9. Oktober 2024

Netanjahu will den »totalen Sieg«

Übernommen von der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek:

Am 22.Juli reiste der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nach Washington, wo er am 24.Juli eine Rede vor dem USA-Kongreß hielt, der ihn eingeladen hatte. Er rief die USA auf, mit Israel eine Art NATO gegen den Iran aufzubauen. Der Iran sei »das Böse« schlechthin und bedrohe nicht nur Israel und die Region, sondern die ganze Welt. Anknüpfend an die »Abraham Vereinbarungen«, die unter der Präsidentschaft von Donald Trump ausgehandelt worden waren, schlug Netanjahu vor, das Militärbündnis zwischen Israel und den USA »Abraham Allianz« zu nennen.

»Unsere Feinde sind eure Feinde, unser Kampf ist euer Kampf, unsere Siege werden eure Siege sein«, rief Netanjahu Senatoren und Abgeordneten des Repräsentantenhauses zu, die ihm stehend Applaus zollten. Er wisse, »daß Amerika hinter uns steht«, rief er und das Protokoll vermerkte begeisterte »USA, USA«-Rufe aus dem Plenum. Über den Gaza-Krieg verlor der oberste Kriegsherr der »einzigen Demokratie im Nahen Osten« nicht viele Worte. Israel werde die Hamas vernichten und den Gazastreifen militärisch kontrollieren. Gaza dürfe nie wieder »eine Bedrohung für Israel« werden. Das Ziel: »Der totale Sieg«.

Drehbuch einer Eskalation

Wenige Tage später, Samstag 27. Juli, kam es auf den von Israel besetzten und annektierten syrischen Golan-Höhen zu einem tödlichen Vorfall. Am späten Nachmittag gingen Raketenteile auf einem Fußballplatz der syrischen Stadt Majdal Shams nieder, zwölf Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 20 Jahren wurden getötet. Israelische Medien behaupteten sofort, eine Rakete der Hisbollah sei eingeschlagen. Kommentatoren forderten Vergeltung.

Die Hisbollah reagierte umgehend und wies in einer knappen Erklärung die »falschen Behauptungen einiger feindlicher Medien und verschiedener Plattformen über einen Angriff auf Majdal Shams kategorisch zurück«. Die Hisbollah stehe »in keiner Weise mit dem Vorfall in Verbindung«. Gegenüber der UNO-Mission für den Libanon (UNIFIL) sagte ein Vertreter der Hisbollah, es habe sich vermutlich um eine fehlgeleitete israelische Abfangrakete gehandelt, die die Explosion auf dem Fußballplatz verursacht habe.

Der libanesische Außenminister Abdallah Bou Habib forderte eine unabhängige Untersuchung, ähnlich äußerte sich sogar der EU-Außenbeauftragte Joseph Borrell.

Das israelische Außenministerium erklärte, die »Terrororganisation« – gemeint ist die Hisbollah – töte absichtlich Zivilisten, sei für »das Massaker« verantwortlich und habe »alle roten Linien« überschritten. Der israelische Energieminister Eli Cohen forderte, »Libanon soll brennen«. Der Oberkommandierende der Israelischen Streitkräfte Herzi Halevi gab an, das Fußballfeld sei von einer Falaq-Rakete iranischer Bauart getroffen worden. Es wurde verbreitet, daß diese im Iran hergestellte Waffe »nur von der Hisbollah« eingesetzt werde. Die »Hisbollah-Rakete« sei mit 53 kg Sprengstoff geladen gewesen. »Wer so eine Rakete in bewohntes Gebiet feuert, will Zivilisten und Kinder töten«, so Halevi.

Medien in aller Welt wurden mit den Erklärungen der israelischen Armee versorgt. Kameras der großen Sender und die Nachrichtenagenturen stellten sich auf Eskalation ein, Israel lieferte die Bilder. Noch in der Nacht griff die israelische Luftwaffe »zur Vergeltung« Ziele im Libanon an. Sondersendungen wurden geschaltet.

Die israelische Darstellung wurde von den USA bestärkt. Netanjahu – inzwischen aus Washington zurückgekehrt – drohte öffentlich, die Hisbollah werde »einen hohen Preis« bezahlen. Das israelische Sicherheitskabinett ermächtigte Netanjahu und Kriegsminister Yoav Gallant, über Art und Weise sowie Termine eines Angriffs auf den Libanon zu entscheiden.

Gezielte Tötungen

Am Abend des 29. Juli feuerte eine israelische Drohne drei Raketen auf ein achtstöckiges Wohnhaus in Hret Hreik, im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut. Das Haus stürzte ein und begrub mehr als 80 Menschen unter seinen Trümmern. Sieben Tote wurden geborgen, darunter zwei Frauen und drei Kinder. Mehr als 70 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt in umliegende Krankenhäuser gebracht. Israel erklärte, man habe Fouad Shukr getötet, einen ranghohen Kommandeur der Hisbollah. Er sei für den Angriff auf Majdal Shams verantwortlich gewesen.

Erst am Nachmittag des 30. Juli wurde sein Leichnam aus den Trümmern des Hauses geborgen. Die Hisbollah bestätige am Abend den Tod des »verehrten und geliebten führenden militärischen Kommandeur Sayed Fouad Shukr«.

Nur wenige Stunden später, in den frühen Morgenstunden des 31. Juli wurden in Teheran der Vorsitzende des Politbüros der Hamas, Ismail Hanija und ein Begleiter in ihrer Unterkunft in Teheran, im Norden der Hauptstadt des Iran, getötet. Die Umstände würden untersucht, hieß es in einer Stellungnahme. Hanija hatte wie andere hochrangige Vertreter des Islamischen Jihad, der Houthi Bewegung und der Hisbollah an der Amtseinführung des iranischen Präsidenten Mahmoud Peseschkian teilgenommen. Hanija führte die Verhandlungen mit Israel über einen Waffenstillstand in Gaza sowie die Freilassung der Geiseln in Gaza und der palästinensischen Gefangenen in Israels Militärkerkern.

Das Büro von Benjamin Netanjahu ordnete an, daß kein Regierungsmitglied, kein Minister sich zu dem Mord an Hanija äußern dürfe. USA-Außenminister Antony Blinken erklärte, die USA-Administration habe nichts gewußt und sei nicht beteiligt gewesen. Militärische Beobachter aus aller Welt, die in zahlreichen englischsprachigen, russischen und arabischen Medien zu Wort kamen erklärten übereinstimmend, daß der Angriff auf Hanija in Teheran ohne Geheimdienstinformationen aus den USA nicht möglich gewesen wäre.

»Der Widerstand kämpft mit Zorn, aber auch mit Weisheit.«

Das Totengebet für Ismail Hanija und seinen Begleiter wurde am 1. August in Teheran gehalten. Am darauffolgenden Freitag wurde Hanija in Doha, Katar, beerdigt, wo er im Exil lebte.

Die staatliche Souveränität des Iran sei mit dem Mordanschlag auf Ismail Hanija verletzt worden, erklärte der iranische Botschafter Amir Saeid Iravani bei einer Dringlichkeitssitzung des UN=-Sicherheitsrates am 31. Juli. Die USA, Britannien und Frankreich verhinderten eine Erklärung, die den Mord an Ismail Hanija in Teheran verurteilte.

Das Totengebet für Fouad Shukr wurde am 1. August in Beirut gehalten, wo er auch beigesetzt wurde. Hassan Nasrallah, der Vorsitzende der Hisbollah wiederholte bei der Totenfeier, nicht er und nicht die Hisbollah seien für den Tod der zwölf Kinder und Jugendlichen in Majdal Shams verantwortlich. »Wenn wir einen Fehler gemacht hätten, wäre die Hisbollah stark genug, das zuzugeben«, sagte Nasrallah. Israel habe keine »Vergeltung geübt«, sondern den Libanon angegriffen. Man werde nicht mehr von einer »Unterstützung« für Gaza sprechen, der Kampf werde an allen Fronten geführt und sei in »eine neue Phase« getreten. Mit Sicherheit werde es eine Antwort auf den Angriff auf Südbeirut geben. Auch die Morde an Fouad Shukr und Ismail Hanija würden beantwortet. »Nicht symbolisch, sondern richtig«, betonte Nasrallah. »Der Widerstand kämpft mit Zorn, aber auch mit Weisheit.«

Weisheit fehlt der politischen und militärischen Führung des Staates Israel, der sich unter der schützenden Hand – und mit den Waffen – des von den USA geführten NATO-Blocks sicher wägt. Als waffenstarrender Wächter westlicher Interessen im Nahen und Mittleren Osten ist Krieg sein Geschäftsmodell. Es geht um die Kontrolle von Seewegen, von Transportwegen, von Öl- und Gasressourcen und dazugehörigen Pipelines. Israel, einst Zauberlehrling der großen imperialistischen Staaten Britannien und USA, ist seinen Paten über den Kopf gewachsen und führt sie vor. Für die Nachbarstaaten bedeutet das Krisen, Kriege und Vertreibung.

Was passierte in Majdal Shams?

Eine Untersuchung dessen, was wirklich am 27. Juli 2024 in Majdal Shams geschah, gab und gibt es nicht. Alle Berichte folgen der israelischen Darstellung, die auf Behauptungen, statt auf Beweisen und unabhängigen Untersuchungen basiert. Es gibt keinen Krater auf den öffentlich gewordenen Fotos, also bleibt die Frage, welcher Art der Einschlag war, der zwölf Kinder und Jugendliche tötete.

Was war das für ein Geschoß, welche Flugbahn hat es genommen, welchen Sprengstoff trug es? Welcher Art waren die Verletzungen der Kinder und Jugendlichen, die getötet wurden? Was sagt das Krankenhaus? Gibt es Filmaufnahmen des Vorgangs? Gibt es Aufnahmen von Satelliten oder von Überwachungsdrohnen oder von Satellitenkameras über den besetzten syrischen Golan Höhen?

Der Ort Majdal Shams gehört – wie die gesamten Golan-Höhen – völkerrechtlich zu Syrien. Die Golan-Höhen wurden von Israel 1967 besetzt und 1981 völkerrechtswidrig annektiert. Die UNO hat auf den Golan-Höhen seit 1974 einen militärischen Beobachtungsposten eingerichtet, UNDOF. Da dieser UNO-Posten alle Vorgänge auf den Golan-Höhen genau verfolgt und dokumentiert, dürfte dort auch bekannt sein, wie es zu dem Einschlag auf dem Fußballplatz gekommen ist.

Majdal Shams wird von syrischen arabischen Drusen und Christen bewohnt, die bis heute auf ihrer syrischen Nationalität beharren. Ghaleb Seif, Vorsitzender einer Drusen-Initiative auf den besetzten Golan-Höhen, erklärte gegenüber Journalisten, daß ständig »israelische Abwehrraketen auf drusische Dörfer auf dem Golan und in Galiläa fallen«, Eigentum und Agrarland zerstörten und Menschen verletzten. Die Teilnahme israelischer Offizieller an den Trauerfeierlichkeiten für die Kinder in Majdal Shams wurde zurückgewiesen.

Vieles deutet darauf hin, daß Israel den tragischen Tod von zwölf Kindern und Jugendlichen benutzt hat, um innerhalb weniger Tage eine Eskalation zu inszenieren, die die Region weiter in den Abgrund zerrt.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek

IsraelZLV