27. November 2024

Sozialistische Arbeiterbewegungsgeschichte in Arnold Zweigs Romanen über den Imperialistischen Krieg – Zweiter Teil und Schluss

Übernommen von Zeitung der Arbeit:

Klassenbewusste Minderheit: Revolutionäre Arbeiter als „Nebenfiguren“

Nur im Kontakt mit revolutionär gesinnten Arbeitern können die „ehrlichen Intellektuellen“ eine „Erziehung“ zu einer demokratischen Gesinnung durchlaufen, ohne dabei vollständig zum Sozialismus zu gelangen: „Die Gestalten der revolutionären Arbeiterklasse sind demgemäß Nebenfiguren. Ihre Funktion in der Komposition des Ganzen gibt aber, wie wir gesehen haben, den Ausschlag. Auch hier ist der schriftstellerische Takt hervorzuheben, mit dem Arnold Zweig der realen historischen Rolle der klassenbewussten Arbeiter im imperialistischen Weltkrieg gerecht wird. Die Tatsachen des Kriegsablaufs und des Zusammenbruchs zeigen, dass diese eine kleine, wenngleich ständig wachsende Minorität auch in der Arbeiterklasse gebildet haben. Zweig geht als Realist von den Tatsachen aus. Er schildert die wachsende – spontane – Unzufriedenheit und Empörung unter den uniformierten Proleten. Eine bewusste, revolutionäre Gestalt erhält diese rebellische Ablehnung des Krieges nur in wenigen Figuren, wie in Lebehde oder in Pahl.

Diese treten wegen ihrer Isoliertheit sehr vorsichtig auf. Ihr Einfluss auf die Masse kommt nur vereinzelt, zumeist vorsichtig-indirekt, zum Ausdruck. Oft verschwinden sie in der noch nicht genügend aufgewühlten Masse. Sie bereiten klug – im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten – die Zukunft vor.“

Zweigs Gestaltung der Volksmassen erinnert nach Lukács an Georg Büchner. Sie ist „eine Wiederaufnahme, eine epische Variation der Stellung und Funktion der Volksszenen in ‚Dantons Tod’ von Georg Büchner. Die Volksmassen bilden (…) einen Chor zu den Handlungen der Protagonisten, der, oft ohne auf die Geschehnisse im Vordergrund direkt Bezug zu nehmen, die wirkliche soziale Grundlage, den wirklichen gesellschaftlichen Ausgang aufzeigt.“ (Lukács 1939, 303f.)

Der proletarische Schwimmlehrer Max Kliem droht dem Bürgertum mit dem „in ein Schipperbataillon“ gesteckten Armierungssoldaten Karl Liebknecht. Kliem – nur kurz von der „Blutzaren“-Propaganda irritiert und am 4. August 1914 durch das einstimmige sozialdemokratische Votum für die „Kriegskredite“ verwirrt – sieht schon im Sommer 1914 im Gegensatz zu den akademischen Kriegsschwätzern ein Ende in Kälte, mit Typhus und Hungerrationen voraus. So wie Kliem durchschaut später der Berliner Gasarbeiter August Halezinsky „voll beherrschter Ironie“ alle scheingelehrte Kriegsverklärung. Mit materialistischem Blick erkennt er den Charakter des Kriegs, wenn der eigentlich zum Sozialpazifisten gewandelte Bertin immer noch Sprüche wie „Si vis pacem, para bellum“ verbreitet und selbst in der Hölle von Verdun den U‑Boot-Krieg als notwendige Maßnahme auf dem Weg zum Frieden sieht. Halezinsky fährt Bertin stellvertretend für die sozialistischen Arbeitersoldaten übers Maul: „Um den Frieden zu wollen, zum Krieg zu rüsten, das erinnert mich an die Fabrikanten aus Hauptmanns ‚Webern’ oder ähnliches Gelichter, die Hungerlöhne zahlen und dann als Wohltäter den Hungerkindern Kuchenreste schenken.“ (Junge Frau 62 – Feuerpause 349)

Ende 1915 findet sich Max Kliem in einem von französischer Artillerie zerbombten Unterstand wieder. Er setzt seine Hoffnung auf den anwachsenden antimilitaristischen Widerstand innerhalb der SPD-Reichstagsfraktion, zaghaft, ängstlich, aber immerhin: „Erst drückte er seine Befriedigung aus, weil endlich zwanzig Abgeordnete seiner Partei den Mut gefunden hatten, den Kopfnickern und Jasagern und Buckelmachern und Einsehern den Rücken zuzukehren, dort wo er am rundesten war.“ Max Kliem setzte da – an der Front nur unzulänglich informiert – zu optimistisch auf die von Karl Liebknecht als „Dezembermänner“ von 1915 gering apostrophierten Reichstagsabgeordneten, die nur unter tausend Rücksichten gegen die Kriegskredite gestimmt hatten. (Junge Frau 163f. – vgl. Liebknecht 1916, 448–454)

Der Setzer Wilhelm Pahl, der den Ehrentitel „Liebknecht“ trägt, warnte schon 1913 vor den Folgen der Wehrbudget-Politik der SPD. Pahl, von Kindheit an gesundheitlich behindert und wegen des elterlichen Geldmangels kaum ärztlich behandelt, „empfindet sich ganz als das Erzeugnis von Klassenschichtung, ihrem Druck und Gegendruck“: „Als eines unter sechs Kindern des Drehers Otto Pahl macht er die Volksschule durch, eine königlich preußische Volksschule in Schöneberg. Frühzeitig fällt der vorzügliche Kopf auf, den der kleine Kerl besitzt. Er könnte es weit bringen, wenn wohlhabende Eltern oder die umsichtigere Fürsorge der Gesellschaft sich dieses Vermögens, zu denken und zu lernen, angenommen hätten. Als Sohn des Drehers Pahl aber beendete er seine Schulbildung mit dem vierzehnten Jahr, und eine Lehrstelle in einer Druckerei ist das einzige, was die Fürsprache der Lehrer ihm vermittelt.“

In der Lohnarbeit durchläuft Pahl die tägliche Kampfschule der Arbeiterklasse. Er liest Marx und Engels. Er ist steter Benützer von Arbeiterbibliotheken: „Die Vermögenslage seiner Eltern kann er nicht mehr ändern: also muss er sich denen anschließen, die den Umbau der Gesellschaft planen. Er geht in die Schule der Arbeiterpartei, er wird bewusster Bestandteil einer Masse, der durch stets wachsenden Massenzudrang die Zukunft gehört. Um diese Masse im Zaum zu halten, bedient sich die Gesellschaft dieser Masse selbst: jedes Jahr steckt sie in Deutschland und überall hunderttausend Besitzlose in den Waffenrock und drillt sie, das Werk der Schulen fortsetzend, damit sie gegen ihre eigenen Interessen verwendbar werden und bereit, in Gestalt anderer Arbeiter sich selbst zu erschießen.“

Pahl hasst den Militarismus. Marxistisch geschult versteht er ihn aber innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft „im Streit um die Weltmärkte“ als „unentbehrlich“. Der imperialistische Krieg „schaltet die Spannungen im Inneren der Staaten nach außen um und führt die Proletarierheere, die sich morgen gegen die herrschende Klasse erheben könnten, heute zum gegenseitigen Abschlachten ins Feld der Ehre.“ (EV 20f.)

Gleich Max Kliem urteilt Wilhelm Pahl über die sozialdemokratischen Kriegskreditbewilliger und über den nach dem 1. Mai 1916 endgültig internierten Karl Liebknecht, „jenen einsamen Mann, der sein mutiges Auftreten im Reichstag und auf dem Potsdamer Platz am ersten Mai mit einem Zuchthausurteil zu büßen hatte. In einigen Buden hatten die Genossen daraufhin zu streiken gewagt – kein schlechtes Zeichen. Vorläufig aber spielte man hier Schlacht vor Verdun und ließ sich den Kampf um die Herrschaft in Europa, ja auf der Erde, etwas kosten. Pahls Zigarre ging zu Ende, er war auch angenehm müde jetzt, Schlaf würde ihm guttun und schnell kommen. Das waren so ‚Gedanken im Kriege’, andere freilich, als ehrwürdige Professoren sie aus Vaterlandsliebe in Zeitungsblättern hinlegten, wie Wilhelm Pahl eines vor rein paar Stunden der Unterwelt übergeben hatte, den raschelnden Maden in der großen Latrine.“ (EV 23)

Stets bespricht sich Pahl mit seinem Schipperkameraden Karl Lebehde, vormals Berliner Gastwirt, der 1919 beim Spartakusaufstand getötet werden soll: „Der Gastwirt Lebehde ist wohlbekannt. Bis zu seinem Tode unter den Spitzkugeln der Reichwehr beim verzweifelten Arbeiteraufstand des Jahres 1919, im Viertel Holzmarktstraße-Jannowitzbrücke (Berlin) wird er auf verschwiegene Art durch Energie und Überredung durchsetzen, was er für richtig hält, immer ein wohlwollendes Lächeln in den Augenwinkeln.“ Ihm folgen in der stillen sozialistischen Militäragitation der asthmatische Landarbeiter Przygulla, stets nach Luft ringend, nur weil Taglöhnerkinder eben nicht die elementarste gesundheitliche Fürsorge erhalten haben, – und der Moabiter Klempnermeister Otto Reinhold. (EV 152f.)

Lebehde schult seine Kameraden politisch. So verbietet er ihnen Bestechungsalmosen (Zigaretten), die aus vorbeirasendem, sie mit Dreck bespritzenden „Kronprinzen-Wagen“ geworfen werden, an sich zu nehmen: „Und Lebehde tritt mit breitem Stiefel das nächste Zigarettenpäckchen zu Brei.“ (EV 154)

Lebehde leidet unter dem kapitulierenden Versagen der sozialistischen Internationale 1914. Er klagt vor Verdun: „Als der französische Klassenfeind den Jean Jaurès abschießen ließ, hätten alle Genossen mit Generalstreik antworten müssen.“ (Feuerpause 200)

Über urlaubende Soldaten halten Pahl und Lebehde Verbindung zu den Genossen in den Fabriken, in den Parteisektionen. Sie erhalten getarnte Schreiben und antiimperialistische Flugblätter, so werden sie über die Konferenzen in Zimmerwald im September 1915 und in Kienthal Ende April 1916 zur Wiederherstellung des proletarischen Internationalismus und des revolutionären Klassenkampfs informiert. In der Frontbarbierstube des Genossen Bruno Naumann studieren sie ein als Einwickelpapier getarntes illegales Agitationsblatt, das Naumanns Frau gesandt hat. Naumann liest – „zu frech von der Alten“ – den Brief vor: „Ich sitze mehrstens auf mein Zimmer. Wald und Feld sind ja jetzt kahl, doch was die Lebensmittel sind, bin ich immer auf dem Kien. Tal und Berg komme ja nicht zusammen, aber die Leute.“ Pahl verstand im ersten Moment nicht, aber Naumann „zog mit dem Ende des Rasiermessers verbindende Bögen zwischen zwei Wortpaaren. Es entstanden, Pahl formte sie mit den Lippen, die Worte ‚Zimmerwald’ und ‚Kiental!’ Mit einem Ruck sah er auf. ‚Donnerwetter!’ sagte er.“

Bruno Naumann holte aus einem Schubladenversteck ein zerknittertes, wieder geglättetes Blatt. Pahl las: „Wo ist der Wohlstand, den man euch bei Kriegsbeginn versprach? Schon jetzt lassen sich die wirklichen Kriegsfolgen klar erkennen: Elend und Entbehrung, Arbeitslosigkeit und Tod, Unterernährung und Seuchen. Für Jahre und Jahrzehnte werden die Kriegskosten die Kräfte der Völker verschlingen, alle Errungenschaften vernichten, die ihr so schwer erkämpft, um euer Leben menschenwürdiger zu gestalten! Geistige und moralische Verwüstung, Wirtschaftskatastrophen und politische Reaktion – das sind die Segnungen dieses entsetzlichen Völkerringens wie aller vorhergehenden …“

Über die Flügelkämpfe in Zimmerwald, vor allem über die Forderung der „Zimmerwalder Linken“ um Lenin, den Weltkrieg in den Klassenkrieg, den „Burgfrieden“ in den „Burgkrieg“ umzuwandeln, von der Differenz zwischen der spartakistischen Gruppe „Internationale“ und den zentristischen Linkssozialisten um die spätere „USPD“ wusste man an der Kriegsfront noch nicht genau Bescheid. So hatte vor allem der bei den deutschen Arbeitersoldaten hochverehrte Georg Ledebour in Zimmerwald der „Burgkrieg“-Losung und der Forderung nach einer neuen Internationale widersprochen. Ledebour hoffte auf ein Wiederaufleben der „alten“ Internationale von 1889: „Die unterrichteten Arbeiter wussten: im vorigen Jahre und in diesem hatten sich Führer sozialistischer Minderheiten aus vielen Ländern in den schweizerischen Orten Zimmerwald und Kiental getroffen, einzelne Vertreter kleiner Gruppen, die die kriegsunterstützende Politik ihrer Mehrheitsparteien verwarfen. Zu ihnen hatte aus Deutschland der Abgeordnete Georg Ledebour gehört, ein älterer Mann, geachtet selbst bei seinen politischen Feinden. Die beiden gefährlichsten Köpfe der Unzufriedenen, der Abgeordnete Liebknecht und die Schriftstellerin Rosa Luxemburg, erhielten damals schon keine Visa mehr in die neu eingeführten Reisepässe oder saßen im Gefängnis. Schon 1915 hatte sich die Tagung mit einem Aufruf an die Arbeiterschaften aller Länder gewandt; für sie war der Weltkrieg nur die unbarmherzige Folge jener wirtschaftlichen Spannungen und der Eroberungsgier, die das Wesen der kapitalistischen Weltordnung ausmachten.“ (EV 191f., vgl. Heym 1995, 39f. und Humbert-Droz 1964, 127–159)

Wilhelm Pahl will zur politischen Arbeit im Hinterland zurück. Er plant deshalb die eigene Verstümmelung, ein Vorhaben, das die „Zuchtrute des Klassenstaats“ zur Abschreckung besonders hart bestraft. Pahl und Lebehde debattieren in einem zerstörten Frontgraben, in einem Erdloch, in dem sie wie Obdachlose mit Zeitungs-Papier gegen die Kälte ausgestopft neben einem toten, bereits seiner Stiefel beraubten Soldaten kauern. Sie sprechen über möglichen Arbeiterwiderstand in Berlin oder Hamburg. Pahl ist optimistisch, er möchte nach Deutschland zurück, Lebehde pessimistisch: es fehlt an Klassenbewusstsein, an Klassenkampfkraft. Repression (Abschieben von Streikaktivisten an die Front) und vor allem ein wenig Bestechung mittels Nahrungsmittelzulage reichten aus, um den sozialen Widerstand zu brechen: „’Geh mal, Wilhelm, (…). Ich zweifle mächtig an deiner Hoffnung, was du dir so ausmalst und versprichst, wenn der Abend lang wird. Die deutschen Arbeiter sind zu dusslig für dich – wie dusslig die sind, merkt bloß, wer hinter der Theke aufgewachsen ist und gehört hat, wie sie jahraus, jahrein denselben Zimt verzapfen, dieselben Rosinen im Kopfe.’ – ‚Nischt gegen die Berliner Arbeiter, Karl.’ – ‚Doch, Wilhelm, doch, doch. Unsere Genossen sind gut, und die Hamburger sind gut – nischt gegen ihren tüchtigen Kern. Und jetzt sind sie vielleicht hoch, weil sie den Bauch voll Hunger haben, und sie hören auf dich und auf die paar Leute, die daheim arbeiten, und gehen aus den Buden raus und schmeißen die Arbeit hin und verlangen Frieden. Und was passiert dann? Nicht einmal an die Wand gestellt werdet ihr. Tausend werden eingezogen, achtzig oder neunzig wandern ins Kittchen, und dem Rest werden die Rationen erhöht und ein bisschen mit Speck gewunken, Schwerarbeiterzulage – und aus ist’s.’“

Lebehde will auch Wilhelm Pahls Vergleich mit Russland nicht gelten lassen. Die deutschen Arbeiter haben die Sozialistenverfolgung längst vergessen. Reformistische Erfolge, oft nur von kurzer Dauer und oft gar nur zum Schein erkämpft, haben ihren Kampfwillen erlahmen, sie in Illusionen von Legalität und „Vaterland“ verfallen lassen. Auf Wilhelm Pahls Einwand: „Und du meinst, der Berliner Arbeiter weiß nicht längst Bescheid und lässt sich von den Russen beschämen, die jetzt, wenn die Zeitungen nicht lügen, mit Riesenstreiks und Hungerkrach vor den Bäckereien ihre faule Duma aufmuntern?“ antwortet Lebehde: „Von den Genossen in Russland weiß ich so wenig wie du. Was ich aber weiß, mein lieber Wilhelm, wenn sie uns im ‚Vorwärts’ nicht von jeher angeschmiert haben, sind ein paar kleine Unterschiede. Zum Beispiel, dass in Russland der Druck immer größer war als bei uns und der Hunger immer größer, und Sibirien immer in der Nähe und die Bourgeoisie unzufrieden mit dem Zarismus und die Weltmeinung gegen ihn. Und die schönen Niederlagen gegen die Japaner 1905. Und ein scharfes Training für den Klassenkampf und klares Auseinanderreden; hier sind wir, und da seid ihr, und zwischen uns gibt es keine Brücke. Wohingegen bei uns immer alles in Butter war und das bisschen Sozialistenverfolgung unter Bismarck längst vergessen, und die Arbeiterbewegung vor lauter Siegen und Zukunftsstaat schon gar nicht mehr wusste, dass ein Prolet am Sonntag immer noch ’n bißken was weniger ist als ein Bürger in der Woche. Und wenn die Stehkragen schwarz-weiß-rote Töne redeten, dann ließ das dem Proletarierherz keine Ruhe, und kein Geringerer als August Bebel ging aus allen Nähten und ließ sich seine Vaterlandsliebe was kosten und nahm gleich die Flinte auf die Schulter und marschierte gegen Russland, und die Stehkragen lachten. Aber warum lachten die? Er sprach ja die Wahrheit. Und das war im Frieden und das Militär klein und bescheiden und die Parteikasse das dickste Portemonnaie im Lande. Das ist der Unterschied, siehst du. Aus nischt wird nischt.“ – schließt Karl Lebehde. (EV 245–247)

Unter einem Porträt des schon im September 1914 an der Front umgekommenen rechtsopportunistisch sozialdemokratischen, den „Burgfrieden“ forcierenden Reichstagsabgeordneten und fanatischen Kriegsfreiwilligen Ludwig Frank wird in der Militär-Barbierstube Bruno Naumanns der Streit der gespaltenen Sozialisten ausgetragen, über die sozialpatriotische Herabgekommenheit der Mehrheitssozialdemokratie gestritten, rechts der parteiloyale Greetsch, links Pahl: „Während von unseren sozialdemokratischen Kameraden der Drucker Greetsch – Reichsdruckerei Berlin – sich allen Kundmachungen seiner Partei vollinhaltlich anschloss, die als Kriegsziel wünschten, das selbstherrliche Regieren eines kleinen Militärklüngels zu beseitigen, in Russland nämlich, wälzte der Setzer Pahl Gedanken in seinem Kopfe, erst einmal die Abschaffung des gleichen, wenn auch verhüllten Systems bei uns zu verlangen, diesen kaisertreuen Sozialpatrioten aber jederzeit auf die Finger zu schauen, ob sie nicht etwa mogelten.“ (Feuerpause 44f.)

Pahl ist empört über die Korrumpierung der „Reichstagsozialisten“, die immer noch an der Welt des „Burgfriedens“ ohne gewerkschaftlichen und politischen Kampf festhalten, die sogar 1917 noch glauben, dass nicht der politische und betriebliche Streik, also der soziale Kampf zum Frieden führt, sondern dass nur der verschärfte deutsche U‑Boot-Krieg den Frieden herbeiführen könne.

Arbeitersoldaten wie Wilhelm Pahl hoffen auf internationale Streikkämpfe in den Rüstungsbetrieben, auf eine Internationale der Munitionsarbeiter: „An die Granatendreher und Rohrschmiede der Betriebe heranzukommen aber, traute der Setzer Pahl seinen Gesinnungsgenossen zu, auch den englischen, französischen – wie wir heute sehen, zu Unrecht. (…) Am Ende dieser Visionen blühte der Riesenstreik der Waffenschmiede, der Hüttenleute, der Bergwerkskumpel, flammten Generalstreik, Überwältigung der Kriegsgewinnler. Revolution und Friede.“ (Feuerpause 172f.)

Der Friede kann nur gerettet werden, wenn die Produktionsmittel sozialisiert werden. Dies muss mit der Aufhebung der sozialen Diskriminierung im Heer beginnen. Pahl und Naumann erkannten in der unterschiedlichen Verpflegung der Soldaten den „Fingerabdruck des Klassenstaats im Krieg“. Sie lobten ironisch „beißend die feine Abstufung unserer Verpflegung: dem Herrn Feldwebelleutnant Roastbeef oder Beefsteak mit Zwiebeln, und Bratkartoffeln, den Unteroffizieren frisches Fleisch und Weißkraut, uns Mannschaften aber Kälberzähne und fasrige Rindskonserven“. Sie kannten auch die noch mehr traktierten polnischen Soldaten aus Oberschlesien, die in ihrem Elend den marokkanischen Sklavensoldaten bei den Franzosen nahekamen. (Feuerpause 45)

Ein Genosse brachte die Forderung auf den Punkt: „Wenn in solchem Weltkrieg die janze Nation mit Mann und Maus den Staat verteidigt und alles, was drin ist, verlangt ja wohl kein Vollsinniger, dass hernach wieder die janze unjerechte Besitzordnung wiederherjestellt wird. Nee, Herr Feldwebel, wenn nu Frieden wird und wir glücklich wieder nach Hause kommen, dann muss Deutschland besser eingerichtet werden. Großgrundbesitz in kleine Parzellen aufgeteilt und an den verpachtet, der darauf siedeln will und sich den eigenen Kohl nebst Kartoffeln bauen. Und was die Gruben und Hütten und all unsere schönen Betriebe anlangt, wo unsere Frauen jetzt Granaten drehen – ja, warum sollen die nicht verstaatlicht werden wie Kanäle, Eisenbahn und Post?“ (Feuerpause 143, 415f.)

Arnold Zweig beschreibt das Hungerelend im „Hinterland“. Viele Szenen zeigen die Welt des Kohlrübenfraßes, der mittels Militärstrafrecht unterdrückten Granatendreher und der „Weiber in den Füllräumen mit Gelbkreuz und Grünkreuz“. Die wenigen sozialen Verbesserungen waren vom Krieg verschüttet worden: „Im Krieg aber ward all das wieder zunichte gemacht – unbeschränkte Arbeitszeit (…), Zusammenpferchung in Massenquartieren – den Baracken, wo drei übereinander schliefen, (…).“ Der Krieg zerstört alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung. Aus Lohnarbeitern werden Heloten. Die elende Frauenarbeit in den Rüstungsfabriken nimmt zu: „Unsere Leute, die sich für diesen Staat schlugen bis zum Tode, wollten keinesfalls, zurückgehrt, weiterhin die Heloten der Fettsäcke und Großverdiener sein, die jetzt mit Kriegskrediten nur so um sich schmissen.“ (Feuerpause 205, 280, 392)

Jeder Bericht über eine soziale Revolte stärkt den Widerstandsgeist an der Front. An der Jahreswende 1917/18 kurz nach Brest-Litowsk befohlen besucht Werner Bertin den eingezogenen Uhrmacher Robert Mau, einen alten Genossen, der von den Marineaufständen in Kiel und Wilhelmshaven im Sommer 1917 berichtet. Der auf eine sozialistische Revolution als Alternative zu Krieg, Imperialismus und Lohnausbeutung hoffende Mau erinnert an die beiden am 5. September 1917 wegen „vollendeten Aufstands“ als „Rädelsführer“ hingerichteten Marinesoldaten Max Reichpietsch (Jg. 1894) und Albin Köbis (Jg. 1982): „Und Köbis und Reichpietsch liegen eingescharrt irgendwo bei Köln. Und als die Aktiven von der Marine-Infanterie sich weigerten, die Exekution vorzunehmen, brachten sie sie nach Wahner Heide, und ein Landsturmkommando legte sie um. (…) Mit einem Fluch auf unseren Militarismus gingen sie ins Grab …“ (vgl. Geschichte/Arbeiterbewegung 2–1966, 322–324)

Mau schildert Bertin die Motive der Matrosenrevolte: „Natürlich fing es mit einer Menagekommission an, mit zu viel Dörrgemüse, schimmligem Brot, sollten auch Mehlwürmer eingebacken sein. Auf zwölf Schiffe sprang es schließlich über, lauter Majestäten: ‚König Albert’, ‚Prinzregent Luitpold’, das Feinste vom Feinen. Und dann marschierten sie von Bord und sammelten sich in ihren Kneipen, an viertausend Mann, und vierhundert von ihnen unterschrieben dabei eine Resolution, dass sie für den russischen Frieden seien: ohne Annexionen, Kontributionen und mit Selbstbestimmungsrecht der Völker.“

Die revolutionär gesinnten Soldaten haben mittlerweile 1918 nach dem roten Oktober und den großen Jännerstreiks keine Achtung mehr vor dem zögerlichen Kriegswiderstand des sozialdemokratischen Zentrums, das mittlerweile in der USPD, den „Unabhängigen Sozialisten“, organisiert ist. Auch für Mau sind einst verehrte Figuren wie Hugo Haase oder Wilhelm Dittmann nur mehr Symbole eines schwankenden „Sumpfs“. Robert Mau sieht keinen wesentlichen Unterschied zu den rechten „Mehrheitssozialdemokraten“ um Ebert, Noske oder Scheidemann. Alle Hoffnung liegt auf der Gruppe um Karl Liebknecht.

Die SPD-Reaktion auf die Wilhelmshavener Revolte gilt Mau als Schande: „’Beeilt haben sie sich, mein Lieber, die Herren Reformer: dass sie nichts zu tun gehabt hätten mit den Vorgängen [in der Marine – Anm.] daselbst, den widerwärtigen. Unsere Kameraden ihrerseits erwarteten sich ja auch nichts von ihnen, ob die ‚Genossen’ nun Scheidemann heißen oder Dittmann, Noske oder Haase.‘ (Bertin erinnerte sich nicht, die Bezeichnung ‚Genossen’ je so hohnerfüllt vernommen zu haben.).“ (Feuerpause 378–382)

Die Gerüchte über soziale Unruhen im Hinterland werden ab 1917 mehr und mehr. In Berliner Rüstungsfabriken sollen Frauen gegen die Kürzung der Brotration streiken. Es gäbe schon einzelne Ausmarschverweigerungen. Vage Gerüchte über Generalstreikpläne kursieren.

Selbst der eine oder andere preußische General ist im Sommer 1918 trotz aller „Gegenoffensiven“ im Westen pessimistisch: „Außerdem werden jetzt anderthalb Millionen kriegsgefangene Österreicher nach Hause geschafft: lauter Bolschewiki.“ (EKön 191)

Das Wetterleuchten der Oktoberrevolution ergreift die deutschen Soldatenmassen. Im Hintergrund des Zweig’schen Roman-Geschehens treten vermehrt die revolutionären Massen des Ostens auf. In der Friedensutopie blitzt auch eine sozialistische Zukunft auf. Alle wollen nach Hause, nicht nur die erschöpften russischen Soldaten. Deutsche Sanitäterinnen lesen im litauischen Städtchen Merwinsk das sowjetische „Dekret über den Frieden“, den Aufruf an die Werktätigen aller Völker zu „Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden“. (Feuerpause 343, 356, 362, 402)

Im Schatten der deutsch sowjetischen Waffenstillstandsverhandlungen von Brest-Litowsk bewundern im Frühjahr 1918 mehrere Soldaten – unter ihnen der in den Osten versetzte Karl Lebehde – die in einem hetzerischen deutschen Kriegsblatt denunzierend in abschreckender Verbrecherpose abgebildeten sowjetischen Volkskommissare: „Lebehde sah eine jener illustrierten Zeitschriften an, die von siegeswilligen Verlegern der deutschen Familie dargebracht wurden – Bilder der regierenden Volkskommissare, von Vorsitzenden und Mitgliedern des Rates der Arbeiter, Bauern und Soldaten. Nicht aber als Regenten und Machthaber marschierten sie auf, sondern als Insassen von Gefängnissen oder als Verbannte; ihre tapfere Vergangenheit unter dem Zaren wurde benutzt, sie in den Augen der deutschen Leser herabzusetzen, eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Auf Karl Lebehde wirkten sie offenbar anders. ‚Guck mal her’, sagte er, ‚so werden Brennesseln gezüchtet.‘ ‚Drei Jahre Zuchthaus’. ‚Dreimal nach Sibirien verbannt’. ‚Dreimal geflüchtet’. ‚Von 1905 bis 1912 im Ausland’. ‚Ging unter falschem Namen über die Grenze’. ‚Lebte sieben Monate verborgen in St. Petersburg’.“ Immerhin – so die Soldaten – hat das deutsche Proletariat auch eine „im Frauengefängnis Barnimstraße“ Einsitzende, also Rosa Luxemburg, und den „Armierer Liebknecht in seiner Zuchthauszelle“. (EKön 294–297)

Am Rande des Romangeschehens tritt auch die doppelt unterdrückte jüdische Bevölkerung auf: „In der Judenstadt Merwinsk [hatte es] eine Razzia auf erwachsene Männer zwischen sechzehn und fünfzig“ gegeben. Dabei wurde auch der jüdische Lehrer und Lenin-Anhänger Alexander Elkus, genannt Sascha, in einem Zwangsarbeitslager, eigentlich mehr Todeslager, interniert.

Bereits im „Grischa“-Roman war Sascha gemeinsam mit seiner Frau Deborah Süßkind als Vertreter der revolutionären Intelligenz aufgetreten. Deborah setzt auf Kerenski, auf einen Bauernsozialismus, der Gymnasiallehrer Sascha auf Lenin: „Sie streitet für Kerenski, während Sascha, einundzwanzig Jahre alt und seit drei Jahren bereits von seinen Studien abgeschnitten, für die Lenin, Plechanow, Tscheidse ficht. (…) Während nun Dwore, die sich lieber russisch Dawja nennt, entschlossen behauptet, die Befreiung von Grund und Boden, die Bauernrevolution also, sei der Kern und die wichtigste Leistung der russischen Umwälzung, bleibt Sascha dabei, der eigentliche vorstoßende und revolutionäre Wille sei nur bei den proletarischen Arbeitern zu finden, in den Fabriken und Elendsvierteln. Der Kampf zwischen beiden geht eigentlich also um die Frage, ob vom Boden her oder von der Maschinenarbeit der Antrieb zur Umgestaltung der entgleisten bürgerlichen Gesellschaft komme.“ Im späten Sommer 1917 erklärt Sascha den Krieg mit Blick auf ein „Bild von Karl Marx mit wallender Mähne und breitem Barte“ zum Klassenkrieg, zur Fortsetzung der kapitalistischen „Mehrwertfresserei“ mit militärischen Mitteln. Beide fürchten, von der russischen Revolution fern bleiben zu müssen, da sie im Sumpf ihrer Kleinstadt gefangen sind. (Grischa 94f., 450–453 – vgl. Raffel 2002, 177–179, 195f.)

Arbeiterwiderstand gegen das NS-Regime

Im 1943 in hebräischer Sprache in einem linken Arbeiterverlag in Palästina erschienenen, dann 1947 in englischer und deutscher Sprache veröffentlichten Roman „Das Beil von Wandsbek“ steht die Bourgeoisie in all ihren Formen wohl situiert „kultivierter“ Hamburger Bürger im Mittelpunkt des Erzählgeschehens: elitär denkendes hanseatisches Patriziertum, das mit Nietzsche die nazistische „Pöbelkultur“ verachtet und gleichzeitig mit Nietzsche eine versklavte Gesellschaft für die Voraussetzung „höherer Kultur“ schlechthin hält. Gebildete, „innerlich humane“, aber auch offen rohe Bürger in allen möglichen Funktionen von Justiz und Polizei, die den NS-Faschismus zugleich als Retter ihrer Privilegien begrüßen und ihn unter der Klage vom „Bildungs- und Kulturverfall“ als plebejisch verachten. Sie können den Faschismus nur psychopathologisch als „Daniel Paul Schreber-Phänomen“ oder als „Schurkerei“ fassen. Vor allem aber fürchten sie, dass die Nazis mit ihrer Aggression schlussendlich „Deutschlands Größe“ aus Bismarck’schen Tagen beschädigen könnten.

Zweig gestaltet die Erzählung frei nach dem „Blutsonntag von Altona“ vom 17. Juli 1932: 7000 SA-Angehörige marschierten provozierend durch die rote Hochburg. Bei Zusammenstößen und Schießereien waren 18 Tote zu beklagen. Vier sozialistische und kommunistische Arbeiter (August Lütgens, Bruno Tesch, Walter Möller, Karl Wolff) wurden im Frühjahr 1933 nach der „Machtergreifung“ wegen angeblicher Gewalttaten mit Todesfolge vom NS-Regime in einem manipulierten Sondergerichtsprozess zu Tode verurteilt und am 1. August 1933 hingerichtet.

Zweig selbst gruppiert die Ereignisse um einen „Reeperbahnprozess“ gegen vier rote Antifaschisten, die bis 1937 im berüchtigten Gefängnis-KZ Hamburg-Fuhlsbüttel auf die Hinrichtung warten. Die „vier kommunistischen Staatsverbrecher Friedrich Timme, Albin Merzenich, Willi Schröder und Walter Benjamin Mengers“ waren als Angehörige des sozialdemokratischen „Reichsbanners“ und des kommunistischen „Rotfrontkämpferbundes“ wegen Vorbereitung zum Hochverrat und wegen staatsgefährlicher Umtriebe angeklagt: „… gaben die Beamten zu Protokoll, den Setzer Friedrich Timme mit der Waffe in der Hand gesehen zu haben, zwei der Nazis behaupteten, er habe ihre Freunde erschossen. Der Buchhandlungsgehilfe Mengers hatte Blut an den Händen; dass er nur einen der Niedergeschossenen beiseite geschleppt habe, ihn zu verbinden, wurde ihm nicht geglaubt. Der Werftarbeiter Merzenich und der Dreher Willi Schröder wurden von den anderen als Hauptschläger und ‑schießer angegeben. Alle hatten noch im Jahre zweiunddreißig Kampfbünden der Linken angehört, dem Reichbanner Schwarz-Rot-Gold und der kommunistischen Rotfront.“

Auch die junge Prostituierte Lene Prestow, die vergeblich als Entlastungszeugin für die vier Angeklagten aufgetreten war, wird wegen antinazistischer Lästerreden und ihrer Nähe zu „staatsfeindlichen Milieus“ zu fünf Jahren Haft verurteilt: „Mit Schimpfreden der angetrunkenen Lene Prestow hatte es begonnen, gegen hohe SA-Führer und die jungen Männer, die sich als Lieblinge für sie hergaben. Aber in jener Gegend, jenen Lokalen waren schon früher Mitglieder der alten republikanischen Schutzbünde mit den Anhängern der Völkischen in Streit und Schlägerei zusammengestoßen: befand sich doch damals schon das deutsche Volk, von Arbeitslosigkeit, Inflation und Trustgewinnen auseinandergerissen, im Zustand notdürftig weggeschminkten Bürgerkriegs.“ In der Haft stirbt Lene an den Folgen der Tuberkulose.

Um Lene Prestow und ihr Begräbnis gestaltet Arnold Zweig das zwar schweigende, aber im Stillen aufrechte rote Hamburger Arbeitermilieu. Begräbnisse wurden für einen demonstrativen Moment zum stillen Protest des nicht gebrochenen Arbeiterwiderstands. Die „Internationale darf niemand spielen, die Internationale bekommt den Menschen schlecht – Kopf ab, Augen geradeaus. Gleichwohl sah man, dass alle diese Marschierer Unbotmäßiges dachten, (…) ‚In fünf Jahren ist alles vorbei.’“ (Beil 83–87)

Neben den wenigen illegalen Genossen und Genossinnen gibt es viele zumindest passiv loyal Bleibende, wie der um 1870 geborene, stets solidarisch handelnde Ferdinand Prestow, politisch erzogen in der Bebel’schen Partei in den Jahren des „Sozialistenverbots“, von seinen Eltern in Verehrung nach Ferdinand Lassalle, „der dem deutschen Proletariat zum Zusammenschluss verholfen hatte“, benannt. „Herr Prestow, der einst Genosse Prestow gewesen war, nun aber kein Pg. war“, wird von seiner sterbenden Tochter aufgefordert, für den Tag der Befreiung, „wenn sie den Hitlerlappen unter die Füße treten und Hammer und Sichel hissen“, bereit zu stehen. (Beil 77)

Zwei der Hauptangeklagten werden näher beschrieben. Der Kommunist Friedrich Timme, von Beruf Setzer, in jungen Tagen vor 1914 in sozialdemokratischen Organisationen aktiv, war schon an den Militärrevolten 1918 beteiligt, im Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat tätig. Als Spartakist fährt er zu Karl Liebknecht nach Berlin, um ihn für eine Hamburger Rede zu gewinnen. Wäre das nur gelungen, Liebknecht wäre dem Mordkommando vom 15. Jänner 1919 entkommen: „Wäre er nur damals gekommen, in Hamburg geblieben! Nie hätten die Mördergarden aus dem Eden-Hotel an ihn und an Rosa Luxemburg ihre Hände legen dürfen.“ Auch Timme war 1919 nur knapp einem Erschießungskommando rechter Freikorps entgangen. (Beil 86)

Timme, der den Krieg heraufziehen sieht („Die Wehrmacht rüstet zur Revanche. Das ist der ganze Sinn der Nazischweinerei.“), hofft auf breiten Volkswiderstand gegen den Nazismus, so wie 1920 gegen den „Kapp-Putsch“. Timme bedauert, dass die mächtigen Hamburger Arbeiterorganisationen 1933 keinen Widerstand geleistet haben: „Bei uns wären die Nazis nicht hochgekommen. Da können Sie Gift darauf nehmen. Aber wir passten auf das Signal von Berlin, und das blieb aus.“

Der mit gefangene Buchhändlergehilfe Walter Benjamin Mengers zählte zu einer linken SPD-Spaltung aus dem Jahr 1931, der Sozialistischen Arbeiterpartei, was vom Kommunisten Timme bitter als „echt SAP, Splittergruppe bis zum Tode“ kommentiert wird. In den Jahren der Weimarer Republik hatte Mengers an einen Film über das Leben von Karl Marx gearbeitet, „nicht ängstlich realistisch, sondern expressionistisch“. In seiner Zelle liest Mengers etwa Ludwig Friedländers „Sittengeschichte Roms“, Johann Jakob Bachofens „Mutterrecht“, Hans Delbrücks „Geschichte der Kriegskunst“. Er arbeitet auch noch an einer Biographie Paul Levis: „Hier in Fuhlsbüttel habe er nur Materialien zu einer Biographie des verstorbenen Paul Levi gesammelt – des Berliner Anwalts und Abgeordneten, durch dessen Schicksal die Angeln der Republik gingen, die Türen, die zufielen, als ihn das Fieber und die Grippe aus dem Fenster schleuderten“. (Beil 96–101)

Zweig beschreibt im Schlusskapitel seines Buchs, wie ein 1939 im Hamburger Hafen liegender sowjetischer Handelsfrachter auf der Backbordseite – unter vergeblichem Protest von SS-Offizieren – die Namen der vier Hingerichteten Timme, Merzenich, Schröder und Mengers trug. Ende der 1940er Jahre schien diese Szene manchem bürgerlichen Verleger schon nicht mehr opportun, wie Arnold Zweig 1953 in einem Nachwort festhält: „Inzwischen (1948 – Anm.) hatte sich die antifaschistische Welle längst überschlagen. Mein Buch traf jetzt auf eine mehr oder weniger faschistenfreundlich gestimmte internationale Öffentlichkeit, dergestalt, dass der seit fünfzehn Jahren befreundete amerikanische Verlag des Buches das Schlusskapitel aus eigener Machtvollkommenheit wegließ: sowjetische Schiffe durften das Andenken der Hingerichteten nicht erneuern.“ (Beil 531–533)

Linker griechischer und jüdischer Widerstand gegen das NS-Regime

Zentrale Erzählfigur von „Traum ist teuer“ ist der 1933 nach Palästina flüchtende Berliner Nervenarzt und Psychoanalytiker Richard Karthaus, in Czernowitz geboren, in Wien aufgewachsen, dann k.k. Offizier. Im Berlin der 1920er Jahre hat Karthaus Kriegsneurosen behandelt, indem er seine Patienten auf Generals-Puppen einschlagen ließ, was ihm den Hass der völkischen Rechten einbringen sollte. Der zunehmend mit der Linken sympathisierende, an Sigmund Freud orientierte Antifaschist Karthaus trägt viele Züge aus der Biographie Arnold Zweigs, so auch seine späteren Schwierigkeiten mit rechten Zionisten, die ihm allein seine Liebe zur deutschen Sprache verübeln.

Der liberale Schein der Weimarer Republik – beherrscht von den alten Eliten, die diese bei erster Gelegenheit zerstören – hat getäuscht, weiß Karthaus. Aus seinem Bekanntenkreis kennt Karthaus Jeanne Bischoff, Tochter aus jüdischem Großbürgertum. Am Beispiel ihres Vaters, des Unternehmers Bischoff, der es den Freikorps dankt, dass diese 1918/19 all die Liebknecht, Luxemburg, Eisner, Landauer liquidiert haben, kennt er die Illusionen im liberalen (jüdischen) Bürgertum. Vater Bischoff hofft, dass sich das Hitler-Regime wieder „normalisiert“, ja vielleicht sogar besseren Geschäftsgang garantiert. Er sieht deshalb keinen Grund zur Emigration. Er versteht seine Tochter, sich nunmehr zionistisch gesinnt Hannah nennend, nicht. (Traum ist teuer 43)

Zu den Interbrigaden nach Spanien will Karthaus nicht gehen, so weit reicht sein bürgerlich republikanischer Antifaschismus 1936 noch nicht. Er dient als Arzt in der britischen Armee in Ägypten, wo er wieder Kriegsneurosen behandelt. Dabei trifft er auf den geflüchteten griechischen Soldaten George Kephalides.

Kephalides, dieser griechische KP-Partisan, will gegen die Deutschen kämpfen, aber nicht zu dem Zweck, damit bloß die Rückkehr der faschistischen Metaxa-Milieus zu ermöglichen. Der griechische Bürgerkrieg deutet sich schon an. Kephalides rebelliert gegen die britische Militärdisziplin, die in ihm schon den kommenden kommunistischen Gegner sieht. Kephalides will für ein demokratisch sozialistisches Griechenland kämpfen. Er will „keineswegs für Georg II. sterben“, sondern für ein neues Griechenland der Arbeiter und Kleinbauern leben. Er will auf keinen Fall für die griechische Reaktion kämpfen: „Dazu habe ich mein Gewehr nicht aufgenommen, als uns Mussolinis Schurkenbande überfiel, am 27. Oktober 1940. Am Tage danach meldete ich mich bei meinem Vater und dann auf seinen Wunsch bei meinem alten Truppenteil, den Haubitzen, die inzwischen motorisiert worden waren. Nein, meine Herrn Metaxisten! Dass wir es euch versalzten, als ihr am liebsten mit den Deutschen getechtelmechtelt hättet, damit sie den Italienern zuvorkämen und Griechenland eine Hitler-Satrapie würde wie die andern alle – dass sie uns das nicht verzeihen würden, war klar.“ (Traum ist teuer 97, 312)

Der wegen einer Ohrfeige für einen griechischen Offizier angeklagte Kephalides spricht vor einem britischen Militärtribunal über den Kontakt der griechischen Partisanen zu den Tito-Kämpfern, über kommunistische Untergrundzellen, die von rechten griechisch englischen Kräften verfolgt werden, so wie seine Mutter, als „Jokaste“ Sprecherin eines illegalen Radiosenders irgendwo eingepfercht. Seine Mutter, von Geburt Kroatin, versteht die Sprache des jugoslawischen Widerstands: „Begreifen meine Ankläger nicht, dass wir Griechen gegen den Faschismus kämpfen, auch gegen den eigenen? Dass wir die Vorherrschaft der geschmeidigen Lumpen nicht mehr ertragen, die sich bald einem fremden General anschmeißen und bald einem eigenen? Ja, ich habe dem Leutnant Patinios die Faust in die Fresse geschlagen, als er mir zumutete, eine Petition zu unterschreiben, die unsere einstigen Metaxas-Leute ausschwitzten. Ja, ich bin ihm an die Gurgel gefahren, diesem Typ, der mir zumutete, alte Kameradschaft mit unseren Partisanenbrüdern zu verleugnen, weil ich doch der Sohn eines Obersten sei, eines gefallenen Helden. Ich bin aber der Sohn unserer mageren, sonnenüberblitzten Erde, der Sohn unseres armen, durchtriebenen, singenden Volkes, der Bruder jedes Fischers, (…).“ Kephalides erinnert an die Tradition der aufständischen „griechischen Pächter- und Sklavenscharen schon unter Spartakus“, an den griechischen Freiheitskampf gegen die türkische Feudalunterdrückung. (Traum ist teuer 104f., 218)

1942 trifft Richard Karthaus in Ägypten auf Hermann Treppner. Dieser war im ersten Weltkrieg fanatischer kaiserlicher Vizefeldwebel und eigentlich ein Kandidat für die rechten Freikorps. Hannah Bischoff erzählt: „Du weißt vielleicht, irgendwann habe ich dir’s erzählt, dass der Junge Ende 18 sogar in die Brigade Reinhardt überging, so soldatisch empfand er und so deutschnational. Und hätte er nicht an jenem Tage zufällig Stubendienst gehabt, möglicherweise wäre er zu der Erschießung der neunundzwanzig roten Matrosen in der Französischen Straße kommandiert worden, die dann auf Berlin so lange lastete.“ (Traum ist teuer 31 – vgl. Geschichte/Arbeiterbewegung 3–1966, 216–218 und Dreetz-Gessner-Sperling 1988, 67–73)

Nun in Palästina hat sich Treppner – fast wundersam – vom deutschnationalen Juden zum Volksfrontlinken gewandelt. Richard Karthaus staunt 1942 über Treppner, der keinem rechten Zionismus verfallen war, über den ehemaligen Freikorps-Anhänger, der nun „kommunistische Agitation“ treibt: „Ich ließ meine Augen auf Hermann Treppner ruhen, der als Feldwebel einmal den Waffenrock der Reichswehr getragen hatte und nun dem deutschen Volk half, den Nachtalp abzuschütteln, den man ihm auf den Nacken gesetzt.“

Treppner organisiert über Teheran gehende Hilfszüge für die Rote Armee. Robert Mau, der alte Uhrmacher und Genosse „der ehemaligen KPD“, seinerzeit 1917/18 in der „Feuerpause“ Soldat bei Brest-Litowsk, hilft Treppner nun in den Tagen der Schlacht von Stalingrad bei den Hilfstransporten. Mau hatte Deutschland schon Anfang der 1920er Jahre verlassen, um bei einer Ölkompanie im Iran Arbeit und Auslangen zu finden.

Karthaus und Treppner begegnen in Palästina auch dem gestandenen Stettiner Arbeiterkämpfer Kartuschek, der 1934 aus Deutschland nach Palästina geflüchtet und von dort nach Spanien zum Thälmann-Bataillon gegangen war, und der nun als Captain Henry Cartouche oder als Moshe Kartusch aufscheint: „Genau den’, lachte [Treppner], ‚der Stettiner Apotheker Kartuschek verwandelte sich in einen Henry Cartouche, als er 34 den Hitlerbanditen entrann und über Marseille nach Palästina ging, bevor er zum Thälmann-Bataillon stieß, was freilich erst 36 vor sich ging.“ (Traum ist teuer 273)

Treppner hört in Teheran erstmals die Namen „Maidanek“ oder „Treblinka“, vom ganzen Ausmaß der NS-Barbarei. Das ist eine ganz andere Dimension als das Niederbrennen von Synagogen oder das Anordnen des „gelben Judensterns“. Er hört vom „Zyklon“, geliefert von IG Farben. (Traum ist teuer 295f.)

Arnold Zweig (Ausgaben):

  • Die Zeit ist reif. Roman (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 1 – Aufbau-Verlag), Berlin 1957. (=Zeit ist reif)
  • Junge Frau von 1914. Roman (Ullstein Bücher), Berlin 1963. (=Junge Frau)
  • Erziehung vor Verdun. Roman (Fischer Taschenbuchverlag), Frankfurt 1979. (=EV)
  • Der Streit um den Sergeanten Grischa. Roman (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 4 – Aufbau-Verlag), Berlin 1962. (=Grischa)
  • Die Feuerpause. Roman (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 5 – Aufbau-Verlag), Berlin 1956. (=Feuerpause)
  • Einsetzung eines Königs (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 6 – Aufbau-Verlag), Berlin 1955. (=EKön)
  • De Vriendt kehrt heim. Roman (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 8 – Aufbau-Verlag), Berlin 1988.
  • Das Beil von Wandsbek. Roman (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 9, Aufbau-Verlag), Berlin 1953. (=Beil)
  • Traum ist teuer. Roman (Fischer Taschenbuchverlag), Frankfurt 1995. (=Traum)

Literatur:

  • Wolfgang Abendroth: Einführung in die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1933, dritte Auflage, Heilbronn 1997.
  • Frank Deppe – Georg Fülberth – Jürgen Harrer (Hrg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, dritte Auflage, Köln 1981.
  • Dieter Dreetz – Klaus Gessner – Heinz Sperling: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland 1918–1923, Berlin 1988. (=Dreetz-Gessner-Sperling 1988)
  • Friedrich Engels: Po und Rhein (1859), in: Marx-Engels-Werke 13, Berlin 1981, 225–268. (=MEW 13)
  • Jutta Freyberg – Georg Fülberth – Jürgen Harrer, u.a. (Hrg.): Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1863–1975, zweite Auflage, Köln 1977.
  • Paul Frölich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, vierte Auflage, Frankfurt 1973. (=Frölich 1973)
  • Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden, hrg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1966, hier Band 2 und 3. (=Geschichte/Arbeiterbewegung 2- bzw. 3–1966)
  • Jost Hermand: Arnold Zweig mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1990. (=Hermand 1990)
  • Stefan Heym: Radek. Roman, München 1995. (=Heym 1995)
  • Jules Humbert-Droz: Der Krieg und die Internationale. Die Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, Wien 1964. (=Humbert-Droz 1964)
  • David Jenkinson: Marxistische Perspektiven in „Die Zeit ist reif“, in: Arnold Zweig – Poetik, Judentum und Politik. Akten des Internationalen Arnold Zweig-Symposiums aus Anlass des 100. Geburtstags in Cambridge 1987, Bern 1989, 325–336. (=Jenkinson 1989)
  • Karl Liebknecht: Die Dezembermänner von 1915. Politischer Brief der Spartakusgruppe vom 27. Januar 1916, in derselbe: Gesammelte Reden und Schriften 8, Berlin 1966, 448–454. (=Liebknecht 1916)
  • Georg Lukács: Es geht um den Realismus (1938), in: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, hrg. von Hans-Jürgen Schmitt, Frankfurt 1973, 192–230. (=Lukács 1938)
  • Georg Lukács: Arnold Zweigs Romanzyklus über den Imperialistischen Krieg 1914 bis 1918 [1939], in: derselbe, Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie, Berlin 1948, 273–313. (=Lukács 1939)
  • Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig, Tübingen 2002. (=Raffel 2002)
  • Wilhelm Sternburg: Arnold Zweig und die Feuerprobe des Krieges, in derselbe (Hrg.): Arnold Zweig. Materialien zu Leben und Werk, Frankfurt 1987, 13–32. (=Sternburg 1987)
  • Manuel Winitzer: Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers, Königstein 1983. (=Winitzer 1983)

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Quelle: Zeitung der Arbeit

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