Statt krankfeiern: Angst um Arbeitsplatz
Früher unterhielten sich die Eltern im Freundeskreis gelegentlich ohne schlechtes Gewissen darüber, sich außerplanmäßig mal ein paar Tage Erholung zu gönnen, aus der sich ewig drehenden Mühle der Arbeit auszusteigen – und krankzufeiern.
Daß sich bei jenen, die sich beim Arzt ihres Vertrauens einen Krankenschein nahmen und der Arbeit fernblieben, ohne tatsächlich krank zu sein, kein schlechtes Gewissen einstellte, mag neben einem damals ausgeprägteren Bewußtsein über die eigene Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozeß auch damit zusammenhängen, daß den allermeisten wohl ebenso klar war, daß ihre Abwesenheit letztlich der Wiederherstellung ihrer körperlichen und geistigen Arbeitskraft – und somit dem diese Arbeitskraft ausbeutenden Kapitalisten – diente.
Auch so mancher Patron dürfte die vor Jahrzehnten verbreitete Praxis des Krankfeierns zumindest toleriert haben, weil die Reproduktion der Arbeitskraft »seiner« Mitarbeiter letzten Endes auch in seinem eigenen Profitinteresse lag.
Noch früher, vor Jahrhunderten, erfreute sich unter Handwerkern der »Blaue Montag« einer derartigen Beliebtheit, daß er regelrecht institutionalisiert wurde. Als der Rat der bayrischen Stadt Augsburg 1726 den »Blauen Montag« verbot und mit Strafen belegte, löste das einen Aufstand der Schuhknechte aus, in dessen Verlauf auch die Gesellen in Dresden und in anderen Städten des deutschen Kaiserreichs (zu dem übrigens auch das damalige Herzogtum Luxemburg gehörte) aufgefordert wurden, sich ihren Augsburger Kollegen anzuschließen.
Das Klassenbewußtsein ist in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr der Angst gewichen, den Arbeitsplatz, und damit die materielle Grundlage des Lebens, zu verlieren. Wen – trotz der noch immer spürbaren weltweiten kapitalistischen Finanzkrise, die vor zehn Jahren nicht etwa begann, oder »ausbrach«, sondern ihren Höhepunkt erreichte –, noch die Gnade irgendeines Patrons ereilt, der muß froh sein, seine Arbeitskraft noch verkaufen zu können. Die wie ein Mantra wiederholten Klagen des Patronats und seiner Sachwalter in Regierung und Chamber über den in Luxemburg angeblich übermäßigen »Absentismus« sind also anachronistisch.
Doch nicht nur das: Wie die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) in einer am Dienstag vom Arbeits- und vom Sozialversicherungsministerium veröffentlichten Studie herausgefunden hat, haben die Klagen des Patronats auch mit der Wirklichkeit wenig bis nichts zu tun. Für 2017 wurde eine gegenüber dem Vorjahr gesunkene »Quote krankheitsbedingten Fehlens« von 3,64 Prozent errechnet.
Leider wird seit der Übernahme der Amtsgeschäfte durch die Dreierkoalition darauf verzichtet, zum direkten Vergleich die Abwesenheitsquote in unseren drei Nachbarländern anzugeben. Die letzten Zahlen hierzu haben die beiden zuständigen Ministerien im Juni 2013 veröffentlicht. Demnach gab die IGSS die »Quote krankheitsbedingten Fehlens« in Luxemburg 2012 mit 3,7 Prozent an, während sie in Deutschland 4,9 Prozent und in Belgien sogar 5,9 Prozent betragen habe. Für Frankreich wurde kein Wert genannt, doch in den letzten Jahren lag der stets ebenfalls deutlich über vier Prozent. In Luxemburg kam die seit 2006 amtlich gemessene Abwesenheitsquote hingegen maximal auf 3,73 Prozent, was 2013 und 2016 der Fall war.
Anschaulicher sind von der OECD veröffentlichte Zahlen, nach denen ein Schaffender in Belgien 2016 im Durchschnitt 15,7 Tage wegen Krankheit fehlte, in Deutschland sogar 18,6 Tage. Die in Luxemburg Schaffenden waren 2016 hingegen nur an 11,8 Tagen krank daheim.
Oliver Wagner
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