Erbitterte Rivalität und doch dasselbe Ziel
Unser Autor Conny Renkl referierte im Rahmen der Jahresauftaktveranstaltung der DKP Baden-Württemberg in Stuttgart am 6. Januar 2024 zur Einschätzung des deutschen Imperialismus. Wir dokumentieren einen redaktionell geringfügig bearbeiteten Auszug aus dem Referat zur Frage der Kapitalfraktionen. Das Referat wird in voller Länge in der kommenden Ausgabe der „Kommunistischen Arbeiterzeitung“ (KAZ) erscheinen.
Halten wir zur Ausgangssituation des deutschen Imperialismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fest: Deutschland war bei der Aufteilung der Welt, vor allem bei den Kolonien und damit bei den Rohstoffquellen und Einflusssphären, zu spät und zu kurz gekommen, hatte aber ökonomisch seine imperialistischen Großkonkurrenten in Europa – Britannien und Frankreich – deutlich überholt.
In diesem Sinn steuerten die maßgeblichen Kräfte des deutschen Finanzkapitals auf den Ersten Weltkrieg zu: Deutsche Bank, Siemens, Krupp, BASF, um nur einige Konzerne von damals zu nennen, die auch heute noch von Bedeutung sind.
Hören wir eine treffende Zusammenfassung des weiteren Wegs:
„Nach dem Ersten Weltkrieg war man auch der Ansicht, dass Deutschland endgültig außer Gefecht gesetzt sei, (…) genauso wie manche jetzt denken, dass Japan und Deutschland endgültig außer Gefecht gesetzt seien. Damals wurde auch geredet und in der Presse laut verkündet, die Vereinigten Staaten von Amerika hätten Europa auf feste Ration gesetzt, Deutschland könne nicht mehr auf die Beine kommen, von nun an könne es keine Kriege zwischen kapitalistischen Ländern mehr geben. Aber Deutschland kam wieder hoch und stand kaum 15 bis 20 Jahre nach seiner Niederlage wieder als Großmacht da; es hatte sein Joch abgeschüttelt und einen selbständigen Entwicklungsweg betreten. Dabei ist es charakteristisch, dass es niemand anderes als England und die Vereinigten Staaten von Amerika waren, die Deutschland halfen, sich ökonomisch wiederaufzurichten und sein kriegswirtschaftliches Potenzial zu heben. Natürlich halfen die USA und England Deutschland, sich ökonomisch wiederaufzurichten, weil sie dabei die Absicht hatten, das wieder hochgekommene Deutschland gegen die Sowjetunion vorzuschicken, es gegen das Land des Sozialismus auszunutzen. Aber Deutschland richtete seine Kräfte in erster Linie gegen den englisch-französisch-amerikanischen Block.
Und als Hitlerdeutschland der Sowjetunion den Krieg erklärte, schloss sich der englisch-französisch-amerikanische Block nicht nur Hitlerdeutschland nicht an, sondern war im Gegenteil genötigt, mit der UdSSR eine Koalition gegen Hitlerdeutschland einzugehen.
Folglich erwies sich der Kampf der kapitalistischen Länder um die Märkte und der Wunsch, ihre Konkurrenten zu ersäufen, praktisch als stärker denn die Gegensätze zwischen dem Lager des Kapitalismus und dem Lager des Sozialismus.
Es fragt sich, welche Garantie dafür besteht, dass Deutschland und Japan nicht wieder hochkommen, dass sie nicht versuchen werden, das amerikanische Joch abzuschütteln und ein selbstständiges Leben zu beginnen? Ich denke, solche Garantien gibt es nicht.“
Diese solide Analyse und Prognose aus dem Jahr 1951 stammt von Josef Stalin.
Der prognostizierte Wiederaufstieg des in der BRD versammelten deutschen Monopolkapitals ist eingetreten. Als Bollwerk gegen die DDR und das sozialistische Lager, protegiert vom US-Imperialismus, schrittweise in Kollaboration und Rivalität mit Frankreich die ökonomische Vorherrschaft in Westeuropa erobern, mit der „neuen Ostpolitik“ die sozialistischen Staaten unterwandern, schließlich die Konterrevolution in Polen und in der DDR anschüren. Mit der Einverleibung der DDR die Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam liquidieren und mit der territorialen Neuaufteilung der Welt wieder beginnen.
Seitdem aber hat der deutsche Imperialismus Tempo verloren, während das US-Monopolkapital in Teilen den Schock der Finanzkrise 2008 überwunden hat. Auf den Feldern, auf denen das deutsche Monopolkapital aufschließen muss, um auf „Augenhöhe“ mit dem US-Imperialismus zu kommen, sind US-Konzerne erstarkt und zum Teil davongezogen – vor allem bei der Digitalisierung, die auch für die militärische Rüstung und für die Beherrschung der Kommunikationskanäle sowie für die Lenkung der Ströme von Waren, Geld und Kapital entscheidend ist. Beim zweiten Faktor zur Gewinnung einer größeren Eigenständigkeit – bei der „Dekarbonisierung“, die ermöglichen soll, unabhängiger vom anglo-amerikanisch dominierten Ölkartell zu werden – ist noch nicht erkennbar, wohin die Reise auf dem Energiesektor insgesamt geht.
Die Aufstellung des deutschen Imperialismus
In der Geschichte des deutschen Imperialismus sind zwei Fraktionen im deutschen Monopolkapital zu identifizieren: die alldeutsch-europäische Fraktion und die amerikanisch-transatlantische Fraktion, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg herauszubilden begannen. Beide Monopolfraktionen eint das Gesamtinteresse des deutschen Imperialismus – die Erhaltung und Stärkung seiner Herrschaft. Denn diese Macht soll den Zugriff auf Absatzmärkte, Rohstoffquellen, die Sicherheit der „Lieferketten“ und den damit verbundenen Maximalprofit sichern. Was die Fraktionen unterscheidet, sind die Wege dorthin und die Taktiken dazu. Dabei geht es unter anderem um die Frage: Wann und wie lange muss man sich der stärksten imperialistischen Macht – heute dem US-Imperialismus – unterordnen, wann und wie kann man aus der Deckung gehen und mit wem kann man sich dabei verbünden?
Kurt Gossweiler hat zum Zusammenspiel der Fraktionen in der Weimarer Zeit sehr erhellend und unseren Blick auf die heutigen Entwicklungen schärfend ausgeführt, „dass die gleichzeitige Praktizierung der Erfüllungspolitik (so wurde damals die Politik genannt, die die Bestimmungen des Versailler Vertrags zu ‚erfüllen‘ suchte – im Gegensatz zur ‚Katastrophenpolitik‘, die durch Nichterfüllung des Vertrags zum Beispiel die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich 1923 provozierte mit auch für das Kapital unübersehbaren Folgen wie galoppierende Inflation, revolutionärer Widerstand und so weiter – C. R.) durch die Regierung und der Kampf der ‚Wirtschaft‘ gegen die Erfüllungspolitik zwei zusammengehörige Seiten der Politik des deutschen Imperialismus waren und dass beide, Erfüllungspolitik und Katastrophenpolitik, nicht nur jeweils bestimmten Gruppeninteressen, sondern in ihrer Kombination auch dem Gesamtinteresse der deutschen Monopolbourgeoisie dienten. Beide waren nicht sich ausschließende Gegensätze, sondern ergänzten einander und waren geeignet, sich gegenseitig in ihrer Wirksamkeit zu steigern: die ‚Erfüllungsbereitschaft‘ der deutschen Regierungen musste in den Augen der Ententemächte umso mehr an Wert gewinnen, je heftiger und erbitterter sie in Deutschland von den Katastrophenpolitikern bekämpft wurde. (…) Natürlich heißt das nicht, dass Erfüllungs- und Katastrophenpolitiker ein Spiel gespielt hätten, in dem die Rollen im Voraus verteilt waren – die Morde an Erzberger und Rathenau sprechen mit aller Eindeutigkeit gegen eine solche Auffassung. Wenngleich häufig genug auch bewusste, vereinbarte Arbeitsteilung im Spiel war, so wurde das ‚Stück‘ als Ganzes doch improvisiert, wobei jeder der Akteure sich einerseits von seinen eigenen Interessen, andererseits von den jeweiligen Umständen leiten ließ. Wenn zum Schluss ein Drama herauskam, von dem man sagen kann, dass die beiden Hauptgegner trotz aller erbitterten Rivalitätskämpfe im Grunde doch auf dasselbe Ziel hinarbeiteten, dann deshalb, weil die Wahrung des imperialistischen Gesamtinteresses, das heißt die Erhaltung und Stärkung der Herrschaft des deutschen Imperialismus (Hervorhebung von mir – C. R.) für beide oberstes Gebot war und weil die Wege und Mittel dafür letzten Endes nicht durch subjektive Wünsche und Absichten, sondern durch objektive Gegebenheiten fixiert wurden.“
Mit Gossweilers geschultem Blick in die Vergangenheit wird erkennbar, was sich heutzutage vor unseren Augen abspielt:
Die scheinbare Unterwürfigkeit unter den US-Imperialismus in der Politik gegen die Russische Föderation und die Unterstützung des Selenski-Regimes in der Ukraine – das ist ganz „Erfüllungspolitik“ angesichts gesprengter Nord-Stream-Pipelines, ein Gewaltakt, dem man seitens des deutschen Imperialismus derzeit militärisch noch nichts entgegenzusetzen hat. Es ist die Unterwerfungsgeste gegenüber dem anglo-amerikanischen Ölkartell, dem man mit Russlands Öl- und Gaslieferungen entkommen wollte. Angesichts schleppender „Dekarbonisierung“ wird scheinbar untertänig Fracking-Gas in den USA eingekauft – hochpreisig und dreckig.
Diese Erfüllungspolitik wird offiziell von einem breiten Konsens getragen. Der BDI und die DGB-Führung sind voller geradezu aufdringlicher Solidarität mit der Ukraine. Den Sanktionen gegen Russland wird offiziell zugestimmt, aber wo immer es geht werden sie von relevanten Konzernen umgangen und unterlaufen. Das gilt übrigens auch gegenüber China. Auf der offenen Bühne des „Handelsblatts“ werden die Verluste beklagt, die durch verteuerte Energie und die Sanktionen entstehen. Diese Proteste und auch die damit sich profilierende AfD vergrößern allerdings den Spielraum gegenüber dem US-Imperialismus. Man droht mit der faschistischen Gefahr, um Zugeständnisse zu erlangen. Und stärkt damit – ganz nebenbei – die faschistischen Kräfte. Sie werden ja vom deutschen Imperialismus gebraucht, wenn es gilt, das widerspenstige Volk in den wieder möglich werdenden Krieg und zur Schlachtbank zu treiben.
Vasallenstaat?
Die derzeit noch zur Schau getragene Unterwürfigkeit gegenüber dem US-Imperialismus ist allerdings etwas ganz anderes als Vasallentum. Man geht vielmehr sozusagen vorübergehend in Deckung, um die nächsten Schritte beim dritten Anlauf zur Weltmacht auszuloten.
Zum Thema gibt Gossweiler noch folgenden Hinweis: „Gegenüber Frankreich und Deutschland befand sich das USA-Finanzkapital in einer ähnlichen Position wie eine Großbank, die an zwei miteinander heftig konkurrierenden Industriemonopolen in gleicher Weise beteiligt und interessiert ist. Das USA-Finanzkapital verhielt sich daher auch ebenso wie eine solche Bank. Um im Bilde zu bleiben: Weil die Fortdauer des Kampfes der beiden die Profite der Bank nur schmälern kann, wird sie auf Fusion oder wenigstens auf Beilegung des Kampfes durch entsprechende Vereinbarungen drängen. Sollten sich aber die Industriemonopole gegenüber dem Herrschaftsanspruch der Bank störrisch erweisen oder sich gar gegen die Bank verständigen wollen, dann ist diese umgekehrt daran interessiert, den Konkurrenzkampf der beiden anzuheizen und dafür zu sorgen, dass sie sich so lange bekämpfen, bis ihre Kräfte und Mittel erschöpft sind und beide, um Kredite zu erhalten, auf alle Bedingungen der Bank eingehen müssen.“
Dies stellt die Sache doch klarer dar gegenüber den eindimensionalen Unterordnungsbehauptungen, wie wir sie bei ansonsten verdienstvollen Autoren wie Werner Rügemer und anderen finden. Schließlich ist auch das Finanzkapital der USA keine homogene und kompakte Formation, sondern in zum Teil heftige Konkurrenzkämpfe untereinander verstrickt, nicht zuletzt unter den Private-Equity- und sonstigen Heuschrecken. Rivalisieren und Kollaborieren charakterisiert das Verhältnis des deutschen zum US-Imperialismus in richtiger Weise.
Der US-Imperialismus steht dabei vor der Aufgabe, dem deutschen Konkurrenten die Federn zu stutzen, ohne ihn zu sehr zu schwächen – denn ohne dessen Unterstützung kann der US-Imperialismus den Kampf gegen die mit der Russischen Föderation verbündete chinesische Volksrepublik nicht gewinnen. Die Instrumente zum Federnstutzen werden vor allem seit 2014 gezeigt: Ukraine, Iran-Sanktionen, Maßnahmen des Handelskriegs gegen die EU ab 2017 und schließlich zur Durchsetzung der Interessen des anglo-amerikanisch dominierten Ölkartells die Sanktionen gegen russisches Öl und Gas bis zur Sprengung von Nord Stream 2.
Deutschland soll sich gegen Russland stellen und als selbstständigen Machtfaktor ausschalten – dabei soll es sich die Hörner abstoßen beziehungsweise ausbluten. Dann – mit zerschlagenem Russland und geschwächtem Deutschland – kommt der große US-Bruder zum Schlichten und zur Einvernahme der Beute für die Wall Street. Kennen wir dieses Szenario nicht bereits? Ja, dieses Szenario kennen wir bereits, als Deutschland schon in der Weimarer Republik von den Westmächten in Stellung gebracht wurde gegen die Sowjetunion, schließlich die Hochrüstung des deutschen Faschismus gefördert wurde, bis Adolf Hitler dann den Krieg auf eigene Rechnung begann – nicht für die Wall Street, sondern für Krupp, Thyssen, IG Farben, Siemens, Deutsche Bank und – auch damals schon – Rheinmetall. Und wir wissen, wie es geendet hat. Deshalb werden wir genauer hinsehen und hinhören, wenn von unseren Herrschaften verordnet wird, wer Freund und wer Feind sein soll!
Und schließlich – bei den politischen Schlussfolgerungen aus der Bestimmung der wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse der imperialistischen Großmächte sollten wir im Gossweilerschen Sinn bedenken: Wenn sich die beiden Konkurrenten zusammenschlössen gegen die Bank, ist das noch lange kein Befreiungskampf, sondern ein Aufbegehren der kleineren Gauner gegen den Großen.
Quelle: Unsere Zeit