Die reaktionäre Partnerschaft zwischen Merkel und Erdoğan
Mustafa Karasu, Mitglied des KCK-Exekutivrats, über die deutsch-türkischen Beziehungen und deren Auswirkungen auf die Kurden im Kontext des anstehenden Berlin-Besuchs Erdoğans, 19.09.2018
Bald wird Tayyip Erdoğan als Gast der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Berlin gehen. Dieses Treffen wird anders sein als andere Treffen zwischen Staatsoberhäuptern. Die Regierung Erdoğan ist zurzeit auf Platz 1 der repressiven faschistischen Anführer weltweit. Ohne Zweifel gibt es auch an anderen Orten der Welt repressive, despotische und faschistische Anführer. Doch wenn man diese mit der mehrdimensionalen Unterdrückung von Erdoğan vergleicht, kann keiner mit den faschistischen Methoden in der Türkei mithalten. Die Türkei von Erdoğan ist mit ihren unterdrückerischen Methoden weit voraus. Aus diesem Grund bedeutet der Berlin-Besuch Erdoğans eine Bestätigung dieser faschistischen Methoden.
Gleichgeschaltete Medien und psychologische Kriegsführung
Diese faschistischen Methoden verfügen über unzählige Dimensionen. Die Lage der Medien ist global gesehen ein Gradmesser für den Stand von Unterdrückung, Repression und Faschismus. Die Türkei steht mit ihrer Bevölkerungszahl in Hinsicht der festgenommenen und verurteilten Journalisten an erster Stelle. Hunderte befinden sich im Gefängnis, hunderte stehen ständig an den Türen der Gerichte. Die Drohung von Strafen schwebt wie das Damoklesschwert über den Köpfen. Es gibt viele Fernsehsender, Radios und Zeitungen in der Türkei. 99 Prozent sind Propagandainstrumente der Regierung. Es sind psychologische Kriegsorgane des Faschismus gegen die demokratischen Kräfte und die kurdische Gesellschaft.
Politische Verfolgung als gesellschaftlicher Normalzustand
Die Türkei hält zurzeit den Rekord an festgenommenen politischen Gefangenen. Seit mehr als 30 Jahren werden die Gefängnisse in der Türkei mit demokratischen und revolutionären Gefangenen vollgestopft. In Kurdistan ist normal geworden, aus politischen Gründen für zehn Jahre inhaftiert zu sein. Jeder Zehnte in Kurdistan ist aus politischen Gründen inhaftiert gewesen. Heute befinden sich so viele kurdische Politikerinnen und Politiker in Gefängnissen wir niemals zuvor.
Die Kategorie der Regierung Merkel
All die Repression in der Türkei verfolgt das Ziel den kurdischen Genozid zu vervollständigen. Die Besatzung der Demokratieoase Efrîn und die Angriffe auf die demokratischen Kräfte in Nordsyrien sind ein offener Beweis dafür. Der türkische Staat ist nicht nur ein Feind der demokratischen Kräfte im Mittleren Osten, sondern auf der ganzen Welt. Jeder demokratisch gesinnte Mensch steht für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage und stellt sich gegen die Kurdenpolitik der Türkei. Die AKP und MHP wollen, dass international hinsichtlich ihrer Politik des Genozids gegen die Kurden geschwiegen wird. Die Freunde der AKP-MHP-Regierung sind diejenigen, die angesichts des kurdischen Genozids schweigen und Unterstützung geben. Die Regierung Merkel fällt in diese Kategorie.
Historische und aktuelle Gründe einer reaktionären Partnerschaft
Warum unterstützt die deutsche Bundesregierung die kurden- und demokratiefeindliche AKP/MHP-Regierung? Warum normalisiert und legitimiert sie deren Unterdrückungspolitik? Es gibt zwei zentrale Gründe dafür. Erstens hängt es mit dem Entstehungscharakter des kapitalistischen deutschen Staates zusammen. Zweiter Grund sind die historischen Beziehungen Deutschland mit der Türkei, die bis in die Zeiten des Osmanischen Reiches zurückzuführen sind.
Transformation von oben
Die Entwicklung des Kapitalismus und des modernen Staates in Deutschland war nicht die wie in anderen europäischen Ländern. Man spricht von einem Macht- und Staatsgebilde vom Typ Preußens. Das bedeutet im Wesentlichen, dass die Transformierung des Feudalstaates nicht die Folge einer demokratischen Volksbewegung war, wie es in anderen Ländern war. Es gab eine Veränderung von oben. Deshalb haben der entstandene kapitalistische Staat und die damit geformte gesellschaftliche Struktur nicht das Niveau eines demokratischen Charakters wie in anderen Ländern.
Es wird betont, dass die Entstehung des Kapitalismus und das darauf gestützte Staatsgebilde durch die Transformierung der reaktionärsten Elemente des Feudalismus geformt wurden. Das hat den reaktionären, demokratie- und linksfeindlichen Charakter der deutschen Bourgeoise und Staatsstruktur mit sich gebracht. Es gibt solch eine Feststellung in der Politikwissenschaft und Soziologie.
Feindschaft gegen die Linke
Dies hat sich in einer Vielzahl von Maßnahmen des deutschen Staates offenbart. Der erste Beweis dafür ist das Agieren des deutschen Staates zur Unterdrückung der Französischen Revolution von 1789. Auch die Politik des deutschen Staates zur Zerschlagung der Pariser Kommune von 1871 hängt mit dem Staatscharakter zusammen. Ebenso die Ermordung der damaligen sozialistischen Anführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Deutschland, das damals zum Zentrum des Sozialismus und der Linken wurde, war ein Schlag des deutschen Staates gegen die aufsteigende Linke. Die Feindschaft gegen die Linke und den Sozialismus war ein Faktor für die Machtübernahme Hitlers. Hitler betonte, dass seine historische Rolle das Niederwalzen des Sozialismus sei.
Trauma in der türkische-deutschen Machtelite
Deutschland und die Türkei tragen beide Schuld an dem Armenischen Völkermord im Ersten Weltkrieg. Auch wenn die Verantwortlichen in Deutschland zur Verantwortung gezogen wurden, hat diese schwere Schuld zu einem Trauma in der türkischen und deutschen Machtelite geführt, die sie immer wieder zusammenführt.
NATO-Partnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Beziehungen zwischen beiden Ländern eine neue Dimension gewonnen. Die Türkei und Deutschland wurden NATO-Mitglieder. Deutschland wurde innerhalb der NATO die Rolle gegeben, die Türkei zu kontrollieren. Die Türkei wurde über die NATO und Deutschland strategisch an den Westen angebunden. Die Beziehungen zwischen der NATO, den USA, Deutschland und der Türkei sind sehr besondere Beziehungen. Sie haben den Charakter einer Nabelschnur. In dieser Hinsicht ist es nicht möglich, dass sich die Türkei von der NATO löst. Auch eine Veränderung der reaktionären Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei in Hinsicht auf Politik, Wirtschaft und Militär ist nicht leicht. Die deutsch-türkischen Beziehungen sind tief und historisch.
Schicksalsgemeinschaft mit ähnlichem Charakter
Mit der intensiven Arbeitswanderung von der Türkei nach Deutschland in den 1960er Jahren hat sich diese Verbindung auch gesellschaftlich und kulturell vertieft. Die deutsche und türkische Wirtschaft sind eng miteinander verflochten. Als Angela Merkel zu der aktuellen Wirtschaftskrise in der Türkei erklärte, dass die Krise jedem schaden würde, sprach sie die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen an. Die „Gastarbeiter“ haben nicht nur die deutsche Wirtschaft belebt, sondern auch die deutsch-türkischen Beziehungen vertieft. Die Wirtschaft der Türkei ist vom deutschen Wirtschaftscharakter geprägt. Der Kapitalismus in der Türkei hat sich in gewisser Hinsicht dem deutschen Charakter entsprechend entwickelt. Das hat Auswirkungen auf die Politik in der Türkei. Auch im politischen Bereich gibt es eine Schicksalsgemeinschaft mit den politischen Kräften in Deutschland und eine Ähnlichkeit im Charakter.
Strategie der Vernichtung
Die Feindschaft Deutschlands gegen linke und demokratische Kräfte hat sich in jüngster Zeit am deutlichsten in ihrer Feindschaft gegen die kurdische Freiheitsbewegung gezeigt. Der türkische Staat ist in der kurdischen Frage höchst sensibel. Seine nationale politische Strategie ist darauf ausgerichtet, die Kurden zu vernichten. Seine Beziehungen baut er in diesem Rahmen auf. Deutschland hat die Türkei zu jeder Zeit unterstützt und ihr in schwierigen Zeiten auf die Beine geholfen. Ebenso wird die gegen die Kurden gerichtete Strategie der Türkei unterstützt.
Am 7. Juni 2015 erlitt die AKP bei den Parlamentswahlen in der Türkei eine Niederlage und konnte sich nur über einen politischen Putsch an der Macht halten. Angela Merkel war diejenige, die Erdoğan in dieser schwierigen Zeit deckte. Mit dieser Unterstützung im Rücken zerstörte Erdoğan zehn kurdische Städte. Hunderte Zivilisten wurden getötet. Bei diesen Angriffen wurden Panzer, Waffen und Technik aus Deutschland genutzt. Außer Lippenbekenntnissen, um die Mitschuld an den Verbrechen zu verschleiern, bezog die deutsche Regierung keinerlei Position dagegen.
Seit diesen Tagen bis heute hat die AKP/MHP-Regierung so viele Menschenrechtsverletzungen begangen, dass jemand mit nur bisschen demokratischem Charakter eine Position gegen diese Regierung eingenommen hätte. Doch um die Beziehungen fortzusetzen und die Regierung zu besänftigen, wurde bei den Angriffen ein Auge zugedrückt. Die sogenannten Werte der EU wurden beiseitegeschoben. Eine Reihe von europäischen Ländern, allen voran Deutschland, setzten ihr Schweigen zum Genozid an den Kurden fort.
Lösegeldforderung der Türkei
Erpressung ist in der Politik das schmutzigste Spiel. Die AKP-Regierung hat hunderttausende Flüchtlinge in die Türkei geholt. Sie hat ihre Kontrolle über den IS und al-Nusra ausgebaut, um die Kurden zu zerschlagen und gleichzeitig an Einfluss in Syrien und dem Mittleren Osten zu gewinnen. Als diese Politik nicht zum Ziel führte, wurden die Flüchtlinge als Drohinstrument gegen Europa und Deutschland benutzt, um Unterstützung für die eigene Syrien-Politik zu bekommen. Mit dieser Drohung fordert der türkische Staat von Europa und insbesondere von Deutschland Lösegeld. So hat Deutschland der Türkei drei Milliarden Euro gezahlt und wird nochmal denselben Betrag leisten. Deutschland ist das erste Land auf der Welt, das so viel Lösegeld an einen erpresserischen Staat zahlt. Vielleicht werden die Flüchtlinge auch als Begründung für die Unterstützung vorgeschoben, weil Deutschland die Türkei anderweitig nicht materiell unterstützen kann.
Besatzung von Efrîn: Vereinte Demokratiefeindlichkeit
So wie die türkisch-deutschen Beziehungen durch die kurdische Frage schmutzig wurden, ist auch die Mittelost- und Syrienpolitik Deutschlands schmutzig geworden. Die Besatzung von Efrîn wurde von Deutschland unterstützt. Die AKP/MHP-Regierung ist nicht nur ein Feind der Kurden und der Demokratie in der Türkei, sondern auch in Syrien und im Mittleren Osten. Die Besatzung von Efrîn ist dafür der klare Beweis. Damit haben sich die Türkei und Deutschland in Syrien und dem Mittleren Osten in ihrer Demokratiefeindlichkeit vereint.
Das deutsche Unbehagen gegenüber den Kurden
Deutschland hat die Fahnen der PYD und YPG verboten, also der Organisationen, die in Syrien und im Mittleren Osten gegen den IS und die al-Nusra kämpfen. Die Türkei hegt Wut gegen die PYD und YPG/YPJ, da diese ihre Verbündeten, den IS und die al-Nusra, besiegt haben. Sie ist wütend, weil die Kurden sich in Syrien befreit und eine Demokratisierung angestoßen haben.
Und was ist mit Deutschland? Die PYD und YPG/YPJ haben für die ganze Menschheit gegen den IS und al-Nusra gekämpft. Sie haben tausende Gefallene zu beklagen. Über zehntausend Menschen sind verletzt worden. Ist auch Deutschland beunruhigt darüber, dass die PYD und YPG/YPJ gegen den IS kämpfen und sich in Syrien Demokratie entwickelt? Wir wissen, dass Deutschland im Mittleren Osten einen gemäßigten Umgang mit islamischen Kreisen hat. Wir kennen den Ansatz des „kritischen Dialogs“ mit dem Iran. Rührt das deutsche Unbehagen angesichts der PYD und YPG/YPJ eventuell aus der Beziehung zwischen Deutschland und dem IS und al-Nusra? Die Türkei hat Beziehungen zum IS und zu al-Nusra, insofern ist ihre Feindseligkeit gegenüber der PYD und YPG verständlich. Warum jedoch verbietet Deutschland die PYD und YPG/YPJ auf Wunsch der Türkei und legt damit eine Haltung an den Tag, die die eigene Glaubwürdigkeit in Frage stellt? Selbst wenn wir diese Frage nicht stellen würden, horcht doch die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland angesichts dieser Situation auf.
Die ganze Welt kennt Erdoğan
Die ganze Welt kennt den Charakter Erdoğans und seiner Regierung. Die Verbrechen der Türkei sind bekannt. Warum setzt Merkel trotz dessen beharrlich ihre Beziehung mit Erdoğan fort? Wenn Erdoğan die Macht verliert, wird die Türkei nicht zusammenbrechen, sondern ganz im Gegenteil Raum für Entwicklung haben. Warum unterstützt Merkel ihn nun? Die historische Feindseligkeit Deutschlands gegen Demokratie, Freiheit und Sozialismus trifft sich mit dem Feindbild der AKP/MHP-Regierung und mündet in ein gemeinsames Agieren. Die Kurden- und Demokratiefeindlichkeit Erdoğans und Merkels in der Türkei und im Mittleren Osten bringt einem dies in den Sinn.
Im Original erschien der Artikel am 17.09.2018 unter dem Titel “Almanya-Türkiye gerici ortaklığının tarihsel ve güncel nedenleri” auf der Homepage der Tageszeitung Yeni Özgür Politika.
Quelle:
Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.