Erneut Polizeigewalt in Berlin. Warum nimmt die Polizeigewalt zu?
Übernommen von Yeni Hayat – Neues Leben:
Dilan Baran
Am 2. Sonntag im Januar findet jedes Jahr die traditionelle Demonstration im Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin statt. Auch dieses Jahr haben an der LL-Demonstration tausende Menschen teilgenommen. Doch wurde die Demonstration von einem gewaltsamen Polizeieinsatz und dem aggressiven Auftreten der Beamten überschattet. Wir haben mit Ferat Koçak, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus für DIE LINKE, der vor Ort war, über diese und weitere Fälle von Polizeigewalt und ihren Ursachen gesprochen.*
Du warst als parlamentarischer Beobachter an Ort und Stelle, als es zum gewalttätigen Einsatz der Polizei kam. Was hast du beobachtet?
Ich war vor Ort und habe dann mitbekommen, dass im palästinensischen Block jemand festgenommen wurde und der ganze Block stehen blieb, um die Person zu befreien. Die Polizei erklärte mir, dass die Person aufgrund von Äußerungen, die für die Polizei eine Straftat darstellen würden, festgenommen und bereits weggebracht worden sei. Die Verantwortlichen des Blocks wollten aber noch bleiben und die verhaftete Person nicht alleine lassen. Die Polizei machte eine Durchsage, dass die Person jetzt weg sei und die Demoleitung diese Person von der Demonstration ausgeschlossen habe. Es hat sich dann nach ca. 15 Minuten herausgestellt, dass das gar nicht stimmte. Es ist niemand von dieser Demonstration ausgeschlossen worden. Aber das hat dazu geführt, dass der Demozug so lange nicht weitergelaufen ist. In der Zwischenzeit kam dann der vordere Teil des Demonstrationszuges zurück. Die Polizei war quasi von beiden Seiten eingekesselt und stand zwischen zwei Demonstrationsgruppen. Die Polizei beschloss sich dann brutal den Weg freizuschlagen und ging ohne Grund auf die Demonstranten los. Von den Demonstranten ging bis dahin keine Gewalt aus. Die Polizei schlug sogar meinem Augenschein nach mit Quarzsandhandschuhen auf die Leute ein. Es gab mehrere Verletzte. Ein ca. 65-jähriger Mann ist umgefallen und hat aus dem Auge geblutet. Die Sanitäter sagten mir, dass Gehirnflüssigkeit aus seinem Ohr floss. Er hat aus dem Mund geblutet, hatte eine Platzwunde und war auch eine Weile weggetreten. Die Polizei hat sogar verhindert, dass ein Krankenwagen nahe genug heranfahren konnte, um dieser Person zu helfen. Ich würde sogar sagen, die Polizei hatte die ganze Situation überhaupt nicht im Griff und hat dann einfach mit Gewalt reagiert. Als sich die Demonstranten wehrten, gab es die ganzen Verhaftungen.
In der Darstellung von Politik und Medien ging die Gewalt von der Demo aus. Was sagst du dazu?
Im Innenausschuss stellte die AfD die Frage, was da passiert sei. Die Innensenatorin und Polizeipräsidentin erzählten, wie die Polizei angegriffen wurde und die Demonstranten aggressiv waren. Ich durfte dazu nicht antworten aber ich wurde massiv angegriffen. Ich würde den Staat verunglimpfen und die Polizei angreifen. Bei einem anderen Redebeitrag habe ich aber nochmal erwähnt, dass ich nicht der einzige parlamentarische Beobachter vor Ort war. Es waren noch mehr Abgeordnete anwesend und die haben alle genau das selbe beobachtet wie ich. Unsere Aussagen stehen gegen die Aussagen der Polizei. Uns wird natürlich nicht geglaubt, weil wir Linke sind, aber wir müssen dagegen halten und Beweise sammeln. Wir wissen aus anderen Vorfällen: wenn man die Polizei anzeigt, dann gibt es erst einmal auch eine Gegenanzeige und 5-6 Kollegen, die die Aussage stützen. Ich werde nicht jede Situation im Einzelnen beobachtet haben, aber ich habe den Ausbruch der Gewalt durch die Polizei gesehen. Die Gewalt ging von der Polizei aus und die Videos beweisen das. Ich konnte wirklich nicht fassen, wie die Situation da gerade eskaliert war. Natürlich haben sich dann auch einige Demonstranten gewehrt und mit ihren Fahnenstöcken geschützt. Türkische, kurdische, lateinamerikanische und deutsche linke Genossen bildeten dann eine Mauer und konnten so die Polizei im Prinzip zurückdrängen. Das war der Moment, der die Eskalation dann auch beendet hat. Weiter hinten ging es allerdings weiter. Da wurden Leute blutig geschlagen und festgenommen. Da so was nicht das erste Mal passiert, kann ich mir auch vorstellen, dass man mit so einem Vorgehen linken Protest dämonisieren möchte.
Sind Polizeistrukturen undemokratisch?
Ja, es gibt z.B. keine Strukturen, die Polizisten für ihre Straftaten anzuzeigen und zur Rechenschaft zu ziehen. Dahingehend muss sich hier etwas ändern. Im Gegenteil wird die Polizei immer weiter aufgerüstet und mit mehr Rechten ausgestattet. Wo könnten wir diese Investitionen in andere Bereiche verlegen, die dann der Verantwortung der Polizei entzogen werden? Im Innenausschuss sprach die Berliner Innensenatorin ständig von Sicherheit und meint dabei die Stärkung der Polizei, dabei müssten wir z.B. viel mehr über soziale Sicherheit sprechen. Und wir brauchen Stellen, die wiederum Straftaten bearbeiten, die die Polizisten selber begehen. In Berlin haben wir eine Beschwerdestelle, aber diese funktioniert nicht, wie sie sollte.
Rassismus in Polizeistrukturen sind keine Seltenheit, aber auch Gewalt gegen Obdachlose usw. Polizeimorde haben auch in letzter Zeit zugenommen, zuletzt 2 Tote in Mannheim und Mülheim an der Ruhr. Warum?
Es ist an erster Stelle eine sozialpolitische Entwicklung. Das System springt von Krise zu Krise . Die Gewalt lenkt ein Stück weit von den Krisen ab. Soziale Kürzungen der Ampel auf der einen Seite und Aufrüstung von Polizei und Militär auf der anderen Seite gehen Hand in Hand. Zudem kommt das Erstarken der AfD, die nationalistische und rassistische Tendenzen verstärkt. Wenn Lindner Geflüchtete und Bürgergeldempfänger gegen protestierende Bauern ausspielt und die Politik der AfD umsetzt, um Stimmen zu fangen, setzt er auf einen starken Law-and-Order-Staat. Dieses versprochene Machtgefühl setzen die Beamten dann auf der Strasse um. Dieser gesellschaftliche Rechtsruck führt dazu, dass wir immer tiefer in ein Law-and-Order-Staat umswitchen. Über die Polizei wird bewusst Politik betrieben: Razzien in Shisha-Bars, um „Clankriminalität zu bekämpfen“, stigmatisieren ganze Bevölkerungsgruppen, Diskussionen um die Silvesternacht machen Migranten verantwortlich für Gewalt, Schwimmbad-Einsätze der Polizei verbreiten die Stimmung, dass man die Polizei stärken müsse, mehr Geld in die Polizei investieren müsse. Auf der anderen Seite setzt die Polizei die Gentrifizierung der Städte und Stadtteile gewaltsam durch. Aber es muss genau andersrum gehen. Man muss mehr in Bildung, in Schulen und Kindergärten, in Sozialarbeit und Jugendzentren oder in Gesundheit investieren, man muss Arbeit schaffen, von der man auch leben kann und die politischen Bedingungen ändern für Menschen, damit niemand Drogen verkaufen muss, weil man sonst keine Perspektive hat. Aus der Sicht des Kapitals macht es sicherlich Sinn, mit Polizeigewalt die wirtschaftlichen Interessen der Grossunternehmen durchzusetzen und Profite zu schaffen, als Menschen zu helfen.
*Das Interview haben wir im Videoformat geführt und für die Zeitung gekürzt. Das vollständige Interview ist auf dem Youtube-Kanal von Yeni Hayat / Neues Leben zu finden.
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben