21. November 2024

Kriegsdienstverweigererin: «Ich kann nicht tatenlos zusehen»

Übernommen von: Schweizerische Friedensbewegung

Nach dem 7. Oktober haben viele Israelis die Hoffnung nach einer politischen Lösung aufgegeben. Es gibt in breiten Kreisen ein noch nie dagewesenes Verlangen nach Rache. Nur Wenige haben den Mut, sich dem gesellschaftlichen Druck entgegenzustellen. Eine davon ist Sofia Orr, die sich aus politischer Überzeugung weigert, den Militärdienst in der israelischen Armee zu leisten.

Von Oren Ziv

Am Sonntagmorgen erschien die 18-jährige Sofia Orr im Rekrutierungszentrum der israelischen Armee in der Nähe von Tel Aviv und erklärte, dass sie sich aus Protest gegen den Krieg Israels gegen den Gazastreifen und die langjährige Besatzung weigere, sich zum Wehrdienst zu melden. Als zweiter israelischer Teenager, der seit dem 7. Oktober öffentlich die Einberufung aus politischen Gründen verweigert hat – nach Tal Mitnick im Dezember – wurde Orr zu einer ersten 20-tägigen Haftstrafe im Militärgefängnis Neve Tzedek verurteilt, die wahrscheinlich verlängert werden wird, wenn sie sich weiterhin weigert, in die Armee einzutreten.
«Ich habe natürlich Angst, aber ich denke, dass es in diesen Zeiten am wichtigsten ist, die Stimme des Widerstands zu erheben», sagt sie im Gespräch mit dem israelisch-palästinensischen Online-Magazin +972. «Ich weigere mich, weil es im Krieg keine Gewinner gibt. Wir sehen das heute mehr denn je. Alle Menschen, vom Jordan bis zum Mittelmeer, leiden unter diesem Krieg, und nur Frieden, eine politische Lösung und die Präsentation einer Alternative können zu echter Sicherheit führen.»

Soziale Stigmatisierung
Orr erklärt, dass sie bereits lange vor Kriegsbeginn beschlossen hatte, ihre Wehrpflicht zu verweigern, und zwar wegen «der Besatzung und Unterdrückung, die die Armee gegen die Palästinenser im Westjordanland ausübt». Die von der Hamas angeführten Anschläge vom 7. Oktober, so Orr, «haben uns wieder einmal gezeigt, dass Gewalt nur zu mehr Gewalt führt und dass wir das Problem friedlich lösen müssen und nicht durch noch mehr Gewalt».
Ungefähr 30 linke Aktivist:innen, die meisten von ihnen Jugendliche, begleiten Orr zum Rekrutierungszentrum. Mit einem Protest unterstützen sie Orrs Entscheidung, den Dienst zu verweigern, und wecken damit das Interesse mehrerer ultraorthodoxer Jeschiwa-Studenten, die gekommen waren, um sich vom Wehrdienst befreien zu lassen.
Tausende israelischer Jugendlicher werden jedes Jahr vor allem aus religiösen Gründen vom Wehrdienst befreit, aber nur eine Handvoll erklärt, dass sie politisch gegen den Militärdienst sind. Neben der Gefängnisstrafe kann eine Verweigerung aus Gewissensgründen die Berufsaussichten schmälern und zu einer sozialen Stigmatisierung führen.

Jugend gegen Diktatur
Dennoch war Orr eine von 230 israelischen Jugendlichen, die Anfang September, noch vor dem Krieg, einen offenen Brief unterzeichneten, in dem sie ihre Absicht ankündigten, ihren Einberufungsbefehl zu verweigern, als Teil eines umfassenderen Protests gegen die Bemühungen der rechtsextremen israelischen Regierung, die Macht der Justiz einzuschränken. Die High-School-Schüler:innen, die sich unter dem Banner «Jugend gegen Diktatur» organisierten, stellten eine Verbindung her zwischen der Einschränkung der Justiz und Israels langjähriger Militärherrschaft über die Palästinenser:innen und erklärten, dass sie nicht in die Armee eintreten würden, «bis die Demokratie für alle, die im Zuständigkeitsbereich der israelischen Regierung leben, gesichert ist».
Angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit den Angriff der Armee auf den Gazastreifen nach dem 7. Oktober voll und ganz unterstützt und dass linke Aktivist:innen mit massiver polizeilicher Repression und Doxxing (Veröffentlichung von persönlichen Daten im Internet) konfrontiert sind, weil sie gegen den Krieg Stellung beziehen, steht für Verweigerer:innen aus Gewissensgründen jetzt noch mehr auf dem Spiel. Im folgenden Interview erklärt Orr, warum sie in ihrer Entscheidung, sich zu verweigern, nie ins Wanken geraten ist.

Wie bist du zu der Entscheidung gekommen, den Militärdienst zu verweigern?
Ich habe mich immer mehr den Menschen als den Staaten verpflichtet gefühlt, aber mein Entschluss, die Wehrpflicht zu verweigern, wurde mir klar, als ich etwa 15 war. Ich begann, mir Fragen zu stellen: Wem würde ich mit meinem Militärdienst eigentlich dienen, und wozu würde ich ihnen helfen? Mir war klar, dass ich, wenn ich der Armee beitreten würde, einen jahrzehntelangen Kreislauf der Gewalt mitmachen und normalisieren würde. Mir wurde klar, dass ich das nicht nur nicht tun konnte, sondern dass ich alles in meiner Macht Stehende tun musste, um dem ein Ende zu setzen und Widerstand zu leisten. Indem ich darüber spreche, was der Wehrdienst für mich bedeutet, hoffe ich, andere Menschen dazu zu bringen, über ihren Wehrdienst nachzudenken und darüber, ob sie glauben, dass er etwas Gutes bewirkt. Ich tue dies mit Empathie, Solidarität und Liebe für alle Israelis, die in Israel leben, und für alle Palästinenser:innen, die im Gazastreifen und im Westjordanland leben, unabhängig von ihrer Nationalität oder Religion – einfach aus der Überzeugung heraus, dass jeder Mensch es verdient, ein Leben in Sicherheit und Würde zu führen.

Du hast deine Meinung in den Jahren gebildet, in denen es zu verschiedenen Protesten gegen die Regierung kam – die «Balfour»-Proteste in Jerusalem im Jahr 2020 und die «Kaplan»-Proteste in Tel Aviv im Jahr 2023. Warst du in diesen Bewegungen aktiv?
Diese Proteste waren wichtig, aber sie konzentrierten sich nicht auf das, was meiner Meinung nach die Wurzel des Problems ist. Deshalb war es für mich sehr wichtig, dorthin zu gehen und die Diskussion zu erweitern. Die israelische Gesellschaft bemüht sich sehr, die Besatzung und die Palästinenser zu ignorieren, in dem Glauben, dass dieses Problem verschwinden wird. Aber es geht nicht weg, wie wir jetzt sehen. Das Problem verschwindet nicht, nur weil man aufhört, es zu beachten. Es bleibt bestehen und wächst weiter, bis es schliesslich explodiert.

Wie haben Freunde, Familie und Schulkameraden auf deine Entscheidung reagiert?
Die meisten Leute halten mich für verrückt und verstehen nicht, wovon ich rede. Sie sagen, ich sei naiv und egoistisch, und manchmal auch, ich sei antisemitisch, ein Verräter, und sie wünschen mir alle möglichen gewalttätigen Dinge. Zum Glück gehören solche Leute nicht zu meinem engsten Umfeld, aber ich habe sowohl von Freund:innen als auch von Verwandten Reaktionen erhalten, die nicht einfach waren.
Viel schlimmer wurde es nach dem 7. Oktober mit der Welle der «Desillusionierten» – Menschen, die vor dem 7. Oktober an die Möglichkeit einer friedlichen politischen Lösung glaubten und danach die Hoffnung darauf verloren. Aber der 7. Oktober hat nur bewiesen, dass eine politische Lösung notwendig ist, da die Gewalt sonst einfach weitergeht.

In der israelischen Gesellschaft gibt es ein noch nie dagewesenes Verlangen nach Rache. Siehst du deine Militärdienstverweigerung als einen Versuch, die Öffentlichkeit zu überzeugen, oder als eine deklaratorische Aktion gegen das Verlangen nach Rache?
Es ist wichtig für mich, dies zu tun, auch wenn ich niemanden überzeugen kann. Aber ich weiss nicht, ob ich es öffentlich getan hätte, wenn ich nicht die Hoffnung gehabt hätte, dass die Leute zuhören und zuhören können und dass es noch Raum für Gespräche gibt. Es ist sehr wichtig, die israelische Gesellschaft zu erreichen, vor allem die jungen Leute, die dort stehen, wo ich stehe, und ihnen zu zeigen, warum ich mich für das entschieden habe, was ich gewählt habe.

Hast du Freunde oder Bekannte, die derzeit in Gaza dienen?
Innerhalb von Gaza – nein. Aber ich habe viele Freunde, die in der Armee dienen oder gedient haben. Ich wünsche mir auch für sie das Beste. Ich möchte, dass der Staat keine Soldaten mehr in den Tod schickt. Ich möchte, dass sie ein normales Leben führen können – aber sie sehen das nicht so.

Hat dir die Begegnungen mit den Palästinenser:innen bei der Entscheidung geholfen, den Militärdienst zu verweigern?
Meine Ansichten waren schon relativ gefestigt, bevor ich Palästinenser:innen getroffen habe, aber das hat geholfen, sie greifbar zu machen: Menschen zu treffen, denen man von klein auf sagt, sie seien unsere Feinde, und zu sehen, dass sie ganz normale Menschen sind wie ich, die ihr Leben genauso leben wollen wie ich. Es gibt ein ernsthaftes Problem der Entmenschlichung, deshalb sind diese Begegnungen wirklich wichtig. In dem Moment, in dem man aufhört zu glauben, dass Palästinenser:innen Menschen sind, ist es viel einfacher, ihr Leben für wertlos zu halen und sie ohne Überlegen zu töten.

Hast du Bedenken, ins Gefängnis zu gehen, insbesondere in der gegenwärtigen Situation?
Ja, ohne jeden Zweifel. Die derzeitige Atmosphäre ist viel gewalttätiger und extremer gegen meine Überzeugungen und meine Entscheidung. Es versteht sich also von selbst, dass ich sowohl vor der Gefängnisstrafe als auch vor der Reaktion von aussen Angst habe. Aber genau das macht es für mich auch wichtiger. In diesen Zeiten ist es am wichtigsten, diese Stimme des Widerstands und der Solidarität zu erheben und nicht tatenlos zuzusehen.

Quelle: +972 Magazine, Übersetzung: UW.

Quelle: Schweizerische Friedensbewegung

IsraelSFB