Erreichen der Innenstadt von beiden Seiten überrannt worden, mit Wasserwerfern, Fäusten und Schlagstöcken. 14 Demonstrierende wurden ins Krankenhaus gebracht, elf davon schwerverletzt. Kein Polizeibeamter kam zu Schaden. Die Betroffenen berichten von Platzwunden, offenen Knochenbrüchen und einem angebrochenen Halswirbel.

In ihrer Anklage stützt sich die Staatsanwaltschaft nun erneut auf ein juristisches Konstrukt aus einem BGH-Urteil gegen Fußball-Hooligans, das erstmals auf Demonstrationen angewendet werden soll. Die bloße Anwesenheit soll ausreichen, um Demonstrierende als „Mittäter“ zu brandmarken und mit mehrjähriger Haft zu bestrafen. Der BGH selbst schließt genau diese Übertragung auf Demonstrationen in seinem Urteil ausdrücklich aus, weshalb die bloße Eröffnung des Verfahrens durch das Hamburger OLG, fast sieben Jahre nach dem Gipfel, bereits einen Angriff auf das Demonstrationsrecht darstellt.

Der Verfolgungseifer der Hamburgischen Staatsanwaltschaft war nach dem G20-Gipfel groß: Im Jahr 2017 war im gleichen „Rondenbarg“-Verfahren der minderjährige italienische Azubi Fabio V. angeklagt und musste sogar fast fünf Monate in Untersuchungshaft verbringen. Amnesty International kritisierte damals bereits die Hamburger Justiz und Staatsanwaltschaft, und das Verfahren wurde schließlich ohne Schuldfeststellungen nach einem Paragrafen eingestellt, der angewendet wird, „wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht“. Im Jahr 2020 wurde ein weiteres Verfahren gegen fünf Jugendliche begonnen, kurz nach Beginn aber wegen der Corona-Pandemie abgebrochen.

Am ersten Prozesstag ließ die Richterin Sonja Boddin allerdings die Staatsanwaltschaft mit diesem offen antidemokratischen Vorgehen abblitzen und signalisierte vielmehr, verbunden mit warmen Worten zu den einschneidenden bereits erlittenen Repressionen, dass eine Einstellung der Verfahren naheliege – allerdings gegen die Zahlung einer Strafe.

Bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz sprachen am Morgen des Prozessauftakts am 18. Januar vor dem Hamburger Landgericht Sprecher der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft, Gabriele Heinecke, Verteidigerin von Fabio V. und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV, sowie Verteidiger im aktuellen Prozess, und Christoph Kleine für BlockG20.

Breite Solidarität

In der Woche zuvor hatten prominente gewerkschaftliche Stimmen wie der Hamburger Landesbezirksvorstandsvorsitzende der ver.di, Olaf Harms, und Rolf Gössner, Jurist und Publizist von der Internationalen Liga für Menschenrechte und ver.di-Mitglied, sowie Rolf Becker, ebenfalls verdianer, zur Solidarität und Prozessbegleitung aufgerufen, mehr als 100 Menschen waren am 18. Januar ihrem Aufruf vor das Gericht und in den Saal gefolgt.

Dem Aufruf der Initiative „Grundrechte Verteidigen!“, der auch von Amnesty International Deutschland verbreitet wurde, schlossen sich seit dem 18.01. weitere hunderte Menschen an, darunter Mitglieder des Europaparlaments, Gewerkschaftssekretär:innen, Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft, Anwält:innen, Kulturschaffende und Theolog:innen. Er kann online unter www.grundrechteverteiden.de unterzeichnet werden und ruft auch dazu auf, jeden Prozesstag mit morgendlichen Kundgebungen vor dem Hamburger Landgericht am Sievikingplatz zu begleiten. Die nächsten Termine sind der 8. und 9. Februar ab 8 Uhr.

„Mehr als sechs Jahre nach dem G20-Gipfel ist der nun beginnende Prozess der dritte Versuch, alle am Rondenbarg Eingekesselten und von der Polizeigewalt Betroffenen in Umkehr der Tatsachen als die Angreifenden zu definieren und kollektiv zu bestrafen. Sollte sich dieser Ansatz der Staatsanwaltschaft durchsetzen, wäre es ein Risiko, gemeinsam für eine Sache auf die Straße zu gehen. Das kann dazu führen, dass Menschen aus Angst auf die Ausübung ihrer Grundrechte verzichten. Dann hieße es nämlich in Zukunft: ‚Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen!’“, so Gabriele Heinecke, Strafverteidigerin von Fabio V. und Mitglied im Republikanischen Anwaltsverein.

Die für die Gewalt am „Rondenbarg“ maßgebliche Polizeieinheit „BFE Blumberg“ aus Brandenburg ist für ihre Brutalität bundesweit bekannt. 2016 bereits berichtete die taz: „Berüchtigte deutsche Polizeieinheit: Schwerverletzte pflastern ihren Weg. Die Polizeisondereinheit „Blumberg“ ist für brutale Übergriffe berüchtigt. Bundesländer, die sie riefen, müssen sich vor Gericht verantworten“.

Die Strategie der Polizei

Am ersten Verhandlungstag wurde zudem bekannt, dass der ungeheuerliche Verdacht nicht ausgeschlossen ist, dass polizeiliche Provokateure aus der Demonstration heraus Steine geworfen haben oder in anderer Art und Weise, beispielsweise durch die Platzierung falscher „Beweise“, an der Vorbereitung der Strafverfolgung beteiligt gewesen sein könnten. Mitglieder derselben Polizeieinheit Blumberg hätten dieses Verständnis von ihrer „Polizeiarbeit“ sogar öffentlich zu Schau gestellt, so der Anwalt eines der Angeklagten. Er schilderte, wie bei einer Art „Tag der offenen Tür“ in der Polizeikaserne, Blumberg-Polizisten mit „ziviler Tarnkleidung“ und vermummt, das Werfen von Steinen oder Pyrotechnik vorführten.

Der Bürgerrechtler Rolf Gössner (Bremen) forderte angesichts des Verfahrens in der Presseerklärung des Bündnisses „eine unabhängige Untersuchung und Aufarbeitung der Polizeistrategie und -maßnahmen während des G20-Gipfels in Hamburg. Denn es gab zahlreiche Vorwürfe schwerwiegenden Fehlverhaltens sowie überzogener und willkürlicher Polizeigewalt. Doch die strafrechtliche ‚Aufarbeitung‘ solcher Polizeigewalt ist letztlich fehlgeschlagen: Fast alle der über 160 Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt sind eingestellt worden – kein einziger der beteiligten Polizisten musste bislang vor Gericht. Deshalb braucht es endlich eine unabhängige und transparente Untersuchung der G20-Geschehnisse, was ohne starken zivilgesellschaftlichen Druck kaum zu erreichen sein wird.“

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben

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